Kleine und mittlere Unternehmen in Ostdeutschland. Zur 5. Sitzung des Arbeitskreises Kleine und mittlere Unternehmen der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.

Kleine und mittlere Unternehmen in Ostdeutschland. Zur 5. Sitzung des Arbeitskreises Kleine und mittlere Unternehmen der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.

Organisatoren
Arbeitskreis Kleine und mittlere Unternehmen der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.
Ort
Wurzen; Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2008 - 29.09.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Dirk Schaal, SÜdzucker-Archiv, Südzucker AG

Ostdeutsche Unternehmen standen im Mittelpunkt der fünften Sitzung des Arbeitskreises, zu der Unternehmer der Standortinitiative Wurzen e.V. und das Sächsische Wirtschaftsarchiv e.V. nach Sachsen eingeladen hatten. Zum Auftakt besuchte der Arbeitskreis gemeinsam mit lokalen Unternehmern eine Ausstellung zur Wurzener Industrie. Die Ausstellung ist Bestandteil eines breiteren Engagements der Standortinitiative Wurzen e.V. für den Wirtschaftsstandort in der von „Deindustrialisierungsdepression“ und strukturellen Problemen geprägten Kleinstadt 30 Kilometer östlich von Leipzig. Die durch die anwesenden Unternehmer kommentierte Ausstellung vermittelte ein dichtes und facettenreiches Bild von Unternehmensgeschichten mit Kontinuitäten und Brüchen sowie exemplarisch aktuelle Probleme ostdeutscher kleinerer und mittlerer Unternehmen (KMU).

Zur Arbeitssitzung am Folgetag lud das Sächsische Wirtschaftsarchiv e.V. in die nach Plänen des Hamburger Architekten Fritz Höger zwischen 1929 und 1932 errichtete Konsumzentrale nach Leipzig ein. Die vorgestellten Unternehmensgeschichten bewegten sich zwar alle im gleichen Spannungsfeld von Enteignung, Verstaatlichung, Wiederauferstehung, Reprivatisierung oder Rückübertragung. Jedoch führten diese gemeinsamen Schlüsselereignisse zu durchaus verschiedenen Entwicklungspfaden: Das Spektrum reichte vom Verbleib enteigneter Unternehmer in strategischen Positionen zwangsverstaatlichter Unternehmen, über die Restitution zwischen 1945 und 1972 enteigneter und vertriebener Unternehmer nach 1990, bis hin zu Unternehmen, die mit einem westdeutschen Unternehmen als Partner den Neuanfang ohne eine verbindende gemeinsame Geschichte wagten oder aber ohne solche Partner scheiterten.

Die Kontinuität eines Familienunternehmens schilderte MICHAEL SCHÄFER (Dresden) am Beispiel des Arzneimittelherstellers Apogepha (1933 bis 2000) in Dresden. Schäfer arbeitete insbesondere das Spannungsfeld heraus, in dem Familienunternehmer in der DDR-Zeit agierten. Neben bekannten Problemen von KMU – wie der Regelung der Unternehmensnachfolge und der Schlichtung innerfamiliärer Streitigkeiten – war das Unternehmen seit Anfang der 1950er-Jahre einem nur schwer kalkulierbaren staatlichen Druck ausgesetzt, der die Verdrängung der Privatunternehmer zum Ergebnis hatte. Dieses Ziel war aber aufgrund häufiger Richtungswechsel der staatlichen Akteure in der Konsequenz für das einzelne Unternehmen zunächst nur schwer auszumachen. Im schließlich 1972 verstaatlichten Unternehmen gelang es dem ehemaligen Eigentümerunternehmer, sich als Leiter der Forschungsabteilung eine strategische Position zu sichern. Eine Medikamenteneigenentwicklung aus den 1980er-Jahren war dann nach der Neugründung und dem Rückkauf des Unternehmens im Jahr 1990 Grundlage für einen erfolgreichen Start in die Marktwirtschaft. Wie dieser „Coup“ des alten und neuen Eigentümers zu bewerten ist, blieb offen. Der leider ausgefallene Beitrag von Agnès Arp (Jena) zur Typologie von Überlebensstrategien von Privatunternehmern in der DDR hätte hier einiges zur Einordnung beitragen können.

Ein Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie stellte KARL-PETER ELLERBROCK (Dortmund) vor. Ellerbrock präsentierte das vom Pionier der Lebensreformbewegung Dr. Volkmar Klopfer (1874–1943) in Dresden gegründeten Unternehmen Dr. Volkmar Klopfers Nährmittelfabrik als eine Überlieferungsgeschichte historischer Quellen zu diesem Unternehmen und seiner Fabrikarchitektur. 1938 war das Unternehmen vom Ibbenbührener Stärkeproduzenten Crespel & Deiters übernommen worden, womit der Grundstein für die Quellenüberlieferung eines Kapitels Dresdener Wirtschafts- und Architekturgeschichte in Westdeutschland gelegt wurde. Ellerbrock führte aus, wie die Unternehmensleitung von Ibbenbühren aus versuchte, der vorhersehbaren Enteignung des Dresdener Unternehmensteils entgegenzusteuern bzw. für das Mutterunternehmen Vorkehrungen für die 1950 erfolgende Verstaatlichung der Fabrik und ihrer Umbenennung in VEB Wezenin Dresden zu treffen. Konsumhistorisch interessant war Ellerbrocks Vergleich der weiterhin ähnlichen Produktpalette und Verpackungen beider Hersteller in Ost- und Westdeutschland. Beispielhaft für den Zustand der DDR-Wirtschaft war schließlich die Herunterwirtschaftung des Betriebes, so dass der Alteigentümer Crespel & Deiters angesichts des völlig maroden Werks von einem möglichen Neuanfang in Dresden absah.

Ein neues wie lebendiges Kapitel Unternehmensgeschichte stellte CHRISTIAN LEITZBACH (Ratingen) anhand des im sächsischen Hartha gelegenen Werks der Kolbenschmidt Pierburg AG vor. Am Standort des 1991 liquidierten VEB Elektromotorenwerks baute die Kolbenschmidt Pierburg AG 1992 mit Teilen der ehemaligen Belegschaft des Vorläuferbetriebes einen neuen Unternehmensteil auf. Leitzbach beschrieb die Integration des sächsischen Standorts und seine Geschichte ausgehend von der Firma Alfred Oemig & Co. über den volkseigenen Betrieb in der DDR zum heutigen Werk der Pierburg Pump Technology auch als Integration in die Unternehmensgeschichte und -kultur des süddeutschen Automobilzulieferers.

Die erfolgreiche Ausgründung aus einem staatlichen Unternehmen und das Hineinwachsen in die Rolle des Unternehmers nach 1990 schilderte HUBERT SPERLICH (Telegärtner Gerätebau GmbH, Höckendorf). Sperlich rekonstruierte seinen Schritt vom Angestellten in einem staatlichen Unternehmen zum Unternehmer und die damit verbundenen persönlichen Schlüsselentscheidungen. Als Grundlagen für seine Erfolgsgeschichte benannte er die Aufbruchstimmung und einmaligen Möglichkeiten kurz nach der deutschen Wiedervereinigung, das beiderseitige Vertrauen beim Eingehen der überlebenswichtigen Partnerschaft mit einem westdeutschen Unternehmen und die Bedeutung lokaler und regionaler Netzwerke auf dem Arbeitsmarkt und in der Forschung.

Der Unternehmer FRANZ BORGERS (Borgers AG, Bocholt) näherte sich dem magischen Jahr 1990 aus der Perspektive der enteigneten Unternehmerfamilie. Dem euphorischen Engagement unter der besonderen Situation der deutschen Vereinigung, das zur Restitution des enteigneten Betriebsteils in Berlin-Weißensee führte, folgte recht bald die Ernüchterung über die tatsächliche Leistungsfähigkeit und den Modernisierungs- und Sanierungsbedarf des Betriebes. Borgers Vortrag zeigte aber auch, dass viele Engagements in der ostdeutschen Wirtschaft auf Ebene der KMU nach 1990 nur aufgrund einer gemeinsamen Geschichte und – wie auch schon die anderen Referenten betont hatten – mit tatkräftigen und kreativen Mitarbeiter möglich waren und diese Geschichte der soziale Kitt für die neu entstandene Beziehung zwischen Unternehmer und Belegschaft ist.

Eine asymmetrische Beziehungsgeschichte von ostdeutschen und westdeutschen Unternehmen auf einem gemeinsamen Markt schilderte SYLVIA WÖLFEL (Dresden) am Beispiel des Kühlgeräteherstellers VEB dkk Scharfenstein. Zu DDR-Zeiten Billigproduzent für westdeutsche Versandhäuser, sah das Unternehmen nach der Privatisierung seine Marktchancen im sich damals wandelnden Umweltbewusstsein und entwickelte den weltweit ersten FCKW und FKW-freien Kühlschrank. Da die Technologie hierfür frei verfügbar war, fehlte letztlich der starke Partner, um auf dem umkämpften Markt für Haushaltsgeräte dauerhaft bestehen zu können.

Aus volkskundlicher Perspektive rekonstruierten PETER F. N. HÖRZ (Reutlingen) und MARCUS RICHTER (Gera) die Geschichte der Schönecker Zigarrenindustrie. Die aufgrund niedriger Arbeitskosten Ende des 19. Jahrhunderts von außen induzierte Zigarrenherstellung in Schöneck gilt auch nach ihrem Ende als industriekulturelles Erbe der vogtländischen Kleinstadt und wird zur Identitätsbildung mit Alleinstellungsmerkmal im Gegensatz zu den umliegenden Orten, die durch den Musikinstrumentenbau bekannt sind, herangezogen.

Über Verantwortung des Unternehmers für „seine“ Region und einen erweiterten Zeithorizont für unternehmerisches Handeln sprach GEORG V. CARLOWITZ auf Gut Heyda. Nach Enteignung und Vertreibung im Jahr 1945 erwarb die seit rund 1000 Jahren in Sachsen verwurzelte Familie Anfang der 1990er-Jahre Teile des ehemaligen Familienbesitzes zurück und betreibt heute ein Agrar- und Forstunternehmen. Verantwortung für Region, Landschaft und Menschen ist ein wichtiger Grundsatz für das unternehmerische Handeln der Familie von Carlowitz.

Die aus gelebter Praxis und Biographie der Unternehmer gegebenen Einschätzungen, Erklärungen und Deutungen gehören zu den wertvollsten Erkenntnissen und Anregungen des Treffens. So wird beispielsweise die künftige Untersuchung ostdeutscher Unternehmen und ihrer oftmals mit westlichem Demokratieverständnis nicht erklärbaren Entwicklung unter der von Rainer Thiele (KATHI Rainer Thiele GmbH, Halle) formulierten Prämisse zu betrachten sein, dass in der DDR „Macht vor Recht“ galt. Ebenso gilt, dass viele heute zum Teil rational nicht erklärbare unternehmerische Entscheidungen kurz nach der Wiedervereinigung nur der damals besonderen Situation zuzuschreiben sind. Trotz festgestellter „typisch ostdeutscher“ Entwicklungen war und ist die Familien- und Unternehmensgeschichte in verschiedener Ausprägung auch für ostdeutsche Unternehmer Handlungsmotivation, Rückversicherung und Hilfe zur Verortung des Unternehmers. Die gemeinsame Beschäftigung mit dieser Geschichte und den damit verbundenen Erkenntnisgewinn für Unternehmer wie Unternehmenshistoriker brachte Werner Plumpe auf den Nenner: „Wir haben uns etwas zu sagen, aber nicht das Identische“. Und das hoffentlich noch in vielen weiteren Treffen des Arbeitskreises!

Konferenzübersicht:

Michael Schäfer, Dresden: Familienunternehmen in der DDR-Zeit und danach: Die Firma Apogepha in Dresden 1933 bis 2000

Karl-Peter Ellerbrock, Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund: Im Räderwerk der Geschichte. Von Dr. Volkmar Klopfers Nährmittelfabrik in Dresden zum VEB Wezenin (1900-1997)

Christian Leitzbach, cL historia, Ratingen: Der Standort Hartha der Kolbenschmidt Pierburg AG. Erfolgsgeschichte eines Elektromotorenwerkes.

Hubert Sperlich, Telegärtner Gerätebau GmbH: Entstehung und Entwicklung der Telegärtner Gerätebau GmbH in Höckendorf

Franz Borgers, Borgers AG, Bocholt: Borgers Weißensee: Eine Restitution zwischen Begeisterung und Ernüchterung

Sylvia Wölfel, TU Dresden: Zwischen ökologischer Verantwortung und ökonomischem Zwang: Vom VEB dkk Scharfenstein zur FORON Hausgeräte GmbH

Peter F. N. Hörz, Reutlingen / Marcus Richter, Gera: “Schöneck – bekannt durch gute Zigarren“. Bemerkungen zum industriekulturellen Erbe einer vogtländischen Kleinstadt

Georg v. Carlowitz, Heyda: Geschichte des Familienbesitzes Gut Heyda


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