Verfassungsgebungen in Mittel- und Osteuropa nach 1918

Verfassungsgebungen in Mittel- und Osteuropa nach 1918

Organisatoren
Stefan Gerber, Historisches Institut, Lehrstuhl für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Martin Siebinger, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.10.2008 - 17.10.2008
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Von
Stefan Wallentin, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Für die wirkungsvolle Zusammenarbeit von Juristen und Historikern gibt es in der langen Geschichte beider Disziplinen viele Beispiele. Dass die traditionelle Verbindung von „Jus und Historie” auch nach dem cultural turn weiterhin fruchtbar ist, bewies eine Mitte Oktober in Jena veranstaltete Tagung, die die Verfassunggebungen der Zwischenkriegszeit in einigen ausgwählten Ländern Mittel- und Osteuropas komparatistisch in den Blick nahm. Ziel war es dabei, aus der einzelstaatlichen Perspektive heraus Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu betonen und so vertiefte Erkenntnisse über Staatsbildungs- und auch Demokratisierungsprozesse zu gewinnen.

Im einleitenden Abendvortrag betonte THOMAS MERGEL (Berlin) den Zäsurcharakter des Ersten Weltkriegs und fragte nach dem Einfluss der Kriegserfahrung auf die Politik der Nachkriegszeit. Dabei machte er unabhängig von den nationalen politischen Systemen zwei Grundzielrichtungen der Politik aus, die mit den Begriffen „Volk” und „Feind” umschreibbar sind. Volk meint die aus der Kriegserfahrung resultierenden Bestrebungen zur Homogenisierung der Gesellschaften als höchstes Ziel der Politik. Der Volksbegriff betonte nach ethischen, nationalen oder auch rassischen Gesichtspunkten die Besonderheit der jeweiligen Gesellschaft als einer Gesamtheit und erfuhr damit gleichzeitig eine Adelung, da bisher vor allem mit negativer Konotation für die Unterschichten verwendet wurde. Mit der Kategorie „Feind” umschrieb Mergel die abgrenzende, kriegerische Funktion der Politik, die ein bisher ungekanntes Maß an Gewalttätigkeit produzierte. Ohne Feindbild schien keine Politik mehr möglich. Die ausufernde „Ziellosigkeit der Feindbilder” (Mergel) wird heute gern allein totalitären Systemen zugeschrieben, war aber in ähnlichem Maße auch in den alten europäischen Demokratien zu beobachten. In gleichem Maße ließ sich nach 1918 in allen europäischen Nachkriegsgesellschaften eine Ausweitung der Steuerungskapazitäten von Politik beobachten, die auf eine starke Regulierung der Gesellschaft setzten. Als ein Symptom für diese Entwicklung steht der Machtgewinn der Exekutive. Das gewachsene Anforderungsprofil an die Politik zog oft diktatorische Regierungsformen nach sich. In diesem Zusammenhang wies Mergel darauf hin, dass die Grenzen zwischen Diktatur und Demokratie nach 1918 weitaus fließender waren, als dies heute oft wahrgenommen wird. In dem Maße, wie zur Herstellung einer homogenen Gesellschaft Volk und Feind neu definiert wurden, verloren Verfahren als Legitimation von Politik zugunsten naturrechtlicher Zuschreibungen an Bedeutung, weshalb Mergel die Frage aufwarf, inwieweit beide Begriffe nach 1918 strukturbildend für das politische Leben wirkten.

Diesen Aspekt der Wechselwirkung zwischen den politischen Verhältnissen und der Verfassungskultur vertiefte MATTHIAS STICKLER (Würzburg) am Beispiel Österreichs. Aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns war eine Reihe neuer Nationalstaaten entstanden. Das ebenfalls als Staatswesen neu gegründete (Deutsch)Österreich setzte lange auf den Anschluß an Deutschland. Die erste österreichische Republik war damit ein Staat, der nicht auf eine spezifische österreichische Identität zurückgreifen konnte. Dies fand seinen Niederschlag in der Verfassung, welche kein Gesetzeswerk aus einem Guß war, sondern bis heute ein um spätere Regelungen immer wieder erweiterter Grundtext geblieben ist. Als eine Verfassung mit dem Charakter eines Landesstatuts konnte sie damit weder integrierend wirken, noch wurde sie wie etwa in Deutschland zu einem Element der nationalen Identität.

Die Schwierigkeiten der Verfassunggebung für das Selbstverständnis und die Ideen der politisch handelnden Eliten lotete im Anschluss STEFAN GERBER (Jena) für den politischen Katholizismus in der Weimarer Republik und dessen wichtigstes Sprachrohr, die Zentrumspartei, aus. Trotz der weiter bestehenden Skepsis gegenüber dem vom „Ludergeruch der Revolution” gezeichneten Verfassungswerk blieb das Zentrum – kommunikativ vermittelt über die ubiquitäre Formel vom „Boden der Tatsachen” – an sein verfassungspolitisches Handeln von 1919/20 gebunden und suchte es vor allem mit verantwortungsethischen Argumenten abzusichern. Zugleich blieb katholischer „Vernunftrepublikanismus” – ein Begriff, der noch einmal auf seine Tauglichkeit zu prüfen ist – eine prekäre Haltung und waren die Möglichkeiten katholischer Selbstherausstellung als wesentlicher Mitgestalter der Weimarer Verfassung begrenzt. Die harten Auseinandersetzungen beschrieb Gerber als einen innerkatholischen „kalten” Bürgerkrieg, der mit der gesantgesellschaftlichen Bürgerkriegsmentalität der weimarer Jahre korrespondierte und alte Solidarisierungen innerhalb des Katholizismus aufzehrte.

Ausgehend von der These, dass gerade in Umbruchsituationen Normgeber versucht sind, neue Vorstellungen durch Gesetzgebung in der Gesellschaft zu implementieren, untersuchte MARTIN SIEBINGER (Jena) die breite Diskussion unter den Staatsrechtlern der Weimarer Republik zu grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen und betrachtete im Hinblick auf die Vorgaben der Verfassung die tatsächliche Gesetzgebungstätigkeit in einzelnen Rechtsbereichen. Als Ergebnis kann dabei festgehalten werden, dass etwa beim Arbeitsrecht die Verfassungsvorgaben zügig umgesetzt wurden, während hingegen das Familienrecht weitgehend unverändert blieb und Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter nur am Rande diskutiert wurden.

Einer veränderten Interpretation des Verfassungstextes durch die politischen Akteure in den 1920er- und 1930er-Jahren ging auch ROMUALD KRACZKOWSKI (Warschau) am Beispiel der Regelungen zu den nationalen Minderheiten der polnischen Märzerfassung von 1921 nach. Besonders durch das Erstarken nationalpolnischer Kräfte veränderte sich die Nationalitätenpolitik in hohem Maße. Obwohl die normativen Grundlagen der Verfassung zu dieser Frage unverändert blieben, wurde die verfassungspolitische Grundidee „umgewertet“.

ANGELIKA NUßBERGER (Köln) nahm die russische Verfassungskultur seit 1918 unter Einschluss der gegenwärtigen Verfassungspraxis in den Blick. Besonders der Volksbegriff, mit dessen veränderter Reichweite die Frage nach der Zugehörigkeit zum Staatsverband stets neu beantwortet wurde, markierte in den untersuchten Verfassungen von 1918, 1924, 1936 und 1977 den politischen Wandel. Exklusion wurde in den frühen sowjetischen Verfassungen über das Verfassungsrecht auch innerhalb des Staates vollzogen, indem bestimmten ideologisch und/oder sozial definierten Gruppen ihre Zugehörigkeit zum Staatsvolk abgesprochen wurde, während andere, auch außerhalb des sowjetischen Staatsverbandes stehende Personen und Gruppen inkludiert wurden. Mit dem Zerfall der UdSSR erwies sich die Konstruktion des „Sowjetvolks“ als Fiktion. Die heute gültige und von starken westlichen Einflüssen geprägte Verfassung von 1993 hat einen anationalen und pluralistischen Charakter. Doch wird ihr Pluralismus nicht von der Bevölkerungsmehrheit getragen, welche nach einem klaren, noch nicht konstitutionell entwickelten Identitätskonzept verlangt.

Die Bedeutung des Prozesses der Verfassungsgebung für den späteren Prozess der Verfassungsaneignung durch die politischen Akteursgruppen betonten die beiden abschließenden Vorträge. So war die von JANA OSTERKAMP (München) untersuchte tschechoslowakische Verfassung von 1920 ein auf vorbildliche Weise demokratisches Regelwerk. Der Prozess ihres Zustandekommens muss jedoch im Kern als nicht demokratisch angesehen werden, da an ihm nur etwa 50 Prozent der Gesamtbevölkerung beteiligt waren, während die starken deutschen und ungarischen Minderheiten ausgeschlossen blieben. Trotzdem das Verfassungswerk deshalb in den ersten Jahren als „Verfassungsoktroi“ heftig angegriffen wurde, beteiligten sich deutschsprachige Juristen später in immer stärkerem Maße an seiner Ausgestaltung. Die sich zunehmend entpolitisierenden juristischen Debatten unterstreichen die friedensstiftende Wirkung des Rechts. Gegen die politischen Realitäten am Ende der 1930er-Jahre waren diese Entwicklungen jedoch machtlos.

Als gescheiterten zentralistischen Integrationsversuch beschrieb DIETMAR MÜLLER (Leipzig) die großrumänische Verfassung von 1923. Sie war nur mit knapper Mehrheit angenommen worden und wurde immer stärker als ein Projekt der sich auf den Gleichheitsgrundsatz berufenden nationalen Minderheiten gesehen, während einer „Verfassungskultur“ wesentliche Entwicklungsgrundlagen fehlten. Die Wahlen als zentrales Moment einer Inszenierung des „Funktionierens“ der mit der Verfassung implementierten parlamentarischen Ordnung entwickelten sich zu gelenkten politischen Intermezzi, in denen auch die Wahlbevölkerung selbst weiterhin nicht pluralistischen Mustern folgte. Die nicht zuletzt hieraus resultierende geringe Bindungs- und Integrationskraft der Verfassung führte im komplexen Zusammenspiel mit der Agrarreform schließlich dazu, dass der 1938 errichteten Königsdiktatur von den politischen Parteien nur geringer Widerstand entgegengesetzt wurde.

Das Konzept der „Verfassungskultur“ eröffnet eine neue Perspektive auf Verfassungen und Verfassunggebungsprozesse. Dies betrifft nicht nur die Symbolik und Inszenierung von Verfassungen als integrale Bestandteile, nicht „schmückendes Beiwerk“ der politischen Verfassunggebungs- und Ausgestaltungsprozesse. Verfassunggebungsprozesse können wie auch die parlamentarischen und vor allem die juristischen Kommunikationsräume, in denen Verfassungen interpretiert und angewendet wurden, auf ihr Integrationspotential für die „verfassten“ Gesellschaften befragt werden. Dies gilt in gleicher Weise die Reichweite ihrer Vermittlung sowie die Vermittlungsbedürfnisse und -absichten der beteiligten Gruppen. Die Chancen dauerhafter politischer Integration durch Verfassung, die „Verfassungskultur“ wohl voraussetzt, kommen so geschärft in den Blick. Das gilt – nicht zuletzt dies haben die Beiträge der Tagung eindrücklich deutlich gemacht – gerade für den internationalen, transdisziplinär angelegten Vergleich verschiedener Staaten, politischer Systeme, Einzelakteure oder verfassungspolitisch relevanter Gruppen. Die Frage nach der „Verfassungskultur“, die auch vor dem Hintergrund aktueller Bemühungen um Integration über Verfassung und Recht bedeutsam ist, zielt also nicht an die „Ränder“, sondern in das Zentrum der Politik.

Kurzübersicht:

Abendvortrag
Thomas Mergel (Berlin): Volk und Feind. Der Erste Weltkrieg und der Formwandel von Politik in Europa

Matthias Stickler (Würzburg): Von der Reichsreform zur Republik. Verfassungsentwicklung und Verfassunggebung in der Habsburgermonarchie und in (Deutsch)Österreich 1917-1920

Stefan Gerber (Jena): Bürgerkrieg und Verfassunggebung. Positionen des deutschen Katholizismus zur politischen Neugestaltung 1918-1923

Martin Siebinger (Jena): Der Umbau der Gesellschaft in der Anfangsphase der Weimarer Republik. Implementierung eines neuen Familienbildes durch Verfassungs- und Privatrecht

Romuald Kraczkowski (Warschau): The Virtual Amendment to the Polish Constitution of March 1921 by Revaluation of It’s Basic Idea

Angelika Nußberger (Köln): Exklusion und Inklusion. Zur Entwicklung der russischen Verfassungskultur 1917-1993

Jana Osterkamp (München): Kommunikationen und Inszenierungen in der tschechoslowakischen Verfassungskultur nach 1918

Dietmar Müller (Leipzig): Die großrumänische Verfassung von 1923. Ein gescheiterter Integrationsversuch


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