Den interdisziplinären Austausch über theoretische Entwicklungen, methodische Fragen und praktische Forschungserfahrungen zu fördern, war das Ziel einer wissenschaftlichen Nachwuchstagung zur „Aufarbeitung von Vergangenheit in außereuropäischen Regionen“, zu der Detlef Nolte, Anika Oettler, Ulrike Capdepón, Ruth Fuchs und Nadine Haas vom 17. bis 19. Oktober nach Hamburg eingeladen hatten. Den Auftakt der Veranstaltung, die in Zusammenarbeit mit dem German Institute of Global and Area Studies (GIGA), der Universität Hamburg, der Hans Böckler Stiftung und dem Nordelbischen Missionszentrum ausgerichtet wurde und an der 35 Nachwuchswissenschaftler/innen unterschiedlicher Fachrichtungen teilnahmen, bildete eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zur „Aufarbeitung von Massengewalt: Zwischen lokalen Verhältnissen und globalen Erinnerungsformen“. Aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten die Referenten die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Aufarbeitung in einer globalisierten Welt: Während GERD HANKEL (Hamburg) über die Erfahrungen der Gacaca-Verfahren in Ruanda berichtete, die dort seit 2002 als eine Form der „traditionellen Justiz“ den Aufarbeitungsprozess prägen, illustrierte CHRISTIAN GUDEHUS (Essen) am Beispiel der Rezeption des Spielfilms „Hotel Ruanda“ in eindrucksvoller Form das Spannungsverhältnis zwischen privatem und öffentlichem Gedächtnis. Erinnerung - und mit ihr die Tradierung extremer Gewalterfahrung -, so die zentrale These von HARALD WELZER (Essen) sei weniger vergangenheitsorientiert als vielmehr „strikt gegenwartsbezogen“. Mit seiner Kritik an der Behauptung einer europäischen oder gar globalen Erinnerungskultur lieferte der Sozialpsychologe und Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research Stoff zur Diskussion: sowohl über die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen der globalen und lokalen Ebene von „Vergangenheitsbewältigung“ als auch über die Bedeutung inter- und transnationaler Normierungsprozesse, insbesondere im Bereich der juristischen Aufarbeitung. Umstritten blieb bis zuletzt das Modell der Gacaca-Justiz, das Hankel in seinem Vortrag als „gut oder möglicherweise vorbildhaft“ bezeichnet hatte.
In vier parallel stattfindenden Panels wurden am zweiten Konferenztag ausgewählte Promotionsprojekte vorgestellt, diskutiert und von Detlef Nolte, Markus Klaus Schäffauer, Christian Gudehus und Anika Oettler kommentiert.
In einem ersten Panel über „Erinnerung und Identität“ wurden Tradierungsprozesse aus unterschiedlichen Perspektiven (kollektiv/individuell, „von oben“/von unten“) beleuchtet. Während STEPHAN LAETSCH (Rostock) über die Marksteine öffentlicher Identitätsdiskurse in Chile und Deutschland sprach, skizzierte LARS FRÜHSORGE (Hamburg) lokalspezifische Geschichtsinterpretationen in guatemaltekischen Maya-Gemeinden und untergrub exotisierende Vorstellungen über indigenes Geschichtsdenken. DIRK VETTER (Freiburg) stellte den soziolinguistischen Ansatz dar, mit dem er den individuellen Prozess der Aufarbeitung von Fremdheitserfahrungen bei chinesischen Einwanderern in Argentinien untersucht.
„Erinnern in Literatur und Medien“, lautete das Oberthema eines zweiten Panels, das besonders die Literatur in ihrer Funktion als „Erinnerungsort“ genauer in den Blick nahm. NADINE HAAS (Hamburg) widmete sich hier der Vergangenheitsarbeit in der neueren chilenischen Literatur. Sie illustrierte an Hand von drei Romanen, wie die Diktaturerfahrung in narrative Texte übersetzt und damit literarisch „aufgearbeitet“ wurde, verwies jedoch zugleich auf die Grenzen der chilenischen Gegenwartsliteratur als Medium der „Vergangenheitsbewältigung“. INGRID HAPKE (Hamburg) gab in ihrem Vortrag Einblicke in ihre Dissertation über das Verhältnis von Körper und Gewalt in der brasilianischen Literatura marginal. Sie geht der Frage nach, wie sich das Motiv des ausgegrenzten, rechtlosen Körpers im literarischen und filmischen Corpus der Literatura Marginal fortschreibt – und wie sich die Autoren dieser künstlerischen und sozialen Bewegung selbst zu ihrem historisch-kulturellen Schicksal – und damit zu Armut, Ausgrenzung und Gewalt – in Beziehung setzen. TATJANA LOUIS (Bogotá) beleuchtete in ihrem Vortrag den öffentlichen Umgang mit der kolumbianischen Violencia der 1950er-Jahre. Auf der Basis einer eingehenden Analyse von Schulgeschichtsbüchern, dem Lehrplan für das Fach Geschichte und der Geschichtsdarstellung in öffentlichen Museen konstatierte sie eine „gewisse Sprachlosigkeit im öffentlich-institutionalisierten Erinnerungsraum“ – und erörterte deren mögliche Ursachen.
Im Fokus des dritten Panels stand das Thema der „Vergangenheitspolitik“ und damit der institutionelle Umgang mit Diktatur und Menschenrechtsverbrechen in Form von Entschädigungen, Wahrheitskommissionen und Maßnahmen der rechtlichen Aufarbeitung. Der Beitrag zivilgesellschaftlicher Organisationen zu Gerechtigkeits-, Wahrheits- und Versöhnungsprozessen in Post-Konflikt Gesellschaften (MARTINA GAEBLER, Bonn) wurde hier ebenso diskutiert wie die Formung von Subjektivitäten durch die Einbindung in die südafrikanische Bewegung für Reparationszahlungen (RITA KESSELRING , Basel), die Einsetzung des kambodschanischen Tribunals ECCC als einer World-Polity Institution (DOMINIK PFEIFFER, Marburg) und der zweifelhafte Beitrag der Comisión Nacional de Reconciliación y Reparación zur Aufarbeitung des kolumbianischen Bürgerkrieges (SVEN SCHUSTER, Eichstätt). Alle vier Beiträge kreisten um die Frage, wie globale Normen der transitional justice mit lokalen Verhältnissen vermittelt werden und wer wie und mit welchen Folgen in vergangenheitspolitische Prozesse eingebunden ist.
Das vierte Panel schließlich widmete sich Aufarbeitungsdiskursen und Geschichtsentwürfen – und zwar aus nationaler wie aus transnationaler Perspektive. ULRIKE CAPDEPÓN (Hamburg) illustrierte am Beispiel der Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet 1998 in London die transnationale Dimension des öffentlichen Umgangs mit Diktaturvergangenheiten. Ihre Ausführungen über den Einfluss des „Fall Pinochet“ auf die innenpolitischen Auseinandersetzungen über die Franco-Vergangenheit in Spanien verdeutlichten, dass nationale Grenzen der Aufarbeitung brüchig geworden sind. RUTH FUCHS (Köln) widmete sich der vergleichenden Analyse der Vergangenheitspolitik in Argentinien und Uruguay – und zwar aus einer Perspektive, die neuere Ansätze der Politikfeldanalyse mit diskursanalytischen Methoden verknüpft. Vergangenheitspolitik, so ihre Argumentation, ist immer auch Schauplatz einer „umkämpften Geschichte“: Im Streit um den Umgang mit Tätern und Opfern wird über die Interpretation der historischen Ereignisse verhandelt, über konkurrierende Demokratiemodelle und widerstreitende Gesellschafts- und Zukunftsvorstellungen. STEPHAN PETERS (Kassel) gab einen Einblick in uruguayische Vergangenheitsdiskurse seit den frühen 1970er-Jahren. In Anlehnung an Überlegungen von Laclau/Mouffe untersuchte er das Verhältnis von theoretischen Positionen, politischen Konjunkturen und Geschichtsinterpretationen im Kampf um politische Hegemonie. BORYANO RICKUM (Aachen) beleuchtete die japanische Okkupationszeit in der indonesischen Erinnerungskultur, identifizierte dabei langfristige Veränderungen im kollektiven Gedächtnis der indonesischen Nation und diskutierte deren mögliche Ursachen. Die offizielle Erinnerungspolitik im demokratischen Chile zeichnete schließlich STEPHAN RUDERER (Münster) nach. Auf der Basis einer Analyse des Pressediskurses kommt er in seiner Dissertation zu dem Schluss, dass die Legitimierung der Menschenrechtsverbrechen in der chilenischen Erinnerung immer weniger Platz findet, allerdings teilweise ersetzt wird durch den Versuch, die „guten Seiten“ der Diktatur hervorzuheben. Die positiv besetzte wirtschaftliche „Leistung“ der Diktatur werde dabei von der Repressionsgeschichte entkoppelt; in der gesamtgesellschaftlichen, „hybriden“ Erinnerung an die Diktaturvergangenheit allerdings vermischten sich beide Elemente erneut.
Ein gemeinsames Abschlussplenum am dritten Konferenztag folgte schließlich dem übergeordneten Ziel, fächerübergreifende Fragestellungen, Forschungsansätze und methodische Zugänge herauszuarbeiten und damit neue komparative Forschungsperspektiven zu eröffnen. Christian Gudehus begrüßte die Tendenz der vorgestellten Arbeiten, im Sinne einer „gegenstandsbezogenen Forschung“ unterschiedliche Methoden und Quellenbestände zu kombinieren, um der Komplexität von Aufarbeitungsprozessen besser gerecht zu werden. Der allgemeinen Erkenntnis über den Gegenwartsbezug von Vergangenheitsdiskursen, über ihre Bedeutung als Legitimationsressource politischen Handelns und Fundament kollektiver Identitäten stellte er die Frage nach der „Zukunft der Vergangenheit“ an die Seite: Künftige Studien zur Aufarbeitung sollten sich besonders auch den Gesellschafts- und Zukunftsvorstellungen zuwenden, die den jeweiligen Umgang mit der belasteten Vergangenheit motivieren. MARKUS KLAUS SCHÄFFAUER (Hamburg) erwog mögliche Gründe für die begrenzte Wirkungsmacht insbesondere der chilenischen Literatur als Ort der Erinnerung an die Diktaturverbrechen und fragte nach alternativen und möglicherweise einflussreicheren Medien des kulturellen Gedächtnisses. ANIKA OETTLER formulierte ihrerseits eine Reihe forschungskritischer Anmerkungen: Sie plädierte für eine stärkere Reflexion sowohl über das methodische Vorgehen und die moralischen Vorstellungen, die in die Forschungsarbeit einfließen, als auch über die eigene Position im Feld. Dem Verhältnis von Demokratie und Aufarbeitung widmete sich abschließend DETLEF NOLTE. Mit Blick auf die während der Tagung vorgestellten Forschungsarbeiten blieb der Befund allerdings widersprüchlich – auch und besonders angesichts des spanischen und uruguayischen Beispiels einer „verdrängten Vergangenheit“ bei fortgeschrittener demokratischer Konsolidierung.
Mit der Tagung wurde schließlich der Grundstein für ein interdisziplinäres Netzwerk von Nachwuchswissenschaftler/innen gelegt, die sich mit Fragen der Aufarbeitung von Vergangenheit in außereuropäischen Regionen (Afrika, Lateinamerika, Asien, mittlerer Osten) befassen. Das Netzwerk (AVAR-net) ist am GIGA Institute of Global and Area Studies untergebracht. Weitere Aktivitäten sind gewünscht und geplant.
Konferenzübersicht:
Öffentliche Auftaktveranstaltung:
Aufarbeitung von Massengewalt: zwischen lokalen Verhältnissen und globalen Erinnerungsformen
Gerd Hankel (Hamburg): Gacaca-Justiz in Ruanda
Christian Gudehus (Essen): Rezeptionsgeschichte des Films „Hotel Ruanda“
Harald Welzer (Essen): Europäisches Gedächtsnis – globales Gedächtnis
Moderation: Anika Oettler (Hamburg)
Panel 1: Erinnerung und Identität
Lars Frühsorge: Zwischen Ahnenritual und „leerem Sprechen“: Erinnerung an die violencia in indigenen Gemeinden Guatemalas
Stefan Laetsch: Identitätsdiskurse in Chile und Deutschland
Dirk Vetter: Fremde in der Fremde – individuelle Vergangenheitsbewältigung bei chinesischen Einwanderern in Argentinien.
Panel 2: Identitätsbildung im Spiegel der Vergangenheit – Erinnern und Literatur in Medien
Nadine Haas: Erinnern und Erzählen – die Diktatur in der Literatur der chilenischen transición
Ingrid Hapke: Das ge-/entfesselte Gedächtnis: Körper und Gewalt in der brasilianischen Literatura Marginal
Tatjana Louis: Erinnerung an die Violencia im öffentlichen Raum
Panel 3: Vergangenheitspolitik: Entschädigungen, Wahrheitskommissionen und rechtliche Aufarbeitung
Martina Gaebler: „Niemals Wieder“ – Der Beitrag zivilgesellschaftlicher Organisationen zu Gerechtigkeits-, Wahrheits- und Versöhnungsprozessen in Post-Konflikt Gesellschaften
Rita Kesselring: Der Menschenrechtsdiskurs in Zeiten der transitional justice: die südafrikanische soziale Bewegung für Reparationszahlungen und ihre rechtlichen Interventionen
Dominik Pfeiffer: Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung in Kambodscha und die ECCC
Sven Schusterer: Vergangenheitspolitik in Kolumbien zur Aufarbeitung des Bürgerkrieges durch die Comisión Nacional de Reconciliación y Reparación (CNRR)
Panel 4: Erinnerungskultur: Aufarbeitungsdiskurse und Geschichtsentwürfe
Ulrike Capdepón: Entgrenzte Erinnerungskulturen in Spanien und Chile
Ruth Fuchs: Umkämpfte Geschichte: Vergangenheitspolitik in Uruguay und Argentinien
Stefan Peters: Uruguay. Theoretische Positionen, politische Konjunkturen und Geschichtsinterpretation im Kampf um politische Hegemonie
Boryano Rickum: Die japanische Okkupationszeit in der indonesischen Erinnerungskultur
Stephan Ruderer: Erinnerungspolitik in Chile: Hybride Erinnerung
Komparative und interdisziplinäre Forschungsperspektiven
Mit Christian Gudehus, Detlef Nolte, Anika Oettler und Markus Klaus Schäffauer
Perspektiven und Vernetzung
Ruth Fuchs, Ulrike Capdepón