„Geerbte Geschichte“? Faschismus und Krieg in Literatur und Film um 1969

„Geerbte Geschichte“? Faschismus und Krieg in Literatur und Film um 1969

Organisatoren
Institut für Germanistik der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam (ZZF)
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2008 - 23.11.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike Schneider / Jacob Panzner, Universität Potsdam

Mit dem vom 21. bis 23. November 2008 stattgefundenen Workshop „’Geerbte Geschichte’? Faschismus und Krieg in Literatur und Film um 1969“ in Potsdam kam eine 2006 eröffnete dreiteilige Workshopreihe zu ihrem Abschluss. Diese Reihe, veranstaltet vom Institut für Germanistik der Universität Potsdam, seit 2007 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam (ZZF), ging der „veröffentlichten Erinnerung an Krieg und Faschismus in beiden Nachkriegsgesellschaften“ in den Jahren 1950, 1960 und 1969 nach. Wie der Veranstalter HELMUT PEITSCH (Universität Potsdam) in seiner Begrüßungsrede hervorhob, wurden diese Jahre als Eckpunkte in der Auseinandersetzung mit den Themen Erinnerung und ‚Vergangenheitsbewältigung’ im privaten, öffentlichen und offiziellen Umgang beider deutscher Staaten sowie unter Einbeziehung verschiedener europäischer Länder wie Österreich, Polen, der Sowjetunion und Ungarn verstanden. Ausgangspunkt der konzeptionellen Überlegungen bildete u.a. das Buch „Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre“ der im letzten Jahr verstorbenen Germanistin und Mitinitiatorin SIMONE BARCK. In ihrer Untersuchung hatte sie drauf verwiesen, dass „der Antifa-Diskurs in der DDR auf osmotische und zugleich diffuse Weise mit demjenigen in der BRD verbunden war und blieb.“

Ebenso wie die Vorträge der vorhergehenden Workshops gingen auch die Referenten der diesjährigen Veranstaltung dem Stand der öffentlichen Erinnerung an Faschismus und Krieg um 1969 nach. Leitende Fragestellungen waren: Wie wird Verfolgung und Widerstand, Flucht und Vertreibung, Gefangenschaft und Befreiung in den einzelnen Staaten erinnert? Welche Texte bestimmen die offizielle Erinnerung? Wie gestaltete sich der Austausch zwischen privater, öffentlicher und offizieller Erinnerung?

Mit dem Zitat Willy Brandts, welches den Titel des Workshops bildete, wurde der Blick auf die Veränderungen im Umgang mit der Vergangenheit gelenkt, die mit der 1969 eingeleiteten „auf die Wahrung der ‚Einheit der Nation’ orientierten ‚Neuen Ostpolitik’ verbunden war“.

In seinem Eröffnungsvortrag untersuchte FRANK STERN (Wien) die Darstellungen von Faschismus, Krieg und Humanismus in den ostdeutschen Filmen „Ich war neunzehn“ und „Goya“ von Konrad Wolf. Im ersten Film stehe das Element der biografischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im Vordergrund, symbolisiert durch den Hauptheld, in dem sich die Erfahrungen Wolfs als junger Soldat der russischen Armee bei der Befreiung Deutschlands widerspiegeln. Zudem werfe Wolf die Frage nach dem Humanismus im Jahr 1945 auf, da es keinen Neuaufbau geben könne, ohne die Vertreibung des Humanismus während des Nationalsozialismus zu thematisieren. Indem er die Frage des Einflusses des Einzelnen auf die Geschichte und die gesellschaftliche Entwicklung stellte, aktualisierte er nicht nur den Blick auf die Vergangenheit, sondern reagierte er auf gegenwärtige politische Entwicklungen. 1971 folgte in Kooperation mit der UdSSR der DEFA-Film „Goya“. Wolf hinterfragte hier die Rolle der Filmkunst am Beispiel des ersten Künstlers der Moderne. In der Form der Dämonen, die Goya in seinen Zeichnungen darstellt und die zu einem zweimaligen Verhör vor der Inquisition führen, sei die gesellschaftliche Situation erfasst, die weder einen „verborgenen Sinn“ noch „verborgene Gedanken“ zulasse. Mit dieser Orientierung rücke die universelle antifaschistische Bedeutung des Künstlers in den Blick, der innerhalb der ideologischen Vorgaben, seinen Weg zur Darstellung finden muss.

Mit der Wahl Willy Brandts zum ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik 1969 sollte – so die Hoffnung vieler Intellektuelle – nicht nur eine neu ausgerichtete Innenpolitik beginnen, sondern eine durch Brandts vorherige Tätigkeit als Außenminister vorbereitete Entspannung in der Ostpolitik erreicht werden. Inwieweit dies allerdings einen wirklichen Neuanfang bedeutete, untersuchte BILL NIVEN (Nottingham) anhand von Stellungnahmen und Äußerungen verschiedener Intellektueller. Dabei wies er nach, dass das Thema Ostpolitik sich in den Werken deutscher Schriftsteller kaum niederschlug. Während ab den späten 1950er-Jahren Fragen nach Flucht, Vertreibung, Mitverantwortung und des „Heimatverlustes“ thematisiert wurden, lasse sich Anfang der 1970er-Jahre eine Scheu vieler Schriftsteller gegenüber diesen Themen feststellen. So wurde von Grass in seinem „Tagebuch einer Schnecke“ (1972) die Flucht der Deutschen aus Danzig nicht erwähnt. Abschließend bleibt festzuhalten: Ein neuer Umgang mit der Ostpolitik, der auf politischer Ebene 1969 eingeleitet wurde, fand auf literarische Ebene einige Jahre vorher statt bzw. wurde mit einer zeitlichen Verzögerung erst ab Mitte der 1970er-Jahre wieder aufgenommen.

Bedeutete das Jahr 1969 einen Wandlungspunkt für die bundesrepublikanische Politik und Gesellschaft, kann dies für die DDR nach ELKE SCHERSTJANOI (Institut für Zeitgeschichte München) nicht festgestellt werden. Vielmehr stand der zweite deutsche Staat unter dem Schatten des Prager Frühlings, der eine „Eiszeit“ im Ostblock eingeleitet hatte. Verunsicherungen auf Seiten der Künstler standen starken Konfliktängsten auf Seiten der Parteiträger gegenüber. Die Regierung unter Ulbricht verwies zwar darauf, dass die Bedingungen für einen Dialog nun besser würden, allerdings ließ Brandts Regierungserklärung kaum Hoffnungen erkennen. Auch für die DDR sei zwischen 1965 und 1970 in den literarischen Texten eine Phase der Zurückhaltung bezüglich des Themas Vergangenheit feststellbar. Erst Anfang der 1970er-Jahre setzte ein neuer inhaltlicher und poetologischer Umgang mit dem Thema bei den ostdeutschen Autoren ein. Ein Bezug auf die Bundestagswahl findet sich in den veröffentlichten Texten nicht – sie blieb auf das ‚andere’ Deutschland beschränkt. Im sozialistischen Staat fand vielmehr ein Desillusionierungsprozess bei den Schriftstellern statt, in deren Zentrum die Frage nach der eigenen Rolle im Sozialismus stand.

ANNE BODEN (Dublin) verdeutlichte in ihrem Vortrag, wie weit offizielle und private Erinnerung im Falle des 1969 im Union-Verlag erschienenen Tagebuchs „Festung Breslau“ von Paul Peikert voneinander abweichen können. Von den Herausgebern wurde der Text mit einem Vorwort versehen, in dem seine Bedeutung als ein „Dokument“, das für die „Anerkennung der Grenze des Friedens an Oder-Neiße“ plädiere, hervorgehoben wurde. Innerhalb der ehemaligen schlesischen Vertriebenen in der DDR kursierte der Text als Zeugnis ihrer eigenen Geschichte und im Gegensatz zu der offiziell vorgegebenen Interpretation. Trotz einer geringen öffentlichen Wahrnehmung – die wenigen Rezensionen erschienen meist in ostdeutschen Kirchenzeitungen – wurde das Buch zwischen 1969 und 1974 fünfmal aufgelegt. Auch in der Bundesrepublik wurde Peikerts Buch „zu einem Kultbuch unter den ehemaligen Schlesiern“. Boden verwies darauf, dass das Buch beiden Staaten – allerdings mit unterschiedlichen Akzentuierungen – als Gegendarstellung gegenüber bisher veröffentlichten westdeutschen Beschreibungen der Vertreibung diente.

JOANNE SAYNER (Birmingham) ging anhand von Artikeln, die Greta Kuckhoff als ehemaliges Mitglied der „Roten Kapelle“ um 1969 in der Weltbühne veröffentlichte, ihrer Kritik an den offiziellen Erinnerungsdiskursen nach. Versuchte Kuckhoff durch ihre Darstellung der Widerstandstätigkeit der „Roten Kapelle“, dieser einen Erinnerungsort im offiziellen Gedächtnis des ostdeutschen Staates zu Teil werden zu lassen, so kämpfte sie gleichzeitig gegen die von der Bundesrepublik verfolgte, diffamierende Rezeption der Gruppe als „kommunistische Spionagegruppe“. Nach Sayner verband Kuckhoff in ihrem Erinnerungskonzept stets die Erinnerung an die einzelnen Mitglieder mit der Geschichtsschreibung über die Gruppe. Dass dabei - entgegen der oftmals geäußerten Homogenitätsthese, in der DDR habe keine Thematisierung des Holocaust stattgefunden - Judenverfolgung und Judenmord ein wichtiges Kriterium der „Roten Kapelle“ sowie ihrer Rezeption bildeten, wies Sayner überzeugend anhand des von Kuckhoff veröffentlichten Artikels „Zur Kristallnacht November 1938“ nach.

CHRISTIAN ERNST (Potsdam) befragte in seinem Vortrag die Rezeption der Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“ in den 1960er-Jahren in beiden deutschen Staaten. Während die Wahrnehmung in der Bundesrepublik bis 1968 vor allem durch Inge Scholl und ihrer Deutung sowie den deutsch-deutschen Kontext des Kalten Krieges geprägt war, fand im Zuge der Studentenbewegung eine signifikante Umdeutung der Gruppe statt. Eine Neubewertung des politischen Widerstands der „Weißen Rose“ stand der bis dahin vorwiegend christlich konnotierten Rezeption gegenüber. In der DDR verlief der Prozess entgegengesetzt. Auftraggeber der ersten Veröffentlichungen zur „Weißen Rose“ in den 1950er-Jahren war die FDJ. Damit war auch die Ausrichtung der Darstellung bestimmt: der Widerstand wurde als kommunistischer betont – als zentrales Element dieser These galt der Russlandeinsatz der Studenten, der einen Gesinnungswandel zur Folge gehabt habe. Den Veröffentlichungskontext FDJ lösten in den 1960er-Jahren christliche Verlage ab, die eine christliche Rezeption stärker betonten.

Die Vorträge dieser Sektion verdeutlichten, wie sehr die Interpretation und Rezeption von Gruppen und Texten an den jeweiligen Veröffentlichungsort und sein Umfeld gebunden sind – nicht der Text allein, sondern vor allem die offiziell vorgegebene Lesart entscheidet darüber, wie der Text gelesen werden soll.

Inwiefern Reiseberichte als Erinnerungstexte zu verstehen sind und Reisen zur Konfiguration mit der eigenen Vergangenheit führen, verdeutlichte KATHRYN JONES (Swansea) in ihrem aufgrund einer Krankheit nicht selbst vorgetragenen, aber verlesenen Vortrag über Günter Kunerts 1966 erschienen Text „Betonformen“. Sieben Betonformen, die sich verwittert außerhalb des offiziellen Geländes der Gedenkstätte Buchenwald befinden, bildeten mit der Erzählung „Die große Reise“ von Jorge Semprun den Kern von Kunerts Erinnerungssuche. Mit der Thematisierung der Erinnerung an die jüdischen Opfer Buchenwalds setzte sich Kunert als einer der Ersten kritisch mit den offiziellen Erinnerungsformen der DDR auseinander. Allein der Zeitzeuge, so Kunerts Fazit, könne Erinnerung vermitteln, da „er die Betonformen mit sich schleppt und die Zeit nichts darüber gepflanzt hat“. In der Hinterfragung der Besucherhaltung liege allerdings auch der Widerspruch in Kunerts Text: So sehr er mit seinem Text den Gedenktourismus auch ablehne, fordere er ihn andererseits gerade ein, da er diesen in seinem Text thematisiere.

AXEL SCHALK (Potsdam) gab einen skizzierenden Vergleich der NS-Thematisierungen im Theaterleben von Bundesrepublik und DDR. Da es bis heute keine einschlägige Monographie zum Thema gebe, listete Schalk erst einmal das bis dato Erfasste summarisch auf und kommentierte exemplarische Beispiele. Als problematisch erweist sich diese Herangehenswiese – aus den gängigen wissenschaftlichen Quellen auf die Gesamtheit der DDR-Dramatik zu schließen – dahingehend, da nicht wenig Relevantes noch wissenschaftlicher Ersterfassung harrt, wie u.a. Bill Niven bestätigte, der an anderem Ort Nachforschungen zum Schaffen Vera Oelschlägers als Leiterin des so genannten TIP (Theaters im Palast der Republik) angestellt hatte. Schalk konzentrierte sich daher auf einen Exkurs zur (DDR-)Dramatik Alfred Matusches. Für die Bundesrepublik konstatierte Schalk, dass die gängige sozialpsychologische These weitgehender Verdrängung des Schulddiskurses sich für den Bereich des Theaterlebens nicht halten ließe, wofür er neben dem fraglichen Beispiel des mehr als 4.000-fach inszenierten „Des Teufels General“ auch diverse weitaus kritischere Beispiele nannte.

JAN KOSTKA (Potsdam) beschäftigte sich mit Klaus Schlesingers literarischen Verarbeitungen seiner Erfahrungen und Recherchen der Heeresversuchsstelle Kummersdorf, im Besonderen mit der Reportage „Der verbotene Wald“ (1966) und dem Roman „Michael“ (1971). Überzeugend konzentriert brachte Kostka hier Exkurse zu Verarbeitungen ästhetischer Theorien der für Schlesinger wichtigen Jean Villain und Kurt Batt zusammen mit der für Schlesinger zentralen Frage nach der Bedeutung verbreiteter Alltagswahrnehmungen des hier bearbeiteten Gegenstandes. Insbesondere die Frage des Übergangs von Dokumentarischem zu stärker auf den Erzähler fixierenden Formen bildete den Leitfaden, um u.a. die Darstellung von Orten als Träger vererbter Verhaltensmuster bei Schlesinger zu beleuchten.

WITHOLD BONNER (Tampere) thematisierte spezifische Probleme autobiographischer Texte zu Faschismus und Krieg von bekannten DDR-Autoren. Anhand der Tagebücher Brigitte Reimanns, Christa Wolfs u.a. stellte Bonner die These auf, dass der direkte Bezug auf Faschismus und Krieg in diesem Feld zunehmend in Fragen übergehe, inwieweit die Entwicklung der DDR noch als haltbare Reaktion auf die sich nach 1945 stellende Frage des Aufbaus einer neuen Ordnung zu verstehen sei. Als allgemeines Problem hielt Bonner fest, dass der Stand veröffentlichter Privatzeugnisse solchen Inhalts eher spärlichen Umfangs sei, was Generalisierungen erheblich erschwere.

SYLKE KIRSCHNICK (Potsdam) gab einen literatursoziologischen Überblick der Rezeption von Anne Franks „Tagebuch“. Kirschnick erläuterte mit Blick auf Faktoren wie Verfilmung, Dramatisierung, Beigabe von Fotos und allem voran der Förderung durch zivilgesellschaftliche Initiativen den Bestsellerstatus des Buchs in einer ersten Rezeptionswelle um 1956/57, weit vor der staatlich geförderten Kanonisierung des Textes in den 1980er-Jahren. Als wichtigen Faktor des relativen Rückgangs der Rezeption um 1969 erwies sich u.a., dass die Geschichte Anne Franks allzu oft exemplarisch für alle jüdischen Opfer gesetzt worden war, was zunehmend – durch die Rezeption anderer Texte – durchbrochen wurde.

ULRIKE SCHNEIDER (Potsdam) befasste sich mit Jean Amérys Kritik an H. E. Holthusens Variante eines Rückzugs in private Erinnerungsmuster am Beispiel des 1966 im MERKUR von Holthusen veröffentlichten Essays „Freiwillig zur SS“. Verlor sich Holthusen soweit in Rückprojektionen, dass er nicht davor zurück schreckte, seinen Eintritt in die Waffen-SS als Rückzug in eine entpolitisierte Innerlichkeit zu deuten, um sich dann im Hier-und-Jetzt per Ironisierung abstrakt zu distanzieren, bestand Améry darauf, dass eine solche Perspektive in der Gegenwart des Schreibenden sich als unhaltbar erweisen müsse. Vielmehr könne die eigene Vergangenheit konsequent nur durch einen Übergang in gegenwärtig engagiertes Handeln aufgehoben werden.

GÜNTER AGDE (Berlin) referierte über die Durchführung der Bisky/Netzeband-Studie des Leipziger Instituts für Jugendforschung zur Rezeption von Konrad Wolfs Film „Ich war neunzehn“. Die Studie analysierte Agde als frühesten Versuch, soziologische und filmwissenschaftliche Forschung in der DDR zusammenzuführen. Eine kritische Fortführung des umfangreichen Unternehmens empirischer Rezeptionsforschung schien heute wie damals ebenso wertvoll wie auf Umsetzung wartend.

Mit Blick auf den europäischen Kontext wurde der Rahmen der Tagung in der abschließenden Sektion erweitert. JÜRGEN DOLL (Paris) stellte das 1969 erschienene „Selbstporträt“ des in Wien geborenen Autors Jakov Lind zur Diskussion. Ausgehend von einer Beschreibung der weitenteils durch Stereotype verbauten Rezeption Linds in Österreich plädierte Doll für den ab 1969 nur noch auf Englisch schreibenden Lind, der die Frage, warum er nicht mehr in seiner Heimat lebe kurz und knapp zu kontern wusste: „Weil ich nicht muss.“ Doll hob hervor, dass Lind – der weder in einem Lager interniert worden war noch in einer der Alliierten Armeen kämpfte – Zustimmung zu seinem Selbstporträt vor allem dafür erhielt, seinen Stil zugunsten realistisch anmutender Erzählformen umgestellt zu haben – was am Anliegen Linds leider vorbeiging. Nach seiner Intention sollte der Text neben der dokumentarischen Funktion vor allem als ein kritischer Aufruf zum Zionismus verstanden werden, worüber auch die Anklagen gegen Juden, die keinen Widerstand leisteten, in einen weiteren Kontext rückten.

KORNÉLIA PAPP (Budapest/Berlin) sprach zur Entspannung der Kulturpolitik im Ungarn der 1960er-Jahre. U.a. verwies sie auf Lukács' 1964 erschienenes Solschenizyn-Buch, das zwar für den Behandelten selbst kaum Erleichterungen brachte, jedoch für Ungarn einen Meilenstein der Vergangenheitsbewältigung dargestellt habe. Auch die Rehabilitierung Lukács' 1967 und das Auslaufen der Doktrinen vom Sozialistischen Realismus und Parteilichkeit seien zu berücksichtigen, um die Lockerung der literarischen Zensur zu erklären, wodurch Ungarn eine für den Ostblock sehr frühe Verbreitung der klassischen Moderne vergönnt gewesen sei.

ELZBIETA DZIKOWSKA (Lodz) behandelte die Veränderung literarischer Täterdiskurse in Polen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit seien deutsche Figuren funktional als Vertreter des Täter-Kollektivs gebraucht wurden, im Fokus standen dabei Fragen nach der Moral polnischer Protagonisten. Über Differenzierungen in den 1950er-Jahren sei ab den 1960er-Jahen eine Wende zu beobachten, nachzuvollziehen an Kazimierz Brandys „Interview mit Ballmeyer“ und Stanislaw Grochowiaks „Trismus“, in den 1970er-Jahren sei dann ein schockartig wirkender Perspektivenwechsel in Andrzej Jusniewicz' „Eroica“ und Kasimierz Moczarskis Verarbeitung seiner Hafterlebnisse in „Gespräche mit dem Henker“ zu beobachten. Das Zentrum von Moczarskis Text bilden die Gespräche des mit ihm in eine Zelle inhaftierten ehemaligen SS-Generals Jürgen Stroop, der die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto durchführte. Das Buch ist an polnischen Schulen seit 1989 Pflichtlektüre.

Die verschiedenen Themenschwerpunkte des Workshops sowie der gesamten Workshopreihe verdeutlichten, dass sich aus der vergleichenden Untersuchung von veröffentlichter Erinnerung an Faschismus und Krieg in beiden deutschen Staaten nicht nur weitere Untersuchungsfelder ergeben, sondern bisher Festgestelltes zur deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte um neue, z.T. überraschende Perspektiven ergänzt wurde. Die Erweiterung des deutsch-deutschen Blickwinkels um den Umgang mit Erinnerungen in anderen europäischen Ländern zeigt zudem, dass damit nicht nur neue Erzählperspektiven auf das eigene Narrativ wirken, sondern diese den Umgang mit der eigenen Geschichte hinterfragen.

Die Vorträge der dreiteiligen Workshopreihe werden in einem Sammelband veröffentlicht.

Kurzübersicht:

Frank Stern (Wien): Projektionen auf den Eisernen Vorhang. Faschismus, Krieg und Humanismus in „Ich war neunzehn“ und „Goya“

Bill Niven (Nottingham): Willy Brandt, der Warschauer Kniefall und die Hoffnung der Intellektuellen auf einen neuen Umgang mit der Vergangenheit
Elke Scherstjanoi (IfZ): Neue Eiszeit in Moskau
Diskussion – Moderation: Helmut Peitsch

Anne Boden (Dublin): Die Rezeption Paul Peikerts „Festung Breslau“ in Ost- und Westdeutschland
Joanne Sayner (Birmingham): Erinnerung an den Widerstand, Erinnerung an den Holocaust. Greta Kuckhoff und „Die Rote Kapelle“
Christian Ernst (Potsdam): „Abschied von einem Mythos?“ Debatten um die Weiße Rose um 1969
Diskussion – Moderation: Heiko Christians

Kathryn Jones (Swansea): Der kritische Reisende. Günter Kunert über die Gedenkstätten Buchenwald, Dachau und Mauthausen
Axel Schalk (Potsdam): Alfred Matusches „Regenwettermann“ und „Das Lied meines Weges“
Diskussion – Moderation: Irmela von der Lühe

Jan Kostka (Potsdam): Vergangenheitsbewältigung auf dem Schießplatz? Die Heeresversuchsstelle Kummersdorf in der Reportage „Der verbotene Wald“ (1966) und dem Roman „Michael“ (1971) von Klaus Schlesinger
Witold Bonner (Tampere): Krieg und Faschismus um 1969 in Briefen und Tagebüchern von Autoren aus der DDR
Diskussion – Moderation: Justus Fetscher

Sylke Kirschnick (Potsdam): Anne Franks „Tagebuch“ im Wahrnehmungstief. Ein Rückblick auf die erste und ein Ausblick auf die zweite Rezeptionswelle
Ulrike Schneider (Potsdam): Es gibt keine gemeinsame Perspektive auf die Vergangenheit. Jean Améry und der „Generationskamerad“ Hans Egon Holthusen
Günter Agde (Berlin): DDR-Jugendliche als Rezipienten von „Ich war neunzehn“. Die Bisky/Netzeband-Studie des Leipziger Instituts für Jugendforschung 1969.
Diskussion – Moderation: Wolf Kaiser

Jürgen Doll (Paris): Jakov Linds „Selbstporträt“
Kornélia Papp (Budapest/Berlin): Die ungarische Kulturpolitik der 60er Jahre am Beispiel des Buchmarktes des Jahres 1969
Elżbieta Dzikowska (Łódź): Gespräche mit dem Henker. Zum Täter-Diskurs in der polnischen Literatur um 1968
Diskussion – Moderation: Christoph Kopke

Filmmatinee
„Landschaft nach der Schlacht“ (Polen, 1970) von Andrzej Wajda
Gespräch zum Film mit Jabłkowska (Łódź), Günter Agde (Berlin), Dr. Frank Stern (Wien)
Moderation: Andrea Genest (ZZF)