Im Terminkalender von Gedenkstättenpädagogen, Mitarbeitern aus der Jugend- und Erwachsenenbildung oder Vertretern von Geschichtsvereinen hat die „Werkstatt Geschichtsarbeit und historisch-politisches Lernen zum Nationalsozialismus“ schon lange einen festen Platz sicher. Seit 1998 treffen sich die Multiplikatoren jedes Jahr im November, um sich über aktuelle Forschungsfragen, neue Veranstaltungs- und Bildungsprojekte sowie Methoden bei der Vermittlung historischen Wissens auszutauschen. Veranstaltungsort für die dreitägige Werkstatt war 2008 das DGB-Tagungszentrum in Hattingen. Organisiert wurde die Veranstaltung wie bereits in den Jahren zuvor vom Bildungswerk der Humanistischen Union NRW in enger Kooperation mit dem Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in NRW und dem Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher.
Das Oberthema der diesjährigen Werkstatt lautete „Täterforschung und die Auseinandersetzung mit der Generation der Täter“. Nach einleitenden Worten durch PAUL CIUPKE und NORBERT REICHLING (Bildungswerk der Humanistischen Union NRW, Essen), eröffnete FRANK BAJOHR (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg) den ersten Sitzungsabend mit einem Vortrag zum Thema NS-Täterforschung. Der Experte zog eine Zwischenbilanz zu diesem relativ neuen Zweig der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts und stellte anschließend zukünftige Forschungsschwerpunkte zur Diskussion. Erst seit 15 Jahren, so konstatierte er, gibt es eine ernstzunehmende Forschung über Täter. Zuvor seien die Narrative von Gesellschaft und Forschung lange von den Motiven geprägt gewesen, „Zonen der Anständigkeit“ auszumachen und die NS-Verbrechen so genannten „Bestien“ zuzuschreiben. Bajohr sah zur Erklärung der Täterschaft vor allem drei Referenzrahmen: erstens die Ideologie, zweitens den Handlungskontext und seinen institutionellen Hintergrund und schließlich die Handlungssituation, die unter anderem von Gruppendruck und Kameradschaftsgeist geprägt war. Und wie bei den vergeblichen Versuchen, so genannte „Rettertypen“ zu identifizieren, gebe es auch für Täterschaft immer unsystematische, situative und milieuspezifische Momente zu berücksichtigen.
Am Morgen des darauf folgenden Hauptveranstaltungstages standen für die Teilnehmer drei Workshops zur Auswahl, in denen sie sich sowohl am Vor- als auch am Nachmittag schwerpunktmäßig mit einem Thema auseinander setzten:
HILDEGARD JAKOBS (Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf) richtete als Leiterin der Arbeitsgruppe „Recherchieren und Lernen im Netz“ den Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten des Internets. Historiker nutzen heute immer mehr das breite Angebot im World Wide Web, in dem inzwischen eine Vielzahl an Datenbanken, Informationsportalen sowie Literatur- und Archivkatalogen frei zugänglich zur Verfügung stehen. Ein besonders herausragendes Beispiel für die neuere Erschließung digitalisierter Quellen stellte hier ANNETTE HALLER (Germania Judaica, Köln) mit dem Portal „compactmemory“ vor, das Hunderte jüdischer Zeitungen und Zeitschriften online zugänglich macht. Das Internet entwickelt sich so immer mehr zum beinahe unverzichtbaren Hilfsmittel auch für den Geschichtswissenschaftler, der häufig in der Öffentlichkeit nur für seine Arbeit in Archiven und Bibliotheken bekannt ist.
Unter der Leitung von PAUL CIUPKE und WULFF BREBECK (Kreismuseum Wewelsburg) wurden im zweiten Workshop Vergangenheit und Zukunft der Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen erörtert. Dabei schaute Paul Ciupke zunächst zurück und berichtete über die Anfangszeit der heute so vielfältigen Gedenkstättenlandschaft in NRW. Erst seit Beginn der 1980er-Jahre wurden hier, wie auch im übrigen westdeutschen Bundesgebiet, viele der nun etablierten Dokumentationszentren, Begegnungsstätten und Lernorte gegründet. Perspektiven für die Zukunft zeigten dann Wulff Brebeck und CLEMENS HEINRICHS (Gedenkhalle Schloss Oberhausen). Sie stellten den Teilnehmern ihre viel versprechenden Neukonzeptionen für kommende Dauerausstellungen in Wewelsburg und Oberhausen vor.
Die dritte Gruppe versammelte sich um ALFONS KENKMANN (Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in NRW und Universität Leipzig), und ELISABETH KOHLHAAS (Universität Leipzig). Unter dem Titel „Frühe Überlebensberichte aus den Sammlungen der jüdisch-historischen Kommissionen 1943-1948: Vorstellung einer Quellenedition und pädagogischen Nutzungsmöglichkeiten“ vermittelten sie in ihrem Workshop, wie mit Zeitzeugenberichten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit auch in der pädagogisch-didaktischen Arbeit umgegangen werden kann. Anfang des Jahres hatten die beiden Wissenschaftler gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau und dem Verein „Gegen Vergessen - für Demokratie e.V.“ das Buch „Kinder über den Holocaust“ herausgegeben. Die dort erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Interviews mit jüdischen Kindern aus Polen, die direkt nach dem Ende der Besatzungszeit befragt wurden, bieten ein beeindruckendes und gleichzeitig erschreckendes Bild von Drangsalierungen, Angst und Verfolgung, mutiger Rettung, aber auch verweigerter Hilfe. Bevor Anfang 2009 eine didaktische Handreichung zu der Quellenedition im Handel erscheinen wird, erläuterten Kenkmann und Kohlhaas nun schon einmal den anwesenden Teilnehmern, wie die Berichte in der historisch-politischen Bildungsarbeit eingesetzt werden können.
Unterbrochen wurden die Workshops am Mittag von einer Führung durch den Stadtkern des Tagungsortes. Stadtarchivar THOMAS WEISS (Hattingen) widmete sich in seinem Rundgang der NS-Vergangenheit Hattingens und wusste an einigen Stellen erinnerungspolitische Kontroversen und kuriose Anekdoten über die ehemals „braune Stadt im Ruhrgebiet“ zu berichten. So befindet sich beispielsweise noch heute eine Tafel mit Worten aus Hitlers Hetz- und Propagandaschriften an einem denkmalgeschützten Haus der Stadt.
Zum Abschluss des zweiten Werkstatttages zeigten die Veranstalter die Dokumentation „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“. MALTE LUDIN (Berlin), Regisseur und Autor des Films, beschäftigt sich darin mit der familiären Erinnerung an seinen Vater Hanns Ludin. Als Vertreter des NS-Regimes in der Slowakei hatte der Vater an den Deportationen von Juden mitgewirkt und war nach Kriegsende 1947 hingerichtet worden. Jahre später bemühte sich schließlich der Sohn darum, diese Geschichte und ihre Spuren, die sie im Leben der Familie hinterlassen hatte, aufzuarbeiten. Durch Gespräche zwischen den Familienmitgliedern, durch Sichten von Dokumenten aus der Vergangenheit ist dem Filmemacher ein zum Nachdenken anregendes Werk gelungen. Da Malte Ludin in Hattingen selbst anwesend war, erfuhren die Tagungsteilnehmer im Anschluss noch einige Hintergründe zur Entstehung und Wirkung des Films, so dass sich zum Ende des Tages noch einmal eine sehr anregende Diskussion entwickelte.
Auf dem Programm für den letzten Sitzungstag stand zu Beginn traditionell eine Projektbörse mit Plänen, Praxisberichten und Nachrichten aus Geschichtsvereinen, Gedenkstätten und Initiativen. SUSANNE ABECK (Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher, Dortmund) übernahm die Moderation der Runde, bei der auch in diesem Jahr wieder eine breite Palette an neuen Projekten präsentiert wurde: So berichtete unter anderem RALF MEINDL (Stadtmuseum Lüdenscheid) über eine kommende Ausstellung zur Zwangsarbeit in Lüdenscheider Zuliefererbetrieben. Auf den Spuren einer Düsseldorfer Widerstandsgruppe bewegte sich HILDEGARD JAKOBS zusammen mit einer Gruppe von Hauptschülern. Bei dem Projekt unter dem Titel „Weg der Befreiung“ entstand eine historische Fahrradtour durch die Straßen der Landeshauptstadt. Nicht zurück, sondern auf die Gegenwart richtet sich dagegen der Blick des Vereins „Jugend für Dora“. Seit 1995 suchen seine Mitglieder den Kontakt zu ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora. BRITA HEINRICHS (KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, Nordhausen) schilderte, wie die Zeitzeugen in der heutigen Gedenkstätte in Nordhausen betreut und nach ihren Vorstellungen für den zukünftigen Umgang mit dem historischen Ort befragt werden. Wie jeder Einzelne neuen rechtsextremistischen Tendenzen in der heutigen Gesellschaft begegnen kann, erläuterte MICHAEL STURM (Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster). Zusammen mit dem Pädagogen Heiko Schreckenberg unterstützt der Historiker Sturm seit Oktober dieses Jahres Initiativen, Vereine, Schulen, Kommunen und engagierte Bürger, die mit Rechtsextremismus in all seinen derzeitigen Ausprägungen in Berührung kommen. Mit der neu gegründeten „Mobilen Beratung im Regierungsbezirk Münster gegen Rechtsextremismus, für Demokratie (mobim)“ stehen sie bei ganz konkreten Problemen und Fragen jedem Hilfesuchenden unbürokratisch und kostenlos zur Seite.
Den Schlusspunkt der Geschichtswerkstatt setzte schließlich der Historiker ALEXANDER VON PLATO (FernUniversität Hagen). Der weltweit angesehene Experte im Forschungszweig der „Oral-History“ stellte in seinem Vortrag die Ergebnisse des „internationalen lebensgeschichtlichen Dokumentationsprojekts zur Sklaven- und Zwangsarbeit“ vor. Zu Anfang stand die Frage danach, wer überhaupt Zwangsarbeit geleistet hat und was Zwangsarbeit im Nationalsozialismus war. Entgegen den üblichen Vermutungen sei man bei Zeitzeugen der Sklavenarbeit auf ein erstaunlich präzises Faktenwissen gestoßen; die meist lebenslange Stigmatisierung aufgrund dieser Lebensphase und die jüngere Auseinandersetzung mit den Entschädigungsfragen hat sicherlich dazu beigetragen. Von Plato berichtete von einer enormen Vielfalt an Formen und Schicksalen der rund 13,5 Millionen Betroffenen und zugleich vom Fehlen einer Erinnerungskultur an Zwangsarbeit in vielen Ländern und Gesellschaften, aber auch im internationalen Kontext. Im Kontrast zu den Holocaust-Opfern sind die Erfahrungen der Zwangsarbeiter/innen nicht als kollektive in internationalen Diskursen präsent, sondern in die jeweiligen nationalen Erzählungen eingemeindet worden.
Wie auch in den vergangenen Jahren zogen die Teilnehmer am Ende ein sehr positives Resümee zu der dreitägigen Veranstaltung. Das Konzept, eine Mischung aus Vorträgen, Workshops, Tagungspunkten mit Ortsbezug und einem Informationsaustausch über aktuelle Projekte, hat sich schon lange mehr als bewährt. Für die kommenden Male denken die Veranstalter nun über eine Ausweitung des Themenspektrums nach. Möglich wäre, die Tagung verstärkt für Aspekte der jüdischen Geschichte in Deutschland, für Vergleiche über unterschiedliche Erfahrungen in Diktaturen oder Projekten der Geschichtsarbeit zum gesamten 20. Jahrhundert zu öffnen. Auch für das nächste Jahr sollten Interessierte also schon einmal einen Platz in ihrem Terminkalender für die zweite Novemberhälfte freihalten.
Konferenzübersicht:
Paul Ciupke / Norbert Reichling (Bildungswerk der Humanistischen Union NRW, Essen): Begrüßung und Einführung
Frank Bajohr (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg):
Vortrag „NS-Täterforschung - eine Zwischenbilanz“
Workshop 1:
Hildegard Jakobs (Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf) / Annette Haller (Germania Judaica, Köln): Recherchieren und Lernen im Netz (Theorie und Praxis)
Workshop 2:
Paul Ciupke / Wulff Brebeck (Kreismuseum Wewelsburg): Vergangenheit und Zukunft der Gedenkstätten in NRW
Workshop 3:
Alfons Kenkmann (Arbeitskreis NS-Gedenkstätten NRW, Münster / Universität Leipzig) / Elisabeth Kohlhaas (Universität Leipzig): Frühe Überlebensberichte aus den Sammlungen der jüdisch-historischen Kommissionen 1943-1948: Vorstellung einer Quellenedition und pädagogische Nutzungsmöglichkeiten
Malte Ludin (Berlin):
Filmvorführung „2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß“ – eine filmische Dokumentation über Hanns Ludin und anschließendes Gespräch mit dem Autor
Projektebörse – Pläne, Kurzberichte und Nachrichten aus Vereinen, Gedenkstätten, Initiativen und Geschichtswerkstätten
Moderation: Susanne Abeck (Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher, Dortmund)
Alexander von Plato (FernUniversität Hagen):
Vortrag „Es war moderne Sklaverei“. Ergebnisse eines internationalen lebensgeschichtlichen Dokumentationsprojekts zur Sklaven- und Zwangsarbeit