Produktion von Kultur. Deutsch-französisches Kolloquium

Produktion von Kultur. Deutsch-französisches Kolloquium

Organisatoren
Forscherverbund „Produktion und Materialität“ der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2008 - 07.11.2008
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Von
Saskia Werth, Seminar für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Am 6. und 7. November 2008 veranstaltete der Forscherverbund Produktion und Materialität der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Vittoria Borsò, Andrea von Hülsen-Esch, Reinhold Görling, Hans Körner, Achim Landwehr, Timo Skrandies und Jürgen Wiener) das zweitägige deutsch-französische Kolloquium „Produktion von Kultur“.

Den Auftakt zur Tagung gaben nach der Begrüßung durch die Sprecherin des Forscherverbundes, ANDREA VON HÜLSEN-ESCH, sowie den Prodekan der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität, HANS THEO SIEPE, drei aufeinander folgende Impulsreferate der Initiatoren: Basierend auf Zitaten aus Charles Baudelaires „Du travail journalier et de l´inspiration“ lieferte VITTORIA BORSÒ zunächst Denkanstöße zu künstlerischen Arbeits- und Produktionsprozessen, in denen – mit Baudelaire – die Inspiration nicht länger von der materiellen Arbeit getrennt, sondern dezidiert als liaison gedacht wird. REINHOLD GÖRLING reflektierte transdisziplinär die Begriffe „Kultur“ und „Produktion“, deren „provokante“ Verknüpfung als „Produktion von Kultur“ sowie den eng mit dieser Wendung verbundenen Performance-Begriff, bevor er die während der Tagung im Fokus stehenden Themenbereiche Ästhetik, Werte, Topografie und Kulturwirtschaft vorstellte. Letztere beleuchtete Andrea von Hülsen-Esch im Anschluss daran aus französischer Perspektive, indem sie die Frage stellte: „Welche Rolle spielen unsere Themenfelder im Nachbarland Frankreich?“ Dass sich die Formen von „Produktion von Kultur“ jenseits des Rheins teilweise signifikant von den hiesigen unterscheiden, zeigt sich nicht nur in der „éducation artistique“, die in Frankreich schon von der Grundschule aufwärts beginnt; ebenso wenig ist die französische „industrie créative“ mit der deutschen „Kulturwirtschaft“ vergleichbar.

Themenfeld „Ästhetik“

Mit ihrem unkonventionellen, performativen Vortragsstil setzten der Medien- und Kulturwissenschaftler TIMO SKRANDIES (Düsseldorf) und die Tänzerin und Choreographin GUDRUN LANGE (Düsseldorf) neue Maßstäbe: Die ihnen zur Verfügung stehenden 90 Minuten Vortragszeit (inklusive Diskussion) schnitten die beiden buchstäblich in Zeitstreifen (beispielsweise „Struktur“, 6 Minuten oder „Gespräch“, 8 Minuten), die von ihren eigenen sowie von Wortbeiträgen des Publikums gefüllt wurden. Durch abwechselndes Ziehen von Zeiteinheiten – von Seiten der Referenten bzw. des Publikums – ergab sich eine zufällige Vortragsstruktur, die Spontaneität und Improvisation der Referenten erforderte. Während sich Timo Skrandies auf „akademischere“ Art und Weise in kurzen Beiträgen den Definitionen von „Labor“, „Tanz“ oder „Performance“ näherte, gab Gudrun Lange einen lebendigen „Arbeits-Bericht“ des von ihr inszenierten Tanzstückes „skillz / no skillz“, in den sie ebenso Video- wie auch eigenes Bewegungsmaterial mit einfließen ließ.

Anhand ausgewählter Beispiele aus der französischen sowie internationalen Filmgeschichte zeichnete BEATE OCHSNER (Konstanz) in ihrem reich mit Filmmaterial bebilderten Vortrag das „Image“ (Bild) des kinematographischen Paris nach. Als eine der am häufigsten gefilmten Städte der Welt wird Paris im Bild zur „Stadt der Verführung und Liebe“ verklärt, die den Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Moderne meistert, und wird als solche von der französischen Filmkultur geschickt als Marketingwerkzeug instrumentalisiert. In diesem Sinne fragte der Beitrag nach der kulturellen Funktion des „Bildes“ von Paris, als einem sich immer wieder neu erfindenden Produkt des Filmlandes Frankreich.

In seinem höchst eindrucksvollen Beitrag gab der Intendant und Regisseur ULRICH GREB (Schlosstheater Moers) Einblick in die Arbeit seines Stadttheaters in Moers – des Kleinsten in Deutschland. Dass er und sein Ensemble dort jedoch wirklich Großes leisten, wurde aus der Schilderung der ebenso konzeptionell wie künstlerisch ungewöhnlichen Produktionen deutlich, bei denen oftmals aus den Grenzen des Bühnenraums ausgebrochen, Orte in der Stadt eingenommen und deren Bürger ins künstlerische Geschehen mit einbezogen wurden. Projekte zu den Themen „Demenz“ und „Armut“, mit denen das Stadttheater über die künstlerische Arbeit hinausgehend ein Forum gesellschaftspolitischer Diskurse darstellte, stellten das Ensemble vor neue Herausforderungen. Mit Erfolg: Die ungewöhnlichen Produktionen, in denen Greb das von ihm propagierte „Theater als Kunst des Augenblicks“ umsetzt, schärfen in der direkten Konfrontation mit den Menschen der Stadt nicht nur den Blick für die eigenen Produktionsweisen, sondern bieten ein durchaus zukunftsweisendes Modell des Stadttheaters, das so wieder zum kulturellen Zentrum einer Stadt werden kann.

Themenfeld „Werte“

Ausgehend von der Etymologie und Semantik der Begriffe „Wert“ und „valeur“ verfolgte der Vortrag von JEAN-CLAUDE SCHMITT (Paris) die Verbindung des Wertes mit moralischen Qualitäten; diese sind zwar erst im 19. Jahrhundert nachweisbar, dennoch wurden bereits im Mittelalter bspw. „Ritterliche Tapferkeit“, „Schönheit“ (Walter von der Vogelweide) oder „Nützlichkeit“ (Bernhardin von Sienna) als Tugenden durchaus positiv „bewertet“, wie Jean-Claude Schmitt deutlich machte. Angesichts der historischen Dimension wird offenbar, dass Werte ebenso dauerhaft wie kurzlebig sein können; der Vortrag spürte folgerichtig den Fragen nach, was einen Wert ausmacht, wie dieser entsteht und welche Faktoren die Produktion von Werten begünstigen bzw. zu einer Veränderung von Werten führen, die heute längst nicht nur von politischer, sondern ebenso von kultureller Relevanz sind, bzw. vom kulturellen Sektor selbst produziert werden.

Der Vortrag von JÜRGEN RITTE (Paris) richtete den Blick auf den Diskurs um eine kulturelle Identität (indentité narrative) auf jeweils französischer und deutscher Seite; konkret stellte er die Frage, „wie ‚französisch’ ist die deutsche, wie ‚deutsch’ die französische Kultur?“, wobei er in den Diskurs neben Geschichtswissenschaft und Literatur alle Formen der ‚Kulturproduktion’ selbstverständlich mit einschloss. Anhand einiger Beispiele aus der Bildenden Kunst – allen voran das Vercingétorix-Denkmal von F.A. Bartholdi (1903) – zeigte Ritte, welche „diskursiven Mechanismen“ eine bestimmte Form von Kulturproduktion begünstigen können.

In seinem anthropologisch ausgerichteten Abendvortrag verlagerte JEAN-MARIE SCHAEFFER (Paris) den Schwerpunkt von der Untersuchung kultureller Erscheinungsformen und Inhalte auf deren Schöpfung/Aneignung (création), Vermittlung (transmission) und Verbreitung (diffusion). Kultur im Entwicklungszusammenhang biologischer Lebensformen begreift Schaeffer als „nicht-genetisches Mittel“, um zwischen Menschen zu kommunizieren und Informationen weiterzugeben. Da es eben nicht genetisch vererbt werden kann, ist ein kulturelles Phänomen per se Resultat eines Lernprozesses, bei dem die Sprache einen zentralen Stellenwert einnimmt. Schaeffer nannte unterschiedliche Transmissionsformen, durch die die erlernten kulturellen Inhalte wiederum weitergegeben werden können, von denen er die „absteigende oblique Transmission“ als am besten zur kulturellen Vermittlung geeignet herausstellte. Die Transmission von Kultur, so Schaeffer, ermöglicht ihre Evolution. Abschließend beschrieb er das Phänomen des Kulturtransfers zwischen zwei Gesellschaften und die damit einhergehende geografische Bewegung und Verbreitung von Kultur, die er als „diffusion“ bezeichnete. Damit rundete er sein überzeugendes „Modell kultureller Dynamik“ ab, doch nicht ohne zu betonen, wie substanziell Kultur an ihren Träger, das biologische Individuum, gebunden und somit von dessen Reproduktion abhängig ist.

Den zweiten Kolloquiumstag eröffnete das Referat von DOMINIC OLARIU (Paris), mit dem er sich aus kunsthistorischer Perspektive einer weiteren Facette von Werten zuwandte, und dieses Themenfeld abschloss: Die Ähnlichkeit zur abgebildeten Person stellte schon im Spätmittelalter einen Wert in der Portraitkunst dar, so äußerte Thomas von Aquin um 1265 zur Ähnlichkeit: „ein Bild kann als schön bezeichnet werden, wenn es etwas perfekt wiedergibt, auch wenn der dargestellte Gegenstand selbst häßlich ist“. Anders jedoch als in der Renaissance ging es hier zunächst um ein Verständnis von Ähnlichkeit als Wert, das die Tugendhaftigkeit des Dargestellten in den Vordergrund rückte; der Körper oder seine bildliche Repräsentation wurde nicht um seiner selbst willen dargestellt, sondern verkörperte eine Idee, einen Rechtsanspruch oder eine gesellschaftliche Autorität. Dieses ‚Sinnbild’ stand stellvertretend für das, was sich sonst der Anschauung entzog und nur gedacht werden konnte.

Themenfeld „Topografie“

ROGER PERRINJAQUET (Rennes/Paris) beschrieb in seinem Vortrag das spezifisch französische Phänomen der „Periurbanisierung“, der Stadtrandbebauung, das sich in Vorstädten und ländlichen Regionen Frankreichs abzeichnet; dieses ist durch architektonische Ausprägungen charakterisiert, die den Einfluss bestimmter kultureller Stereotypen erkennen lassen. In vergleichbarer Weise wie die standardisierten Konsumtempel (Ikea, Carrefour oder McDonald´s) gliedern sich auch die Wohngebiete von Stadtrandbezirken häufig als „urbanes Franchising“. Die Besiedelung durch stereotypisierte Hypermärkte sowie durch zigfach reproduzierte Einfamilienhäusern im „Neo-Regionalstil“ führt zur Herausbildung eines „kulturellen Feldes“ der besonderen Art; in ihrem Erscheinungsbild als „Mischlandschaft“ wirkt die französische Stadtrandbebauung letztlich in ihrer Diversität wieder homogen.

Leider mussten die Beiträge von ERASMUS ELLER (Düsseldorf) sowie von KUNIBERT WACHTEN (Aachen) zum Themenfeld „Topografie“ krankheitsbedingt kurzfristig entfallen. Eine intensive Diskussion im Anschluss an den Vortrag von Roger Perrinjaquet, die von JÜRGEN WIENER moderiert wurde, konnte dieses Desiderat jedoch produktiv auffangen.

Themenfeld „Kulturwirtschaft“

Den Einstieg in das Themenfeld „Kulturwirtschaft“ machte der Künstler JOCHEN GERZ (Paris-Co. Kerry, Irland) mit einem spannenden Bericht über sein Kunstprojekt „2-3 Straßen“, das er als „gesellschaftlichen Prozess“ begreift. Anfang 2010 werden für ein Jahr zwei bis drei Straßen in drei ausgewählten Städten des Ruhrgebiets zu einer Ausstellung, bei der es keine Betrachter gibt – nur Teilnehmer. Die Bewohner der Straßen bleiben in ihren Wohnungen, neue Bewohner kommen hinzu, die sich auf Zeitungsanzeigen hin bewerben können, um für die Dauer der Ausstellung dort zu logieren. Zusammen sollen alle Bewohner von „2-3 Straßen“ gemeinsam durch miteinander verlinkte Laptops an einem Text schreiben, der ohne inhaltliche Vorgaben als Produktion aller entstehen und anschließend von einem renommierten Verlag publiziert wird. Mit „2-3 Straßen“ wird ein Kulturbegriff erprobt, der konventionelle Grenzen durchbricht, und die „Bewegung von jedem und allen in eine Kultur hinein“ propagiert.

Im Kontrast zu Jochen Gerz als Kulturschaffendem leistete der Kulturstaatssekretär HANS HEINRICH GROSSE-BROCKHOFF (Düsseldorf) schließlich aus Sicht des Politikers seinen Beitrag zum Thema Kulturwirtschaft und fragte nach der „Leistung“ von Kunst und Kultur für die Gesellschaft und danach, wie viel der Gesellschaft heute noch diese „Leistung“ wert sei. Eine gewisse Ambivalenz im Verhältnis des Politikers zu Kunst und Kultur war durchaus spürbar, entscheidet er doch über Fördergelder und hat somit auch immer den möglichen Gewinn bzw. ein Scheitern vor Augen. Grosse-Brockhoff betonte dennoch, dass er bereit sei, bei der Förderung von Kultur Risiken einzugehen; als Beispiel nannte er das Projekt „2-3 Straßen“ von Jochen Gerz – ein, wie er betonte, sehr teures Projekt. Gerade auch an der kulturellen Förderung von Kindern und Jugendlichen wolle er nicht sparen; besonders junge Menschen müssten im Laufe ihres Bildungsweges viel stärker mit Kunst und Kultur, mit ästhetischer Sinneswahrnehmung, in Berührung kommen, so der Staatssekretär. „Jedem Kind ein Instrument“ nannte er als ein zukunftsweisendes Modell, mit dem unter anderem das Land NRW die kulturelle Bildung im Rahmen der Kulturhauptstadt Essen 2010 fördert.

Im Anschluss an alle Vorträge gab es für das Publikum die Möglichkeit, sich aktiv in die Diskussion einzubringen, was zu wertvollen Wortbeiträgen und einer allgemeinen produktiven Arbeitsatmosphäre führte, die auch in den Kaffeepausen nicht abbrach, in denen in Einzelgesprächen Gedanken zum Tagungsthema vertieft werden konnten und ein intensiver Austausch praktiziert wurde.

Zum runden Abschluss des zweitägigen Kolloquiums führte die von Vittoria Borsò moderierte Podiumsdiskussion, die mit Sicherheit einen der Höhepunkte der Veranstaltung darstellte: In kurzen Statements stellten HUBERTUS VON AMELUNXEN (Berlin), HORST BREDEKAMP (Berlin), Jochen Gerz und Jean-Claude Schmitt (Jean-Hubert Martin (Paris) musste leider kurzfristig absagen) noch einmal von ihrem jeweils individuellen Standpunkt aus essentielle Aspekte der „Produktion von Kultur“ vor. Zentrale Inhalte der vorangegangenen Vorträge wurden in der Runde resümiert, kommentiert und diskutiert und auf diese Weise gemeinsam Fazit gezogen von zwei intensiven und für alle Beteiligten arbeitsreichen Tagen, über die Vittoria Borsò schließlich treffend bilanzierte: „Das ist Produktion von Kultur“.

Konferenzübersicht:

Impulsreferat
Vittoria Borsò, Reinhold Görling, Andrea von Hülsen-Esch (Düsseldorf)

Themenfeld Ästhetik
„Die Ästhetik des Offenen: Im Labor arbeiten?“
Timo Skrandies (Düsseldorf)
Arbeits-Bericht: „skillz / no skillz“ – Struktur, Prozess, Bewegung
Gudrun Lange (Düsseldorf)

„’L´Exeption cinémathographique’ – oder: Französische Filmkultur“
Beate Ochsner (Konstanz)

„Bäume mitten im Wald. Theater und Realität – ein Grenzganz“
Ulrich Greb (Moers)

Themenfeld Werte
„Welche Geschichte der Werte?“ Jean-Claude Schmitt (Paris)

„Narrative Identität und Kulturproduktion: Beispiele aus der Frühzeit der `Troisième République`“ Jürgen Ritte (Paris)

Abendvortrag
„De quelques formes de création, transmission et diffusion culturelles“
Jean-Marie Schaeffer (Paris)

„Kann häßlich schön sein? Zur Ähnlichkeit als Wert im Bildnis“ Dominic Olariu (Paris)

Themenfeld Topographie
„La périurbanisation sous l´emprise de stéréotypes culturels“
Roger Perrinjaquet (Rennes, Paris)

„Architektur als Kulturraum“ Erasmus Eller (Düsseldorf)

„Umdeutungen – neue Bilder einer Stadtlandschaft“
Kunibert Wachten (Aachen)

Themenfeld Kulturwirtschaft
„2-3 Straßen“
Jochen Gerz (Paris, Co.-Kerry)

„Vom Kulturgut zum Wirtschaftsgut? Oder: Warum Künstler tun sollten, was sie tun wollen“ Hans Heinrich Grosse-Brockhoff, (Düsseldorf)

Podiumsdiskussion mit
Hubertus von Amelunxen (Angoulême/Poitiers),
Horst Bredekamp (Berlin),
Jean-Claude Schmitt (Paris)