Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/90

Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/90

Organisatoren
Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR; Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.11.2008 - 26.11.2008
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Von
Anne Wiegmann, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Tagung beschäftigte sich mit der Erforschung der Hintergründe der Friedlichen Revolution von 1989, welche gerade in ihrem 20. Jubiläumsjahr von Interesse ist.

WOLFGANG SCHULLER (Konstanz), der kurzfristig verhindert war, stellte seinen Einführungsvortrag als Manuskript zur Verfügung. In diesem warf er zunächst die Frage auf, wie es im Sommer und Herbst 1989 zu einer so breiten Protestbewegung kommen konnte, nachdem die oppositionellen Gruppen jahrelang unter sich geblieben waren. Er sprach sich gegen die Vorstellung aus, die DDR-Bürger seien eine „stumpfe Menge“ gewesen und nannte als Beleg die zahlreichen Verweigerer von Spitzeldiensten für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Als erste wichtige Daten der Revolution 1989 machte Schuller den 7. und 8. Oktober mit Demonstrationen in Plauen und Dresden und erst danach den 9. Oktober in Leipzig fest. Dem 9. November, dem Tag des Mauerfalls, maß er eine eher untergeordnete Rolle zu. Dialoge mit der Staatsmacht und das Aufdecken von Korruption waren zunächst wichtigere Elemente der Revolution. Schuller spezifizierte die Bedeutung der oppositionellen Gruppen dahingehend, dass sie die Umbruchstimmung der Bevölkerung sichtbar und fassbar machten. Die Existenzberechtigung der DDR wurde zunächst weder von der Partei noch von dem Großteil der Opposition infrage gestellt. Das wandelte sich dann aber rasch. Schuller kam zu dem von ihm bedauerten Schluss, die Friedliche Revolution habe kaum Bedeutung für das vereinigte Deutschland und sei im geschichtlichen Bewusstsein der Bundesrepublik trotz ihrer hervorragenden Eignung als identitätsstiftendes Vorbild nicht verankert.

ILKO-SASCHA KOWALCZUK (Berlin) behandelte in seinem ersten Vortrag die Gesellschaftskrise, in der sich die DDR in den späten 1980er-Jahren befand. Selbst bei den Parteikadern, so Kowalczuk, herrschten zunehmend Zweifel angesichts vieler enttäuschter Hoffnungen. Die wenigen Investitionen kamen immer nur dem Industriesektor zugute. Die Infrastruktur verfiel dagegen zusehends, und auch im Kommunikationssektor herrschte Mangel. Das DDR-Gesundheitssystem stand vor diversen Problemen wie der Knappheit moderner und hochwirksamer Arzneimittel. Die Wohnungssituation war nicht besser, das galt vor allem für den Zustand der Altbauten. Dazu kam die Umweltverschmutzung, die zu vergifteten Flüssen und kahlen Berghängen führte. Die SED subventionierte den Mangel jedoch so weit, dass den Menschen Essen, Trinken und Kleidung geboten wurde, damit sie der SED ihre Macht ließen. Kritik drang in immer weitere Parteikreise vor, und die Jugend, die die Hoffnung für den Sozialismus hatte sein sollen, wurde zu dessen Bedrohung. Anhand einiger Beispiele illustrierte Kowalczuk abschließend, wie viel Unzufriedenheit in der Bevölkerung herrschte. Die gesellschaftliche Krise war 1989 unübersehbar.

Im Anschluss behandelte JENS SCHÖNE (Berlin) die Herausbildung der Opposition in der DDR. Er zeichnete insbesondere die Formierung der Gruppen vor dem Oktober 1989 nach. Dabei wies er sowohl auf das Problem der Definition von Opposition hin als auch auf die Illegalisierung politischer Abweichungen in der DDR. In einer anschließenden Podiumsdiskussion vertrat Ulrike Poppe die Gruppe „Demokratie Jetzt“, Reinhard Schult repräsentierte das „Neue Forum“, Martin Gutzeit die SDP, Ehrhart Neubert den „Demokratischen Aufbruch“ und Gerd Poppe die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM). Moderiert wurde die Diskussion von Sven Felix Kellerhoff.

Es wurden viele Einzelheiten der Gruppengründungen und der Kommunikation der Gruppen im Herbst 1989 beleuchtet. Es zeigte sich, dass die Gründungen meist individuell und ohne genaue Absprache mit den anderen Gruppen vonstattengingen. Trotzdem bestanden persönliche Verbindungen zwischen den Akteuren und einer Kontaktgruppe, die der Opposition manche Impulse gab. Reinhard Schult berichtete, die Gründungsmitglieder des „Neuen Forums“ waren selbst über die vielen Unterschriften überrascht, die im Herbst 1989 gesammelt wurden. Sowohl Ulrike Poppe als auch die anderen Podiumsteilnehmer sahen keine Konkurrenz unter den Gruppen. Die meisten waren lediglich regional organisiert, Ehrhart Neubert berichtete aber von landesweit vernetzten DA-Gruppen. Auch die IFM unternahm laut Gerd Poppe den Versuch, sich mindestens landesweit zu vernetzen. Die Methoden der Gruppen unterschieden sich dahingehend, dass zum Beispiel beim „Neuen Forum“ die Mobilisierung „von der Straße“ überwog, während „Demokratie Jetzt“ Wert auf Programmatik legte.

Es bestanden auch Unterschiede in der Organisation. Selbst eine konspirative Ausrichtung schützte nicht davor, dass Spitzel in die Gruppen gelangten. Zum Teil beeinflusste die Fluchtbewegung die Opposition in dem Sinne, dass sie Druck auf den Staat ausübte. Andererseits wurden die oppositionellen Gruppen durch Ausreisen ständig dezimiert. Die Reaktionen des MfS waren bezeichnend: Verhaftungen wurden vermieden, stattdessen gab es zahlreiche Methoden der Zersetzung. Von Gefahr- oder Sorglosigkeit konnte also keine Rede sein. Programmatisch unterschieden sich die Gruppen: Die SDP sah sich klar in der sozialdemokratischen Tradition, während das „Neue Forum“ und „Demokratie Jetzt“ eine Art Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus anstrebten. Viele Gruppen hofften auf ein neutrales Deutschlands, was jedoch, so Gerd Poppe, schlicht utopisch war.

Im nächsten Abschnitt der Tagung stand der Zeitraum vom 9. Oktober bis 10. November 1989 im Mittelpunkt. KARSTEN TIMMER (Bielefeld) befasste sich mit der Opposition in der Revolution. Wichtigstes Anliegen der oppositionellen Gruppen und der Teilnehmer der Massenproteste war der Kampf um die Öffentlichkeit. Dabei hatten drei Faktoren Bedeutung: So fehlte in der DDR ein intermediäres System, das die Interessen und Unzufriedenheiten der Bürger hätte bündeln und artikulieren können. Dies verhinderte zunächst das Umsetzen der Unzufriedenheit in kollektive Aktion. So wurde in Dresden eine spontan gewählte „Gruppe der 20“ zum Sprachrohr der Demonstranten. Zunächst sollte das Gespräch auf SED-Wunsch privat stattfinden. Schon vom zweiten Gespräch an forderten jedoch so viele Demonstranten den öffentlichen Dialog. Der Druck war so stark, dass der Dialog alsbald von der Opposition ausgerichtet und moderiert wurde. Die unorganisierten Teile der Protestbewegung hätten ohne die Gruppen keine Möglichkeit gehabt, ihre Forderungen zu artikulieren. Schrittweise konnte so eine Öffentlichkeit hergestellt werden, die zur Delegitimation der Machthaber führte, bevor die Machtfrage als solche von der Opposition gestellt wurde. Die Teilnehmer der Demonstrationen und die organisierten Gruppen bildeten also, schloss Timmer, ein gelungenes Aktionsbündnis zur Schaffung demokratischer Strukturen.

Danach befasste sich Ilko-Sascha Kowalczuk mit dem MfS, der SED und den Blockparteien. Bis zum Herbst 1989 hatte die SED-Führung keine Zweifel am Fortbestand der DDR. Es wurde vielmehr die Entwicklung des Sozialismus in den 1990er-Jahren geplant. Reformen wurden abgelehnt, denn die Partei sollte durch den Ausschluß kritischer Mitglieder ideologisch gestrafft werden. Im August 1989 wurden in Reaktion auf die Ausreisewelle drei Handlungsalternativen diskutiert: erstens die sofortige Schließung aller Grenzen, zweitens die Erlassung eines großzügigen Reisegesetzes und drittens die Genehmigung Zehntausender Ausreiseanträge. Auf die Proteste der Bevölkerung wollte man jedoch nicht reagieren, da dieses nur die Opposition gestärkt hätte. Gleichzeitig arbeitete das MfS Internierungspläne für über 80.000 Personen aus und erstellte Pläne für eine Niederschlagung der Proteste. Die Ausreiseerlaubnis für die Botschaftsbesetzer im Oktober sollte der Situation etwas von ihrem Druck nehmen, denn die Parteiführung war handlungsunfähig. Am 9. Oktober, im Vorfeld der Massendemonstration in Leipzig, blieb das Politbüro ebenfalls stumm, sodass bis zuletzt nicht klar war, ob es eine chinesische Lösung, das heißt eine militärische Zerschlagung der Demonstration, geben würde. Die Dialoggespräche dienten aus Sicht der SED dazu, die Proteste auf den Straßen zu verhindern. Die Opposition wurde als illegitim, im Gegenteil sogar als antisozialistisch und imperialistisch bezeichnet. Sowohl der Rücktritt Honeckers als auch der des gesamten Politbüros brachten kaum Veränderungen. Selbst die Grenzöffnung, die für den 10. November geplant war, so schloss Kowalczuk seine Ausführungen, wurde als temporäre Lösung angesehen und hätte nach Ansicht der SED-Führung nur einige Tage dauern sollen.

Auf diese beiden Vorträge folgte eine offene Diskussion unter der Leitung von Helge Heidemeyer. Timmer berichtete, dass in Dresden vor dem Mauerfall tatsächlich nur die „Gruppe der 20“ eine übergeordnete Rolle spielte. Allerdings gab es personelle Veränderungen innerhalb dieser Gruppe. Kontakte zwischen dem „Neuen Forum“ und SED-Reformern bestanden laut Reinhard Schult im September und Oktober nicht. Auch die Legende der Verantwortlichkeit von Egon Krenz für den friedlichen Ablauf des 9. Oktober in Leipzig wurde angesprochen. Kowalczuk betonte, dass das Nichteingreifen eine Entscheidung der Leipziger Funktionäre war, die nur im Nachhinein von Krenz legitimiert wurde. Er erinnerte zudem an den „Aufruf der Sechs“, den auch drei SED-Funktionäre unterschrieben, der Demonstranten und Polizei zur Gewaltlosigkeit aufrief. Des Weiteren wurde das Zusammenspiel zwischen Opposition und Demonstranten diskutiert, insbesondere die Rolle der Westmedien in diesem Prozess. Sie waren für die meisten DDR-Bürger die einzige Informationsquelle über die Opposition. Auch über die Demonstrationen wurde - oft mit zahlenmäßigen Übertreibungen - hauptsächlich in den Westmedien berichtet.

Im nächsten Abschnitt wurde der „Weg zum Runden Tisch“ zwischen dem 10. November und dem 7. Dezember behandelt. Auf einen Vortrag von RAINER ECKERT (Leipzig) über die Neuformierungen der alten und neuen Gruppierungen nach dem Mauerfall folgte wieder eine Diskussion. Eckert stellte die Überwindung der Zersplitterung der Opposition durch die Bildung einer Kontaktgruppe heraus. Diese Kontaktgruppe fasste ein Wahlbündnis ins Auge, allerdings zeichneten sich deutliche Meinungsunterschiede zwischen den Gruppen ab. In der Diskussion kam die Frage nach der Gründung rechtsextremer Parteien im Herbst 1989 auf. Laut Eckert gab es insgesamt zwischen 30 und 40 Parteigründungen, einige davon rechtskonservativ, jedoch keine rechtsextrem. Weiter kamen die ungleichen Chancen im Wahlkampf 1990 zur Sprache. Die neuen Parteien verfügten weder über Geld noch die entsprechende Infrastruktur. Die SED-PDS dagegen konnte auf das alte Parteivermögen zurückgreifen. Die „Allianz für Deutschland“ nutzte die Logistik der CDU-Blockpartei. Das Hauptanliegen der DDR-Bürger schien die Teilhabe am westdeutschen Wohlstand zu sein.

Am nächsten Tag stand zunächst die „Arbeit am Zentralen Runden Tisch bis Februar 1990“ im Vordergrund. WALTER SÜß (Berlin) berichtete über die alten Parteien, danach ging WOLFGANG TEMPLIN (Berlin) auf die der Opposition ein. Süß machte deutlich, dass die SED, die vor dem Mauerfall teilweise zu einer Politik des Dialogs bereit gewesen war, sich durch die Inkompetenz ihrer Vertreter am Runden Tisch noch mehr delegitimierte. Gleichzeitig grenzten sich die Blockparteien von der SED ab. Templin stellte heraus, dass es häufig Zufall war, welche Mitglieder der oppositionellen Gruppen sich am Zentralen Runden Tisch wiederfanden. Er sprach sich dafür aus, die Vertreter am Runden Tisch als „historisch legitimiert“ zu bezeichnen. Der Runde Tisch war eine Übergangslösung, um Voraussetzungen für demokratisch legitimierte Institutionen zu schaffen.

MARTIN GUTZEIT (Berlin) ging in seinem Vortrag auf den Sonderfall der SDP/SPD ein. Ende November/Anfang Dezember 1989 ergaben sich für die Partei neue Perspektiven. Der vor dem Mauerfall erarbeitete Zeitplan war nicht mehr haltbar. Der Runde Tisch diente in den Augen der SDP dazu, den oppositionellen Gruppen Zeit zum Aufbau von Strukturen zu verschaffen und gleichzeitig die SED zur Verantwortung zu ziehen. Parallel führte die Partei Gespräche mit der West-SPD. Auch die Sozialistische Internationale (SI) war hilfsbereit. Die Annäherung an die SPD führte zum Bruch mit anderen Oppositionsgruppen der DDR, mit denen ursprünglich ein Wahlbündnis angestrebt worden war. Die SDP setzte auf die deutsche Einheit und sprach sich für Wahlen im Mai 1990 aus. Innerparteilich gab es allerdings Uneinigkeiten. Anfang Januar 1990 unterschrieb Ibrahim Böhme bei einem Treffen der Oppositionsgruppen ohne Absprache eine Erklärung zum Wahlbündnis. Diese Entscheidung wurde vom SDP-Vorstand revidiert. Eine Regierungsbeteiligung der SDP - ab Januar 1990 SPD - sorgte ebenfalls für Konflikte. Denn laut Gutzeit wuchs der Druck der anderen Oppositionsgruppen auf die SPD, sich an der Regierung zu beteiligen. Schließlich stimmte Böhme Ende Januar 1990 zu. Auf den Vortrag folgte eine offene Diskussion, die Ulrich Mählert moderierte. Dabei kam zur Sprache, inwieweit der Zentrale Runde Tisch 1989/1990 beauftragt war, eine Verfassung zu erarbeiten. Eine andere Frage betraf die Zulassung nichtparteilicher Wahlbündnisse zur Wahl. Auch wurde angemerkt, dass die Arbeit der Bürgerkomitees nur wenig mit der Arbeit des Zentralen Runden Tisches zu tun hatte, da es um regionale Probleme ging.

Danach ging es um die Veränderungen im Hinblick auf die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990. Darüber referierte OSKAR NIEDERMAYER (Berlin). Er betonte, dass das bundesdeutsche Parteienmodell der DDR nicht aufgedrängt, sondern dort gerne angenommen wurde. Auch er kam auf die zersplitterte Opposition und die zunehmende Abgrenzung der Blockparteien zur SED zu sprechen. Die Opposition spaltete sich bei der Frage nach der Wiedervereinigung in zwei Lager. Einen spezielleren Einblick bot danach MICHAEL KOß (Oxford), der sich mit dem Weg der SED zur PDS befasste. Zwischen Dezember 1989 und März 1990 machte er drei Phasen aus: das Scheitern, die Verhinderung des Untergangs und die Konsolidierung. Das Scheitern hatte vor allem externe Gründe, zum Beispiel Demonstrationen, die anderen beiden Phasen gingen jedoch aus der Partei selbst hervor. Vor allem jüngere Mitglieder trugen zum Erhalt der Partei bei. Die Parteiführung wurde ausgetauscht. Im Zuge der Wiedervereinigung wandelte sich die PDS zu einer ostdeutschen Regionalpartei. Auch im Anschluss an diese Vorträge fand eine Diskussion statt, die Gero Neugebauer moderierte.

Der sechste Abschnitt der Tagung hatte die Arbeit in der Volkskammer und die Herstellung der deutschen Einheit zum Gegenstand. GUNNAR PETERS (Rostock) beschäftigte sich mit den alten und neuen Parteien in der Volkskammer. Die Regierung wurde von der SPD-Fraktion und der CDU/DSU/DA -Fraktion getragen. Alte und neue Parteien befanden sich sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Die Zusammenarbeit in den Fraktionen und im Präsidium, den Ausschüssen und dem Plenum war sachlich. Nach den Protokollen der Plenarsitzungen liefen auch die Debatten ruhig und konsensorientiert ab, die Kritik blieb konstruktiv. Ein internes Dokument der PDS-Fraktion zeugt allerdings von hoher Unzufriedenheit und dem Eindruck von der Sinnlosigkeit parlamentarischer Arbeit. Peters kam zu dem Schluss, dass es keinen beherrschenden Konflikt zwischen alten und neuen Parteien in der Volkskammer gab. Nur bei Abstimmungen spielte Parteipolitik eine wichtige Rolle. Die Abgeordneten hatten noch keine Erfahrung mit dem Parlamentarismus gemacht. Sie waren um gegenseitige Achtung bemüht und entwickelten eine Parlamentskultur, die trotz der Ausnahmesituation der ursprünglichen in der Bundesrepublik sehr ähnlich war.

HELGE HEIDEMEYER (Berlin) ging auf das Verhältnis der alten und neuen Parteien zur deutschen Einheit ein. In der Volkskammer gab es dazu sehr unterschiedliche Positionen. Während die DSU den sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik forderte, favorisierten Teile des Bündnis 90 einen Dritten Weg. Die PDS wollte bei einer Vereinigung „Werte“ und „Errungenschaften“ der DDR erhalten wissen. Die SPD setzte sich dafür ein, erst Verträge abzuschließen, bevor der Beitritt erfolgte. Obwohl die Volkskammer nur geringe Handlungsspielräume hatte, war der Wille zur Mitgestaltung bei allen Parteien vorhanden. An diese Vorträge schloss sich eine Diskussion von Mitgliedern der Volkskammer über ihre Arbeit und die Herstellung der Einheit an. Für die SED/PDS nahm Dietmar Keller am Podium teil. Die CDU wurde durch Lothar de Maizière und der DA durch Andreas H. Apelt vertreten. Markus Meckel nahm für die SDP/SPD und Werner Schulz für das Bündnis 90 teil. Werner J. Patzelt moderierte. Zunächst wurde der Einfluss der Bevölkerung auf die Arbeit der Volkskammer diskutiert. Werner Schulz meinte, dass der Elan der Bevölkerung in der Revolution von der Volkskammer nicht umgesetzt werden konnte. Der Gestaltungswille war gering. Dietmar Keller sah vor allem Verwirrung in der PDS. Deren Elan war zwar vorhanden, aber nach hinten gerichtet, nämlich auf den Erhalt der DDR. Lothar de Maizière ging auf das gestörte Verhältnis der Westdeutschen zur Nation ein. So wurden weder Symbole noch Name oder Hymne verändert, einheitsstiftende Elemente fehlten.

Den siebten und letzten Abschnitt der Tagung bildete eine weitere Podiumsdiskussion, die die Bedeutung der Friedlichen Revolution für die politische Kultur des vereinigten Deutschlands zum Gegenstand hatte. Hier nahmen Josef Isensee, Ulrike Poppe, Gerhard A. Ritter und Richard Schröder teil. Ilko-Sascha Kowalczuk moderierte. Josef Isensee hob hervor, dass die Friedliche Revolution die Beantwortung der Deutschen Frage bewirkte und eine Neuordnung Europas möglich machte. Er würdigte, dass erstmals in Deutschland aus eigenem Antrieb die freiheitliche Demokratie durchgesetzt wurde. Auch im staatsrechtlichen Sinn waren alle Bedingungen einer Revolution erfüllt. Ulrike Poppe ergänzte, dass sich daraus die Chance zur Entwicklung einer deutschen Freiheitstradition ergab. Der friedliche Verlauf der Revolution hatte aber auch zur Folge, dass die SED im gesamtdeutschen Parteiensystem weiterwirken konnte. Die in Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit zu beobachtende Verharmlosung der kommunistischen Diktatur kam ebenfalls zur Sprache. Gerhard A. Ritter gab zu Bedenken, dass die meisten Westdeutschen Unfreiheit nie kennengelernt hatten und ihr Risiko daher nicht kalkulierten konnten. Die DDR war für westdeutsche Linke oft eine Projektionsfläche ihrer Vorstellungen. Es müssten daher sowohl die Bedeutung der Überwindung der Diktatur für Gesamtdeutschland als auch die Fragilität der Demokratie bewusst gemacht werden.

Die Tagung zeigte, wie rasch sich die politischen Verhältnisse und Handlungsperspektiven der Beteiligten im Zuge der Friedlichen Revolution 1989/90 wandelten. Das Verlangen nach Freiheit und Demokratie zeigte sich 1989/90 mit einer beispiellosen Partizipation großer Teile der Bevölkerung. Erstmals gelang eine Revolution in Deutschland. Großdemonstrationen und – kundgebungen, Bürgerkomitees und Runde Tische, die Öffnung der Archive sowie die Entmachtung der alten Gewalten schufen neue Verhältnisse. Neben dem Grundgesetz ist die Friedliche Revolution das Fundament, auf das sich das künftige Verfassungsleben gründen kann.

Allerdings bleibt für die zeitgeschichtliche Forschung noch viel zu tun. Auch im öffentlichen Bewusstsein sind die Ereignisse bislang nur wenig verankert. Das Konzept der Tagung, ausgewiesene Historiker mit den damaligen Akteuren und einem sachverständigen Publikum zu konfrontieren, erwies sich als fruchtbar. Es wird voraussichtlich eine Publikation zu der Tagung erscheinen

Konferenzübersicht:

Wolfgang Schuller
Die alten und neuen politischen Handlungsträger in der DDR 1989/90 - Forschungsstand und Fragestellungen

Ilko-Sascha Kowalczuk
Die Gesellschaftskrise der Ende DDR Ende der achtziger Jahre

1. Die Formierung der Opposition in der DDR bis zum 9. November 1989

Jens Schöne
Zur Herausbildung der Opposition

Podiumsdiskussion mit Ulrike Poppe, Martin Gutzeit, Ehrhart Neubert, Gerd Poppe und Reinhard Schult

2. Die Revolution bis zum 10. November 1989

Karsten Timmer
Die neue Macht: Opposition und Revolution

Ilko-Sascha Kowalczuk
Die alte Macht und die Revolution: MfS, SED, Blockparteien in der Krise

3. Auf dem Weg zum Runden Tisch

Rainer Eckert
Neuformierungen der alten und neuen Gruppierungen nach dem Mauerfall

4. Die Hälfte der Macht: Arbeit am zentralen runden Tisch bis Februar 1990

Walter Süß
Zentraler Runder Tisch und alte Parteien

Wolfgang Templin
Zentraler Runder Tisch und Opposition

Martin Gutzeit
SDP/SPD und Zentraler Runder Tisch

5. Die Neuformierungen in Hinblick auf die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990

Oskar Niedermayer
Die alten und neuen Parteien in der DDR und die Volkskammerwahl vom 18. März 1990

Michael Koß
Von der SED zur PDS: Die Partei zwischen Niedergang, Selbstauflösung und Neuanfang

6. Die Arbeit in der Volkskammer und die Herstellung der deutschen Einheit

Gunnar Peters
Die Tätigkeit der alten und neuen Parteien in der frei gewählten Volkskammer

Helge Heidemeyer
Die alten und neuen Parteien und die deutsche Einheit

Podiumsdiskussion mit Andreas H. Apelt, Dietmar Keller, Lothar de Maizière, Markus Meckel, Werner Schulz

7. Die Bedeutung der Friedlichen Revolution für die Bundesrepublik Deutschland

Podiumsdiskussion mit Josef Isensee, Ulrike Poppe, Gerhard A. Ritter, Richard Schröder


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