Migration in der Geschichte der Medizin

Migration in der Geschichte der Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.04.2009 - 16.04.2009
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Von
Tamara Scheer, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Vom 14. bis 16. April 2009 stellten sich Nachwuchswissenschafter und Nachwuchswissenschafterinnen im Rahmen des 28. Stuttgarter Fortbildungsseminars der Robert Bosch-Gesellschaft der Diskussion, wie Medizingeschichte mit Migration verknüpft und verschränkt werden kann. Nach der Begrüßung durch den Institutsleiter ROBERT JÜTTE sorgten bereits die Impulse durch die Vorbereitungsgruppe, ISABEL ATZL (Berlin), SONJA KINZLER (Bremen/Kiel), MONIKA LÖSCHER (Wien) und SUSANNE HOFFMANN (Stuttgart), für Diskussionsstoff. Aspekte wurden aufgeworfen, die im Zuge jedes einzelnen Referats neu hinterfragt und angelegt wurden. Aus diesem Grund hat sich die Autorin des Tagungsberichts entschlossen, nicht die Fragestellung und Diskurspunkte jedes einzelnen Beitrags abzuhandeln, sondern umgekehrt der Hauptfragestellung des diesjährigen FOBI unterzuordnen. Bereits der Einwand der anwesenden Mediziner MICHAEL KNIPPER (Gießen) und MIRIAM EILERS (Lübeck), dass schon allein die Berücksichtigung von Migration für die Naturwissenschaften (inklusive Medizin) das Abrücken von der sonst üblichen (und notwendigen) Vereinfachung bedeutet, indem auf soziale Komplexität eingegangen werden muss, regte die Diskussion an.

Typologie

Der Impulsteil bestand zunächst in dem Versuch der Einordnung des eigenen Beitrags in eine Tabelle über die „Typologie der Migrationen“.1 Für den Überbegriff „Medizin“ ergab sich daher die Frage nach dem sich jeweils bewegenden Objekt, welches sehr unterschiedlich sein kann und auch von den Beiträgen widergespiegelt wurde. Es können/konnten Personen(-gruppen) vom Fach (Ärzt/innen, Forscher/innen, Pflegepersonal), wie in den Beiträgen von Knipper oder ASTRID STÖLZLE (Worms) ebenso migrieren wie ‚echte’ Migrierende (etwa größere Gruppen über einen längeren Zeitraum hinweg), die sich dann am Ankunftsort durch bestimmte Krankheiten/Gebrechen (auch migrationsbedingte Gesundheitsrisiken) auszeichnen und letztlich stigmatisiert werden. Manche, handelte es sich nun um jüdische Händler, die der Übertragung der Pest verdächtigt wurden (MONIKA HÖHL, Tecklenburg), oder Patienten psychiatrischer Anstalten mit muslimischem Hintergrund (BENOIT MAJERUS, Brüssel), wurden pauschal diagnostiziert. Wieder andere, am Beispiel deutscher Auswanderer, lernten sich in der neuen Heimat, bar der bisherigen verwandtschaftlichen sozialen Auffangnetze, selbst zu organisieren (NICOLE SCHWEIG, Esslingen). Letztendlich kann es auch die Krankheit selbst sein, die ‚wandert’ (vergleiche Höhl) oder medizinisches Wissen bzw. die Art der Darstellung von Körper und seiner Vorgänge im Inneren (wie bei Eilers in der Darstellung der Werke von Fritz Kahn).

Räume und Zeiten

In manchen Fällen ist kein konkreter Ausgangs- und Destinationsort festzumachen, da die Objekte sich durch ein ständiges Wandern aus den verschiedensten Gründen auszeichneten, zum Beispiel das fahrende Volk des Mittelalters im Beitrag von CHRISTINE KNUST (Aachen), die Gehörlosenbewegungen bei YLVA SÖDERFELDT (Berlin/Stuttgart) oder die zugewanderten Arbeiter/innen im deutschen Kaiserreich bei SEBASTIAN KNOLL-JUNG (Mannheim). Ebenfalls von Belang wäre der Rechtsstatus des/der Migrierenden in der Gesellschaft des Ankunftslandes. Die Ein-/Unterordnung in die Hierarchie der ansässigen Gesellschaft schwankte dabei aufgrund der Unterschiedlichkeit der Objekte; zwischen einer Randgruppe, die von der Mehrheit abgelehnt oder zumindest stigmatisiert wird oder ins Land geholten Spezialisten (siehe Knipper). Zu fragen wäre weiters nach dem politischen Umfeld, welches der Migrierende verlässt oder in das er sich bewegt: Krieg, aber auch Besatzung, machen hierbei, wie es scheint, eine separate Verortung notwendig (siehe Beitrag von Stölzle oder TAMARA SCHEER, Wien).

Die bereits zitierte Tabelle zur Typologie von Migration kategorisierte auch die „Dauer des Aufenthalts“, welche bei einer Verknüpfung mit Medizin (absichtlich) temporäre Aufenthalte stärker berücksichtigen müsste: im Sinne von (oft langjährigen oder stets wiederkehrenden) Forschungsreisen, oder dem ins Land holen eines Spezialisten für besondere Aufgaben (zum Beispiel bei ANDREA KAMARCZYK, Chemnitz, über die Tafelreden Johannes Neefe, der an den Hofe Kaiser Ferdinands geladen wurde) müsse unterschieden werden.

Perspektive

Gefragt wurde auch nach der Perspektive: ob und wie die Wandernden ihre Lage selbst bewerteten, bzw. sie von der Politik, den Medien, der „Gesellschaft“ des Ankunftsortes beurteilt wurden. Interessant in diesem Zusammenhang ist, wer sich den veränderten Bedingungen in Studien annahm, und wer diese in Auftrag gab. Auch die Beurteilung und der Umgang mit den medizinischen und hygienischen Auswirkungen von Migration durch die Gemeinschaft, Obrigkeit, Kommune, den Staat und die Wissenschaft wurden aufgegriffen. Dies war Teil des Diskurses bei Scheer, die die österreichisch-ungarische Besatzungsmacht anhand medizinischer und hygienischer Maßnahmen schilderte und auf deren Ambivalenz hinwies: so wurden Impfaktionen zwar unter Zwang, aber doch durchgeführt. KATALIN CZÁR (Budapest) wiederum verdeutlichte anhand der Veränderungen des Budapester Gesundheitswesens durch die damals in ganz Mitteleuropa prägende Ver(groß)städterung, dass die Obrigkeit, vor reale Tatsachen gestellt, zum Handeln gezwungen war. Generell tritt die „Obrigkeit“ mit Ordnungswille als Organisator medizinischer und hygienischer Maßnahmen auf: entweder als Hilfeleistung, oder durch Beschränkungen. Im Falle der jüdischen Händler erkannte die (kirchliche) Obrigkeit in ihnen potentielle Überträger der Pest und setzte restriktive Maßnahmen unter dem Mantel die eigenen Bevölkerung zu schützen (Höhl). Im Fall des fahrenden Volkes wurde dieses ab jenem Zeitpunkt verstärkt kriminalisiert, als Landesherren begannen, Ordnungswillen auszubilden und durchzusetzen (Knust).

Motiv

Körperliche Gebrechen als Grund für die Migration bzw. auch als Begleiterscheinung der Migration war ein weiterer Diskussionsansatz, wie er unter anderem bei Söderfeldt (Gehörlose, die sich „ihre“ Gehörlosengemeinschaft suchen) und Knust (beim fahrenden Volk des Mittelalters wurden zur Erzielung ökonomischer Vorteile körperliche Gebrechen teilweise auch nur vorgetäuscht) evident wurde. Dem in der Tabelle zur Typologie der Migration genannten „Motiv“, welches in erzwungen, Flucht, wirtschaftlich oder kulturell, kategorisiert wurde, wurden die Aspekte der „Motivation“, etwa allfällige Tradition oder ein „Entwicklungsgedanke“ (inklusive „Modernisierung“, „Entwicklungshilfe“) ergänzend beigestellt. So ist die Pflege, letztlich knapp hinter der Front des Ersten Weltkriegs, auch Teil der Selbstdefinition der geistlichen (Etappen)schwestern (Stölzle).

Auch Forschungsinteresse diente häufig als Motor für Migration. Diese wird so zum Teil der Lebenserfahrung, zu einem biographischen Punkt. Dem migrierenden Wissenschafter, der über polyglotte Erfahrung verfügt, wird dies als Kompetenz zugeschrieben. Dass dies keine aktuelle Erscheinung ist, zeigte Kamarczyk mit dem weitgereisten Neefe, ebenso wie Knipper in seiner Darstellung der Biographie des deutsch-peruanischen Forschers Max Kuczynski oder Eilers anhand der Arbeiten Fritz Kahns nach seiner Ankunft in Amerika.

Im Fall des ebenfalls in der Tabelle Bades als Kategorie angegebenen „sozio-ökonomischen Raums“, wäre einzubeziehen, ob es sich um denselben, einen ähnlichen oder gänzlich anderen Kulturraum handelte, in den es die/den Migrierenden verschlug.

Bruchstellen

Die Verknüpfung von Medizin und Migration charakterisieren mehrere Bruchstellen, eine davon ist die Veränderung im Patient/Arzt-Verhältnis. Die anzustrebende Lückenlosigkeit in der Dreiteilung „Anamnese – Diagnose – Behandlung“ wird ins Wanken gebracht. Im Fall einer Grenzüberschreitung wird der Zugriff auf die medizinische Vorgeschichte erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht, und durch meist mangelnde gegenseitige Sprachkenntnisse ergänzt – Fehl- und Pauschaldiagnosen eingeschlossen. Söderfeldt brachte die „Sprache“ in den Diskurs ein, im Fall der Gehörlosen nicht als Einschränkung im Patient/Arzt-Verhältnis, sondern die Komplexität der Gehörlosensprache demonstrierend (die wie gesprochene Sprache auch von Land zu Land unterschiedlich ist). Diesen Aspekt griff auch Majerus auf, der zusätzlich auf unterschiedliche kulturelle Hintergründe verwies, und dies anhand der belgischen Psychiatrie und ihrer muslimischen Patient/innen in den 1960er- und 1970er-Jahren verdeutlichte. Auch in diesem Fall wurden bestimmte Krankheiten/Symptome als „migrantentypisch“, bzw. als dieser Gruppe zugeschrieben, bezeichnet. „Migrantenkinder“ treten häufig, oftmals trotz Geburt im Ankunftsland, als eigene Einordnungsebene in Erscheinung (Majerus).

Resume

In der Abschlussdiskussion wurde erneut auf die Herausforderung hingewiesen, den Begriff „Migration“ als Kategorie zu nutzen und für ein Forschungsinteresse verknüpft mit Medizin, Hygiene, Krankheiten, Naturwissenschaft bearbeitbar, diskutierbar und wiederum hinterfragbar zu machen. Deutlich wurde, dass Mobilität zwar eine Grundvoraussetzung ist, wenn man von Migration spricht. Weitere Merkmale sind jedoch davon abhängig, welche Definitionen dem Begriff zugrunde gelegt werden, um etwa bestimmte Mobilitätsformen hinzu zu rechnen, aber durchaus auch auszuschließen.

„Migration“ als Kategorie in der Forschung zu nutzen, bietet die Möglichkeit, Gruppen und Gruppengrenzen zu hinterfragen. Außerdem wird für die Wahrnehmung des Raums sensibilisiert und Grenzen werden sichtbar, indem sie nicht als gegeben und starr hingenommen werden. Die Nutzung dieser Kategorie schärft außerdem den Blick für historisch-gesellschaftliche Diskurse und wirft damit die Frage der Machtverhältnisse auf. Historische und aktuelle Stereotype werden ebenso in Frage gestellt, wie die, die dem Forschenden eigen sind. Nicht zuletzt ermöglicht die Verwendung der Kategorie „Migration“, die unterschiedlichen Einflüsse auf die Medizin und ihre Entwicklungen/Veränderungen schärfer herauszuarbeiten.
Weiters wurde festgestellt, dass dem Zusammenspiel von Migrant/innen und Medizin durch Sprachbarrieren und mangelnde Schriftlichkeit Grenzen gesetzt werden. Gleichzeitig gilt es veränderten Begriffsgebrauch, Identitäten (vor allem die Wahrnehmung von Eigenem und Fremden), aber auch die Tatsache, dass zahlreiche europäische Länder im Verlauf der Geschichte von Auswanderungs- zu Einwanderungsländern (und vice versa) wurden, mitzuberücksichtigen.

Konferenzübersicht:

Isabel Atzl, Sonja Kinzler, Monika Löscher, Susanne Hoffmann: Migration in der Geschichte der Medizin – Diskussionsimpulse aus der Vorbereitungsgruppe

Migration und Medizin

Moderation: Isabel Atzl

Michael Knipper: Migration als ätiologische Kategorie. Die Forschungen des deutsch-peruanischen Pathologen M. Kuczynski-Godard (Berlin 1890-Lima 1967) in Zentralasien und Peru

Christine Knust: Schlangenbeschwörer, Heiler und Taschenspieler. Fahrendes Volk zwischen medizinischem Topos und Tabu

Astrid Stölzle: Migrationsbedingte Gesundheitsrisiken des Etappenpflegepersonals in den Kriegslazaretten des Ersten Weltkriegs

Benoît Majerus: Die Erfindung des Migranten

Migration und Gesellschaft

Moderation: Sonja Kinzler

Nicole Schweig: Gesundheitliche Ungleichheiten in der Neuen Welt. Auswanderer und ihre sozialen Netzwerke in den USA im 19. Jahrhundert

Ylva Söderfeldt: „Taubstumme Vaganten“ zwischen Gehörlosen-Netzwerken und Institutionen im Kaiserreich

Monika Höhl: „Daß die von anderen Orten kommenden Bettel=Juden, deren Weiber und Kinder ohne Ausnahm, und die von denen inficierten Orten sich einfindende Deserteurs überall nicht passiret und eingelassen werden“

Sebastian Knoll-Jung: Arbeitsbedingte Gesundheitsgefährdungen, Risikoverhalten und Arbeitsschutzmaßnahmen von Migranten im Kaiserreich 1884-1914

Katalin Czár: Die Veränderungen des Gesundheitswesens in Budapest im Spiegel des Denkens der Politiker und der Ärzte in den 1860er-90er Jahren

Migration und Kulturkontakt

Moderation: Monika Löscher

Andrea Kamarczyk: „in gantzen Europa nicht gefunden“ – Länder, Lebensweisen und Krankheiten im Kulturvergleich

Tamara Scheer: Besatzungsregime im Spiegel von Medizin und Migration – Österreichisch-ungarische Militärgouvernements in Polen, Montenegro und Serbien während des Ersten Weltkriegs (1915-1918)

Miriam Eilers: Medizinische Aufklärung und Migration bei Fritz Kahn (1888-1968)

Anmerkung:
1 Dirk Hoerder / Jan Lucassen / Leo Lucassen, Terminologie und Konzepte der Migrationsforschung, in: Klaus Bade u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie der Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn u.a. 2008, S. 37.


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