Fragestellungen der jüngeren internationalen Forschung vom Mittelalter bis zur Gegenwart griff vom 14. bis zum 17. Juni 2009 der 6. Sommerkurs des Deutschen Historischen Instituts Paris unter dem Titel „Raumkonzepte – Raumwahrnehmungen – Raumnutzungen“ auf. Die Organisation lag in den Händen von Susanne Rau (federführend), Gudrun Gersmann und Rolf Große als Vertretern des Deutschen Historischen Instituts Paris und von Wolfgang Kaiser und Christine Lebeau, für die Université Paris I Panthéon Sorbonne. Großzügige finanzielle Unterstützung gewährte zudem die Deutsch-Französische Hochschule Saarbrücken.
Einleitend skizzierte Susanne Rau das Ziel dieses Kurses, jungen Doktorandinnen und Doktoranden und Postdoktoranden ein Forum zu bieten, in dem sie ihre bisherigen Arbeitsergebnisse zur Diskussion stellen können. Die große Bandbreite an Themen und Epochen rechtfertige sich gerade durch die Bedeutung des Raumes als wichtigem Strukturelement der Gesellschaft. Über die Angemessenheit der Bezeichnung „spatial turn“ für die neueren raumbezogenen Forschungen der Geschichts- und Kulturwissenschaften sollte im Rahmen der Veranstaltung gemeinsam diskutiert werden.
Die Tagung gliederte sich in fünf Sektionen, deren jeweiligen Beiträge entweder um räumliche Einheiten oder räumliche Modalitäten kreisten oder aber bestimmte Schritte im Konstruktionsprozess von Räumen abbildeten. Die Vorträge wurden durch eine andere Teilnehmerin oder einen anderen Teilnehmer und durch einen der anwesenden Senior Scholars – Jean-Marie Mœglin (Université Paris XII Val de Marne und École Pratique des Hautes Études), Elisabeth Tiller (Technische Universität Dresden), Jacques Lévy (École Polytechnique Fédérale de Lausanne), Susanne Rau, Wolfgang Kaiser und Christine Lebeau – kommentiert, bevor es zur Diskussion des Referats überging. Die intensive – und dem Sommerkurs vorangehende – Beschäftigung mit dem Vortragsthema durch zumindest zwei weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer garantierten profunde Kommentare, ergiebige Diskussionen und ermöglichten einen Blick über den eigenen Themenschwerpunkt hinaus. Die Beteiligung von in der Raumproblematik bereits ausgewiesenen Senior Scholars aus den Bereichen Geschichte (Mittelalter, Frühe Neuzeit, Neuere Geschichte), Geographie und Literaturwissenschaft an dieser Nachwuchstagung ermöglichte es den jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ihre eigenen Thesen auf den Prüfstand zu stellen. Umgekehrt lernten aber auch die Senior Scholars von den Zugängen der Nachwuchswissenschaftler/innen und profitierten von den sich daran anschließenden Diskussionen.
Die erste Sektion stellte laufende Arbeiten vor, die sich mit Stadtgeschichte und der Geschichte des städtischen Raumes beschäftigten. ERIC PILTZ (Technische Universität Dresden) thematisierte in seinem Referat die Frage der Grenze und der daraus resultierenden Konfliktfelder in der frühneuzeitlichen Stadt am Beispiel von Andernach und Coesfeld. Als ein zentrales Moment beschrieb er hierbei die Institution der Nachbarschaft. Kommentare und Diskussion bezogen sich vor allem auf die Möglichkeiten der Einbeziehung eines breiteren Vergleichsrahmens. BÖRRIES KUZMANY (Universität Wien) stellte seine weitgehend abgeschlossene Arbeit über die Stadt Brody an der österreichisch-russischen Grenze im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung von Wirtschaft, jüdischer Bevölkerung und Bildungsgeschichte vor. In der anschließenden Diskussion wurden vor allem der Begriff der „Peripherie“ und die Beschaffenheit einer nationalen Identität thematisiert. In ihrer laufenden Promotion unternimmt IRINA REDKOVA (Lomonossow-Universität Moskau) den Versuch, Rückschlüsse aus der hochmittelalterlichen Exegese auf die zeitgenössische Stadt zu ziehen. Im Anschluss an ihren Vortrag zielte die Debatte auf das Corpus der verwendeten Quellen und die thematische Verortung der Arbeit, für die Jean-Marie Moeglin eine Orientierung an der Geschichte der Exegese vorschlug. SUNDAR HENNY (Universität Basel) untersuchte den konfessionellen Gehalt von Selbstzeugnissen aus Zürich und Luzern im 17. Jahrhundert. Er unterschied hierbei einen imaginären Raum des Glaubens von einem realen Raum der Stadt. Kritisch wurde im Anschluss vor allem eine Ausweitung auf weitere Quellengattungen diskutiert.
In der Sektion „Raumkonstruktionen“ beschäftigte sich GREGORY GRÄMIGER (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich) mit physischem und intellektuellem Raum der Bibliotheksarchitektur der Frühen Neuzeit am Beispiel von Zürich und Leiden. Dabei bezog er ebenfalls den räumlichen Kontext, in dem beide Bibliotheken untergebracht waren, mit ein. Susanne Rau verwies zudem auf die Nutzerfrage frühneuzeitlicher Bibliotheken und mögliche Konflikte um deren Zugang. MARIE-PIERRE BUSCAIL (Université Paris I Panthéon-Sorbonne und Maison René Ginouvès d'Archéologie et d'Éthnologie, Paris) behandelte in einem Archäologie und Geschichtswissenschaft kombinierenden Ansatz das Konstrukt der französischen Krondomäne zwischen Seine und Loire im Spätmittelalter. BRITTA KÄGLER (Ludwig-Maximilians-Universität München) präsentierte ihre jüngst abgeschlossene Dissertation über den sozialen und realen Raum adeliger Frauen am Münchener Hof. Das anwesende Publikum zeigte sich hierbei sehr an den räumlichen Beziehungen zwischen dem Hof, Bayern und Resteuropa interessiert. MORWENNA COQUELIN (École des Hautes Études en Sciences Sociales) referierte über räumliche Verdichtung, Identitätsbildung und Konflikte in und um die Stadt Erfurt im ausgehenden Mittelalter. Kommentare weiteten noch einmal den Fokus auf die Außenwahrnehmung und Konkurrenzen um den Raum.
In der dritten Sektion, die Begrifflichkeiten und Vorstellungen von Raum behandelte, zog LAURE BUZENS (Université Michel de Montaigne Bordeaux III) anhand einer lexikologischen Analyse einen Vergleich zwischen den Raumkonzeptionen in französischen, englischen und kastilischen Chroniken des Hochmittelalters. Einen interessanten Anknüpfungspunkt der anschließenden Diskussion bildete hier die politische Bedeutung chronikalischer Raumdarstellungen. JULIANE HOWITZ (Freie Universität Berlin) betrachtete den historischen Wandel der Konzeption von Himmelsräumen in der frühneuzeitlichen Himmelskartographie. AGNIESZKA KOMOROWSKA (Ruhr-Universität Bochum) verortete den Begriff der „Scham“ im französischen Gegenwartsroman. Elisabeth Tiller schlug vor, hierbei den Unterschied zwischen kultureller und historischer Dimension der Scham noch differenzierter herauszuarbeiten. Auch GOULVEN OIRY (Université Paris Diderot Paris VII) beschäftigte sich mit dem Raum in der Literatur, insbesondere der Repräsentation des urbanen Raums in der französischen Komödie von Renaissance und Barock. Das Stadtbild der Komödie stellte er dabei als moralisierenden Spiegel der Stadt selbst dar. VANINA KOPP (Universität Bielefeld) präsentierte die Bibliothek Karls V. im Louvre als Ort kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses. Die anschließende Diskussion zwischen den Teilnehmern betraf das Verhältnis zwischen kulturwissenschaftlicher Theorie und den realen Quellenbefunden und Quellenkontexten. JULIA NG (Northwestern University Chicago) setzte sich mit dem Verhältnis von Politik und Geometrie in Architektur, Literatur, Mathematik, und Philosophie der Neuzeit auseinander. In mehreren Schritten untersuchte sie den speziellen Zusammenhang zwischen der Entstehung moderner Geometrie und dem Problem des ewigen Friedens. Angeregt debattiert wurde über die Frage der Kohärenz und über die raum-zeitliche Eingrenzung dieses ambitionierten Projekts.
In der vierten Sektion des Sommerkurses, „Räume verwalten und beherrschen“, berichtete VERENA TÜRCK (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) von ihrem Dissertationsprojekt über die herrschaftliche Durchdringung Burgunds durch Friedrich I. Barbarossa. Detailliert zeigte sie die Verortung und räumliche Verteilung kaiserlicher Herrschaftsschwerpunkte anhand ihrer bisherigen Auswertung von den Klerus betreffenden Herrscherurkunden auf. Die Aussagekraft der Quellen wurde in der Diskussion noch einmal erörtert. NATALIA IOVCHENKO (Université Paris I Panthéon Sorbonne) behandelte die Beziehung des Dauphiné zu Ludwig XIII. Die anschließende Debatte belegte ein starkes Interesse für Konfliktfelder und regte einen Vergleich mit anderen Regionen Europas an. Den europäischen Raum überschreitend, brachte MAGNUS RESSEL (Ludwig-Maximilians-Universität München) einen Beitrag zur Auseinandersetzung Nordeuropas mit dem Problem der Barbareskenpiraterie im Mittelmeer während der Frühen Neuzeit. Eingehend wurden dabei Bewältigungsstrategien der nordeuropäischen Handelsmächte vorgestellt. MARIANNA GYAPAY (École des Hautes Études en Sciences Sociales) behandelte die Wahrnehmung seiner Länder durch Kaiser Franz I. während der Inspektionsreise von 1817. Quellengrundlage bildeten hierbei die persönlichen Aufzeichnungen des Monarchen.
Im letzten Teil des Sommerkurses beschäftigten sich zwei Referate und Diskussionen mit Raumaneignungen und Überlagerungen. CHRISTINE PAPPELAU (Humboldt-Universität Berlin) berichtete aus ihrem Dissertationsprojekt über die Geschichte des römischen Septizoniums, seine Zerstörung und die Wiederverwendung der Baumaterialien im Rom der Renaissance. JAN STEFAN BECKER (Liebig-Universität Gießen) präsentierte seine vorläufigen Arbeiten zu den Räumen der Favelas von Rio de Janeiro und deren sozialen, kulturellen, das heißt auch internen und externen Grenzziehungen. Plausibel stellte er eine historische Verbindung zur gegenwärtigen Situation in Luanda und Lissabon her. Jacques Lévy und Eric Piltz unterstrichen noch einmal die Frage nach dem Quellencorpus und die Notwendigkeit zur Kontextualisierung.
Die Abschlussdiskussion würdigte das gewählte Konzept der Organisatoren des 6. Sommerkurses für Nachwuchswissenschaftler am Deutschen Historischen Institut Paris. Positiv wurden die Kommentierung durch andere Nachwuchswissenschaftler und erfahrenere Senior Scholars, die Internationalität, die Interdisziplinarität, die Diskussion über verschiedenartigstes methodisches Vorgehen und der Blick über den eigenen Arbeitsrahmen hervorgehoben.
Kritisch bewertete man hingegen die Zusammenstellung der einzelnen Quellencorpora, die Beziehung zwischen historischer Theorie und realem Quellenbestand und, bedingt durch die Interdisziplinarität des Treffens, die verschiedenen Konzeptionen von Räumlichkeit. Einigkeit herrschte darüber, dass die die differenzierten Kommentare und eingehenden Diskussionen für alle Beteiligten des Sommerkurses eine Bereicherung darstellten.1
Konferenzübersicht:
Räume der Stadt
Eric Piltz, Dresden: Nachbarschaft, Gemeinschaft und sozialer Raum in der frühneuzeitlichen Stadt
Kommentar: Jan Stefan Becker und Wolfgang Kaiser
Börries Kuzmany, Wien: Center and Periphery at the Austrian-Russian Border. The Galician Border Town Brody in the Long 19th Century
Kommentar: Marianna Gyapay und Christine Lebeau
Irina Redkova, Moskau: Der urbane Lebensraum in der Exegese des 12. Jahrhunderts
Kommentar: Laure Buzens und Jean-Marie Moeglin
Sundar Henny, Basel: Konfessionelle Identität und Alterität in Zürich und Luzern im 17. Jahrhundert
Kommentar: Magnus Ressel und Susanne Rau
Raumkonstruktionen
Gregory Grämiger, Zürich: Bibliotheksarchitektur 1550-1700. Zur Disposition und Zugänglichkeit des Wissens im Raum
Kommentar: Vanina Kopp und Susanne Rau
Marie-Pierre Buscail, Paris: Les espaces royaux ou la question du « domaine royal » aux XIIIe et XIVe siècles
Kommentar: Christine Pappelau und Jacques Lévy
Britta Kägler, München: Politische Handlungsspielräume und kultureller Einfluss der adeligen Frauen am Münchner Hof (1651/52-1756)
Kommentar: Goulven Oiry und Christine Lebeau
Morwenna Coquelin, Paris: Entre villes, territoires et Empire : la tentative erfurtoise de construction d’une autonomie territoriale
Kommentar: Juliane Howitz und Susanne Rau
Raumbegriffe und Raumvorstellungen
Laure Buzens, Bordeaux und Paris: Espaces, peuples et princes. De la perception du monde à la construction du discours politique dans les chroniques en France, Angleterre et Castille, vers 1200-vers 1270
Kommentar: Irina Redkova und Jean-Marie Moeglin
Juliane Howitz, Berlin: Himmelswissen – Die Konzeption von Himmelsräumen in frühneuzeitlichen Kartographien
Kommentar: Morwenna Coquelin und Wolfgang Kaiser
Agnieszka Komorowska, Bochum: Räume der Scham. Verortungen des Subjekts im französischen Roman der (Nach)moderne
Kommentar: Julia Ng und Elisabeth Tiller
Goulven Oiry, Paris und Lyon: Le théâtre comique français et la représentation de la ville: rouages et usages d’un espace-miroir (1550-1630)
Kommentar: Britta Kägler und Wolfgang Kaiser
Vanina Kopp, Bielefeld: Raum und Erinnerung: Die königliche Bibliothek im Louvre
Kommentar: Gregory Grämiger und Elisabeth Tiller
Julia Ng, Berlin: The politics of Geometry: Mathematics, Architecture and Literature in the Modern Age
Kommentar: Agnieszka Komorowska und Jacques Lévy
Räume verwalten und beherrschen
Verena Türck, Heidelberg: Herrschaftsraum und Raumdurchdringung. Friedrich I. Barbarossa und das Königreich Burgund
Kommentar: Natalia Iovchenko und Jean-Marie Mœglin
Natalia Iovchenko, Vincennes: Le Dauphiné sous Louis XIII, une province royaliste ?
Kommentar: Verena Türck und Susanne Rau
Magnus Ressel, München und Ingolstadt: Zwischen Heterotopie und Dystopie. Handels- und Risikoräume zwischen Mittelmeer und Ostsee im Zeichen der Barbareskengefahr
Kommentar: Sundar Henny und Wolfgang Kaiser
Marianna Gyapay, Paris und Budapest: Le voyage comme représentation politique. Les territoires comme cadres de l’acquisition de connaissances: le tour et le récit de François Ier en 1817
Kommentar: Börries Kuzmany und Christine Lebeau
Raumaneignungen und Überlagerungen
Christine Pappelau, Rom: Die Demontage des Septizoniums und die Wiederverwendung seiner Baumaterialien
Kommentar: Marie-Pierre Buscail und Elisabeth Tiller
Jan Stefan Becker, Gießen: Gebaute Geschichte an den Grenzen der Gesellschaft – Über soziale und kulturelle „Bruchzonen“ in urbanen Räumen (Rio de Janeiro – Luanda – Lissabon)
Kommentar: Eric Piltz und Jacques Lévy
Anmerkung:
1 Die Organisatoren des Sommerkurses 2009 des Deutschen Historischen Instituts Paris beabsichtigen die überarbeiteten Beiträge auf der Internetplattform der deutschen geisteswissenschaftlichen Auslandsinstitute <www.perspectivia.net> zur Verfügung zu stellen, um sie damit auch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.