Medizin und Krieg – wie passt dies thematisch zusammen? Wagen sich die Mediziner nicht zu weit auf fremdes Terrain, wenn sie sich als Historiker betätigen? Ist es nicht ein Unding, wenn Geisteswissenschaftler über medizinische Themen sprechen wollen? Rund 40 Historiker bzw. Medizinhistoriker und Mediziner haben in Düsseldorf einmal mehr gezeigt, dass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich ist, um Antworten auf die genannten Fragen zu geben. Der Erfolg der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Tagung gibt ihnen Recht. Dieser basierte nicht zuletzt auf der großen inhaltlichen Bandbreite der Vorträge und Posterpräsentationen, die erkennen ließen, dass die Medizingeschichte ein noch längst nicht abgearbeitetes Themenfeld der Historiographie ist. Dies gilt besonders dann, wenn Aspekte der Militärgeschichte hinzugenommen werden, die die Impulsgeber der Diskussionen wurden. Wider alle Erwartungen dominierte der Erste Weltkrieg die Aussprachen. Alsbald waren aus diesen die Leitfragen der internationalen Zusammenkunft herauszuhören. So mussten die Referenten immer wieder Antwort auf die Frage nach ihren deutschen und/oder polnischen Quellen geben. Gleichermaßen stand zur Debatte, ob der Krieg als Katalysator des medizinischen Fortschritts aufzufassen sei oder aber diesen in eine bestimmte Richtung gelenkt habe. Ganz abgesehen davon stelle sich die Frage, welche Entwicklung und Forschungsschritte durch den Krieg effektiv gehemmt – gar zunichtegemacht wurden.
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn gerade der Umgang der Medizin mit dem Tod konkret zum Thema gemacht worden wäre. Im Krieg tritt dieser immerhin in seiner absoluten Wildheit hervor, was selbst Mediziner nicht verhindern können. Von polnischer Seite wäre es gerne gesehen worden, wenn die Medizin im Zweiten Weltkrieg im Fokus der Aufmerksamkeit gestanden hätte. Immerhin sei doch in den Jahren 1939 bis 1945 erkannt worden, dass auch die Medizin alles andere als eine „reine“ Wissenschaft sei. Tagtäglich habe sich dies im Zusammenhang der Humanexperimente in den Konzentrationslagern gezeigt. Sie gelten bis heute als absolute Pervertierung (medizinischer) Ethik, die von Ärzten in Uniform vollzogen wurde.
Sie waren es, die im Kriege den Hippokratischen Eid missachteten und strikt dem Fahneneid folgten. Jeder Waffengang war und ist eine besondere Herausforderung für Militärärzte, deren Rolle grundsätzlich in die des Offiziers und des Arztes zu unterteilen ist. Damit ist der Krieg als Charakterprobe für einzelne Akteure anzusehen. Spätestens im Ersten Weltkrieg begannen Ärzte ihre Heilungsverpflichtung zu brechen. Sie waren mehr und mehr darauf aus, Soldaten wieder kriegsfähig zu machen, statt Menschen ihre Gesundheit zurückzugeben. Für sie galt die Devise, im Krieg und nicht um die Gesundheit zu kämpfen.
Die Ärzte standen zumeist nicht alleine im Feld. Sie wurden von Krankenschwestern begleitet, deren Position und Bedeutung besprochen wurde. Damit wurde der ansonsten gängige Topos der militärischen Männlichkeit durchbrochen. Neben dem Genderansatz waren es Biographien, die einzelne Themenspektren über die Sektionen hinweg verbanden.
Die Fortentwicklung des deutsch-polnischen Dialogs ist als bedeutsamer Nebeneffekt der Tagung hervorzuheben. Allein die Tatsache, dass die Perspektive der im Krieg Leidenden nicht zu kurz kam, wirkte gegen jeden falsch verstandenen Nationalstolz. Von polnischer Seite wurde immer wieder der Appell an die deutschen Kolleginnen und Kollegen gerichtet – wenn möglich – sich der in Polen liegen den Quellenmaterialien anzunehmen. Diese böten ein fruchtbares Arbeitsfeld, das von Westeuropa noch nicht entdeckt worden sei. Es läge an allen Beteiligten in Ost und West, auch in der Forschung den „Eisernen Vorhang“ endgültig niederzureißen. Demnach wurden Hoffnungen derart formuliert, dass die Tagung Ausgangspunkt neuer Kooperationen und gemeinsamer Projekte werden könnte. Beste Grundlagen wurden dafür gelegt. Konkret sei auf die Altersunterschiede der Referenten verwiesen. Wenigstens drei Historiker- und Medizinergenerationen kamen gleichberechtigt zu Wort und gaben sich gegenseitig neue Anregungen. Eine solche, über die Altersgrenzen hinweggehende Zusammenarbeit ist nicht selbstverständlich. Demnach wurden die mit großem Enthusiasmus vorgetragenen Diskussionsbeiträge und Vorträge aus den Reihen der Gründergeneration der Deutsch-Polnischen Gesellschaft gerne akzeptiert. Kurz: die Vortragsreihen bildeten den Kern der Tagung.
Die Postersektionen gaben ihm die inhaltliche Abrundung, die sich über die ganze Konferenz hinzog. Mit Vielfalt und Tiefgang lassen sich die ausgehängten Einzelbeiträge beschreiben. Diese reichten von der akademischen Medizin der Pestzüge des Dreißigjährigen Krieges bis zum Stellenwert der Hygiene in Besatzungsregimen. Hinzu kamen Darstellungen über den Gesundheitsdienst der polnischen Lodz-Armee 1939, dem Drogenmissbrauch in der Wehrmacht sowie Beschreibungen des Kampfes gegen Fleckfieber. Weitere inhaltliche Details sind der Tagungsübersicht zu entnehmen.
Insgesamt ist die Zusammenkunft als ein Erfolg zu werten. Mit großer Spannung kann der Publikation des geplanten Tagungsbandes entgegengesehen werden.
Konferenzübersicht:
Sektion I: Schlachtfeld und Lazarett
Aleksander Bołdyrew (Piotrków Trybunalski)
Krieg ohne Medizin. Verwundete auf den Schlachtfeldern Mittel- und Osteuropas im 16. Jh.
Tadeusz Srogosz (Częstochowa)
Medizinische Rahmenbedingungen operativer Tätigkeit der Armee in der polnisch-litauischen Adelsrepublik im 17. Jh.
Matthias König (Innsbruck)
Blutiges Handwerk. Die Entwicklung der österreichischen Feldsanität zwischen 1748 und 1785
Petra Peckl (Freiburg i.Br)
Lazarettalltag im Ersten Weltkrieg – ein Blick auf die Hauptakteure in den deutschen Lazaretten
Sektion II: Seuchen und Seuchenbekämpfung
Reinhard Nachtigal (Freiburg im Breisgau)
Epidemien, Politik und Propaganda – Kriegsseuchen und ihre Folgen in der Wahrnehmung der Mächte im Ersten Weltkrieg
Silvia Berger Ziauddin (Zürich / Zurych )
(Narrative) Etablierung einer Kriegswissenschaft – die Bakteriologie und der Erste Weltkrieg
Elżbieta Więckowska (Wrocław)
Der Fleckfieber-Impfstoff produziert nach der Weigl-Methode
Tadeusz Brzeziński (Szczecin)
Seuchenbekämpfung in den polnischen Armeen in der UdSSR und im Nahen Osten
Postersektion I: Medizin & Krieg. Entwicklungen der Neuzeit
Joanna Lusek (Bytom)
Quellenmaterial aus den Beständen oberschlesischer Archive über das Heilwesen in Kriegszeiten
Marek Dutkiewicz (Piotrków Trybunalski)
Forschungsstand zur Geschichte des Sanitätswesens in der polnischen Armee
Colleen Schmitz (Dresden)
Krieg und Medizin. Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden 4. April bis 9. August 2009
Susanne Häcker (Tübingen)
Mediziner auf der Flucht? Die Rolle der akademischen Medizin während der Pestzüge des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel der Universitäten Heidelberg, Tübingen und Freiburg
Maria Biegańska-Płonka (Lodz)
Warschau 1770 – Vorsorgemaßnahmen zur Verhinderung einer Pestepidemie
Józef Świeboda (Rzeszów)
Medizin im Dienste der Festung Przemyśl
Uta Hinz (Düsseldorf)
Krieg, Kriegsgefangenschaft und Propaganda: Deutsche Kriegsgefangenenlager 1914/15
Ljubov Zhvanko (Char'kiv)
Kriegsflüchtlinge und ihre medizinische Versorgung während des Ersten Weltkriegs in der Ukraine
Tamara Scheer (Wien / Wiedeń)
Der Stellenwert von Medizin und Hygiene in Besatzungsregimen: Das Beispiel k.u.k. Militärgeneral-gouvernement Polen (1915-1918)
Sektion III: Biographien und Krieg
Michael Sachs (Frankfurt)
Dokumente der Humanität im Kriege: Der Schriftsteller und Maler Ernst Penzoldt (1892–1955) als Operationsgehilfe in einem Kriegslazarett für polnische Kriegsgefangene in Lodz (Oktober 1939)
Bernd Laufs (Idar-Oberstein)
Projektionsfläche für den guten Deutschen: Der Arzt von Stalingrad Dr. Ottmar Kohler 1908-1979
Ingrid Kästner (Leipzig) mit Alena Míšková und Josef Stingl (beide Prag)
Krieg und Nachkrieg. Josef Hohlbaum (1884-1945) „ein deutscher Chirurg in Prag”
Sektion IV: Reform und Professionalisierung
Anett Büttner (Düsseldorf)
„Kamerad Schwester“?: Geschlechterrollen in den deutschen Einigungskriegen am Beispiel der freiwilligen Kriegskrankenpflege durch Diakonissen und Barmherzige Schwestern
Bożena Urbanek (Warszawa/Katowice)
Die Entwicklung des Pflegeberufes und seine kriegsbedingten Implikationen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. am Beispiel der polnischen Gebiete
Anita Magowska (Poznań)
Berufspraxis polnischer Ärzte während des Ersten Weltkriegs und die wissenschaftliche und organisatorische Entwicklung der Medizin in Polen in den Jahren 1918-1939
Postersektion II: Medizin & Krieg: Zeitgeschichte
Łukasz Politański (Piotrków Trybunalski)
Der Gesundheitsdienst in der „Lodz”-Armee im September 1939
Bernhard Bremberger (Berlin)
Die Gesundheitsversorgung ausländischer Zwangs¬arbeiter am Beispiel Berlin. Die Polenstation am Kranken¬haus Neukölln und das Ausländerkrankenhaus Mahlow
Beata A. Kwiatkowska (Namysłów)
Krankenhäuser und Lazarette im Oppelner Schlesien im Zweiten Weltkrieg
Peter Steinkamp (Freiburg im Breisgau)
Lebensbedingungen von Wehrmachtstrafgefangenen
Rüdiger von Dehn (Wuppertal)
Tot aber glücklich. Anmerkungen zum Drogenmissbrauch in der deutschen Wehrmacht 1939-1945
Thorsten Noack (Düsseldorf)
„Auch die Soldaten?“ – die NS-Euthanasie in der westalliierten Propaganda
Lesław Portas (Rzeszów)
Rudolf Weigl – Krieg und Fleckfieberimpfung
Cay-Rüdiger Prüll (Freiburg im Breisgau)
Die medizinische Behandlung der Bundeswehrsoldaten zwischen 1955 und 1970 und der lange Schatten des Zweiten Weltkriegs
Sektion V: Vorsorge und Fürsorge
Antoni Jonecko (Kraków)
Alte Quellen zur Geschichte der Kriegsmedizin aus dem polnischen Sprachraum
Franz A. Sich (Pfaffing)
Die Einrichtungen und die Berufsausbildung Kriegsverletzter des Ersten Weltkrieges an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Breslau
Jörg Vögele (Düsseldorf)
Sozialpädiatrie, Säuglingssterblichkeit und der Erste Weltkrieg
Sektion VI: Kriegsdebatten & Kriegsdiskurse
Joanna Nieznanowska (Szczecin)
Der Widerhall des preußisch-französischen Krieges (1870-1871) in den Publikationen polnischer Ärzte
Aneta Bołdyrew (Piotrków Trybunalski)
Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf das natürliche Bevölkerungswachstum Polens in der Diskussion von Spezialisten der Medizin und der Demographie 1914-1927]
Philipp Rauh (Freiburg im Breisgau)
„Ueber Herzkonstatierung im Kriege“ – Die Warschauer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin im Mai 1916
Susanne Michl (Berlin)
„Invaliden der Tapferkeit“. Medizinische Konzeptionen der Kriegsangst im Ersten Weltkrieg in geschlechterspezifischer Perspektive. Ein deutsch-französischer Vergleich