1. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung

1. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung

Organisatoren
Pädagogisches Institut der Universität Zürich, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik; Carla Aubry / Michael Geiss, Universität Zürich; Andrea De Vincenti-Schwab, Universität Bern
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
30.07.2009 - 31.07.2009
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Von
Philipp Eigenmann, Pädagogisches Institut, Universität Zürich

Die 1. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung zielte darauf, bildungshistorische Dissertationsprojekte nicht primär inhaltlich, sondern im Hinblick auf den spezifischen Zusammenhang von Fragestellung, Methode und Quelle zu diskutieren. Neun Referierende aus Deutschland und der Schweiz und ähnlich viele Diskutantinnen und Diskutanten nahmen an der Werkstatt teil, die von Achim Landwehr (Universität Düsseldorf) und Eckhardt Fuchs (Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung) kritisch begleitet wurde.

Dieser kleine Rahmen ermöglichte eine große Offenheit seitens der Referierenden, methodische Hürden, theoretische Fallstricke oder auch Zweifel an der Auswahl von Quellen oder Kategorien anzusprechen und zur Diskussion zu stellen. In anregenden Rückmeldungen und Anschlussfragen wurde konstruktiv Kritik geübt und für den weiteren Verlauf der Forschung womöglich sogar der eine oder andere entscheidende Hinweis gegeben. Obgleich sich die einzelnen Beiträge inhaltlich stark unterschieden, drehten sich die Diskussionen doch immer wieder um ähnliche Fragen zum Umgang mit theoretischen Modellen, mit methodischen Angeboten oder mit dem Quellenbestand. Die Chancen und Schwierigkeiten einer diskursanalytischen Perspektive oder eines netzwerkanalytischen Ansatzes, die Möglichkeit einer theoretischen Perspektive jenseits der Dichotomie von Struktur und Handlung sowie die Problematik eines allzu umfassenden Quellenbestandes seien hier exemplarisch genannt.

LUKAS BOSER (Bern) befasst sich in seiner Dissertation mit der „Entstehung, Etablierung und Pädagogisierung eines Standards“ am Beispiel des metrischen Maßes. In diskursanalytischer Perspektive untersucht Boser sowohl Rechenbücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert als auch Publikationen, die die öffentliche und politische Diskussion jener Zeit widerspiegeln. Die Fragen nach dem Warum und dem Wie der Einführung des metrischen Standards in der Schule sind insofern interessant, als Boser der These folgt, dass Schule eines der oder gar das entscheidende Instrument zur Durchsetzung eines einheitlichen (natur-)wissenschaftlichen Standards gewesen sei.

Ebenfalls in diskursanalytischer Perspektive geht MARINA MÜLLER (Trier) ihren Gegenstand „Bildung gegen Armut“ an. Sie fragt danach, wie, wann und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Idee entstand, Armut mit Bildung zu bekämpfen, und greift dafür einerseits auf normative Texte wie Almosenordnungen, andererseits auch auf Predigten oder Gründungsurkunden von Institutionen aus dem 16. Jahrhundert zurück. Ein solches Vorgehen birgt die Schwierigkeit, die damalige soziale Lage nicht mit heutigen Begriffen untersuchen und beschreiben zu wollen, sondern den Blick darauf zu werfen, welche Bedeutung dem Phänomen der Armut zugeschrieben wurde.

Das dritte diskursanalytische Projekt stellte MICHÈLE HOFMANN (Bern) vor. Sie beschäftigt sich mit Gesundheit und Krankheit im schulischen Kontext in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hofmann betonte in ihrer Präsentation methodische Überlegungen und Fragen, die sich ihr für die laufende Arbeit stellen. Darauf verwies auch ihr provokanter Titel: „Foucault – das Mass aller Diskurse?“. Hofmann plädierte dafür, die Akteursfrage auch in der diskursanalytischen Forschung nicht aus dem Blick zu verlieren und immer danach zu fragen, wer spricht. Am Beispiel der Diskussion über Tuberkulose konnte sie deutlich machen, dass für die Beantwortung der Frage nach der diskursiv hergestellten Bedeutung eines Begriffs die involvierten Akteursgruppen zwingend beigezogen werden müssen.

ANNE BOSCHE (Zürich) untersucht Schulreformen der 1960er- und 1970er-Jahre im Kanton Zürich. Als theoretisches Angebot dient ihr das aus den Politikwissenschaften bekannte Modell des Policy-Cycles. Bosche strebt aber nicht nach einer Verifizierung dieses Modells anhand ihres Beispiels, sondern fragt vielmehr nach Abweichungen bzw. Ablenkungen ursprünglicher Reformintentionen und damit nach den Grenzen und der Aussagekraft des Modells. Um dies beantworten zu können, nimmt Bosche sowohl einzelne Akteure und Akteursgruppen als auch strukturelle und soziale Bedingungen in den Blick.

Ebenfalls in einem politikgeschichtlichen Kontext bewegt sich CARLA AUBRY (Zürich) mit ihrem Vortrag zum „Wert der Schule“. Die doppelte Verwendung von „wertvoll“ – in materieller und normativer Hinsicht – lässt Aubry vermuten, dass bildungspolitische Entscheide im Spannungsfeld von ökonomischen Ressourcen auf der einen Seite und normativen Erwartungen auf der anderen Seite getroffen werden. Finanzielle Entscheide und deren Voraussetzungen sollen anhand einer mikrogeschichtlichen Rekonstruktion am Beispiel der Stadt Winterthur untersucht werden, indem strukturelle Daten, aber auch normative Quellen beigezogen werden.

Den zweiten Werkstatttag eröffnete DANIELA BARTHOLOME (Braunschweig). Ihr Dissertationsprojekt verwendet den Briefnachlass Friedrich Paulsens, um dessen Rezeption in den USA nachzuzeichnen. Von der historischen Netzwerkanalyse als Untersuchungsmethode verspricht sich Bartholome, die Verbreitung der amerikanischen Beschäftigung mit Paulsens Werk grafisch darstellen zu können. Gleichzeitig machte sie in ihrem Vortrag klar, dass das statistische Aufzeigen der im Nachlass vorhandenen Korrespondenzen eine inhaltlich-hermeneutische Auseinandersetzung mit den Briefen nicht ersetzen kann.

MICHAEL GEISS (Zürich) beabsichtigt, die Praxis der Bildungsverwaltung im Grossherzogtum Baden zwischen 1860 und 1911 zu rekonstruieren. Da Behörden in erster Linie kommunikativ arbeiten, lenkt Geiss seinen Blick auf Artikulation, Rezeption und Bearbeitung von Problemlagen durch Behörden, andere Instanzen und beteiligte Personen. Die Breite seiner Untersuchungsanlage zeigt sich auch in der Kategorisierung der verschiedenen Tätigkeiten von Schulbehörden, die von der Verwaltung von Dingen wie Schulhäusern über die Verwaltung von Personen wie Lehrkräften bis zur Verwaltung der Verwaltung im Sinne der Behörden selbst reichen.

ANDREA DE VINCENTI (Bern) zieht für ihre Untersuchung zum „Wandel der Schulrealität“ in Zürich die Kategorie des Raumes bei. Eine kartografische Visualisierung einzelner Untersuchungsergebnisse ermöglicht das Darstellen von unterschiedlichen Schulrealitäten. De Vincenti geht in Folge strukturtheoretischer Überlegungen davon aus, dass die sich zeigenden Muster auf den Karten auf unterschiedliche Begebenheiten vor Ort verweisen. Ihre Untersuchung ist vorerst in synchroner Perspektive bezüglich einer Verteilung über den Untersuchungsraum und anschliessend in diachroner Perspektive bezüglich Veränderungen im Zeitraum zwischen 1771 und 1834 angelegt.

Schliesslich stellte FRANZISKA TIMM (Berlin) die Frage nach dem „Eros in der pädagogischen Beziehung“, deren Konstruktion und Konstitution sie an einer breiten Auswahl an Quellen erforschen möchte. Gerade der Beizug von belletristischen und alltagsgeschichtlichen Quellen scheint für ihre Fragestellung äußerst aufschlussreich zu sein. Gleichzeitig ist damit jedoch die Herausforderung verbunden, aus der Fülle der vorhandenen Materialien eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Da der Begriff des Eros in den Quellen oft nicht explizit erwähnt wird, beabsichtigt Timm, mittels Begriffsfeldern die verwendete Sprache als vermittelten Zugang zu Gefühlen zu dechiffrieren. Im Vergleich dieser Begriffsfelder kann Wandel, aber auch Kontinuität erkennbar gemacht werden.

In einem kritischen Rückblick auf die Werkstatt würdigte ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf) die vorgestellten Projekte und verwies auf das vielgestaltige Verhältnis von Theorie und Empirie. Dabei machte Landwehr deutlich, dass weder ein Primat der Theorie noch einer der Empirie der wissenschaftlichen Forschung angemessen sei, sondern das Problem bzw. der zu untersuchende Gegenstand im Mittelpunkt stehen müsse. Theorie und Empirie seien gleichermaßen zu berücksichtigen: Einerseits äußere sich das Problem nur empirisch, werde also nur empirisch fassbar. Andererseits eröffnet erst der Beizug von Theorien die notwendigen Perspektiven, das Problem angemessen beschreiben zu können.

Auch ECKHARDT FUCHS (Georg-Eckert-Institut, Braunschweig) lobte die vorgestellten Forschungsvorhaben und zeigte sich von der Methodenvielfalt der einzelnen Projekte beeindruckt. Methodisch vorzugehen heiße aber nicht, sich auf das Aufzählen von Schlagwörtern und das Befolgen von Arbeitsanweisungen zu beschränken, vielmehr müsse die Methode dem Gegenstand, der Quelle, der Fragestellung, aber auch den theoretischen Überlegungen angepasst werden. Insofern sei die historische Forschung nicht an eine einheitliche Vorgehensweise gebunden. Fuchs wies auf die Bedeutung einer sorgfältig formulierten Fragestellung hin. Zudem riet er den Doktorandinnen und Doktoranden, sich nicht ausschliesslich auf geschriebene Quellen zu beschränken, sondern auch Alternativen wie Bild- oder Filmquellen in Betracht zu ziehen. Diesbezüglich seien die vorgestellten Projekte eher klassisch ausgerichtet.

Die auf der 1. Zürcher Werkstatt Historische Bildungsforschung geführten Diskussionen über den Zusammenhang von Fragestellung, Methode und Quelle legen den Schluss nahe, dass es ebenso viele Varianten dieses Zusammenhangs geben muss, wie es Forschungsprojekte gibt. Dass unterschiedliche Forschungsgegenstände und Herangehensweisen je unterschiedliche Problemstellungen offenbaren, wurde im Vergleich der vorgestellten Dissertationsprojekte deutlich. Die dazu notwendigen detaillierten Einblicke in die Forschungstätigkeit gewährten die Referierenden, die sich darauf eingelassen haben, ihren Vortrag auf die Thematik der Tagung hin auszurichten und mit einer grossen Offenheit anstehende Fragen, Schwierigkeiten und Herausforderungen anzusprechen und zur Diskussion zu stellen. Überdies haben Eckhardt Fuchs und Achim Landwehr entscheidend zur Tagung beigetragen, indem sie ihre reiche Forschungserfahrung in die Diskussion einbrachten und bisweilen mit einer wohltuenden Hartnäckigkeit die Nachwuchsforscher auf allfällige Schwierigkeiten oder Unstimmigkeiten in deren Projekten hinwiesen. Schliesslich haben auch die Diskutantinnen und Diskutanten mit ihrer aktiven Teilnahme maßgeblichen Anteil an der gelungenen Veranstaltung gehabt.

Konferenzübersicht:

LUKAS BOSER (Bern): Der Meter – Entstehung, Etablierung und Pädagogisierung eines Standards.

MARINA MÜLLER (Trier): Diskursanalytische Untersuchung der Idee ‚Bildung gegen Armut’.

MICHÈLE HOFMANN (Bern): Foucault – das Mass aller Diskurse? Konsequenzen der Orientierung an den diskurstheoretischen Überlegungen Michel Foucaults.

ANNE BOSCHE (Zürich): Wie werden Schulen reformiert? Politische Akteure zwischen Intention und strukturellen Gegebenheiten.

CARLA AUBRY (Zürich): Vom Wert der Schule. Die Verknüpfung von normativen Erwartungen und finanziellen Ressourcen.

DANIELA BARTHOLOME (Braunschweig): Transatlantische Netzwerke im Kaiserreich: Zur Rolle und Rezeption Friedrich Paulsens (1846-1908) im deutsch-amerikanischen Kulturaustausch.

MICHAEL GEISS (Zürich): Phrase oder Methode? Eine kommunikationsgeschichtliche Rekonstruktion der badischen Bildungsverwaltung.

ANDREA DE VINCENTI (Bern): Der Wandel von Schulrealität in Zürcher Bildungsräumen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ein Problemaufriss zwischen Theorie und Empirie.

FRANZISKA TIMM (Berlin): Vertrauen, Liebe und Eros in der pädagogischen Beziehung: Ein emotionsgeschichtlicher Beitrag zur Bildungsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

ECKHARDT FUCHS (Braunschweig) und ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf): Kritischer Tagungsrückblick.


Redaktion
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