1989 - Geschichtsaufarbeitung und Mythologisierung. 12. Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa

1989 - Geschichtsaufarbeitung und Mythologisierung. 12. Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa

Organisatoren
Lehrstuhl für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte, Historisches Seminar, Universität Basel
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
02.10.2009 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Nathalie Keigel, Universität Basel

Am 2. Oktober 2009 lud der Lehrstuhl für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte des Historischen Seminars der Universität Basel zum 12. Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE) ein. Unter dem Titel „1989 – Geschichtsaufarbeitung und Mythologisierung“ sollte einerseits die historische Entwicklung, die das Jahr in seinem gesellschaftlichen Stellenwert aufweist und die politische Instrumentalisierung der Wende betrachtet, andererseits unterschiedliche theoretische Ansätze zur Diskussion gebracht werden. Neben Beiträgen über Ungarn, die Tschechoslowakei und Kroatien boten zwei Aufsätze die Grundlage für eine komparative Betrachtungsweise im Umgang mit der Vergangenheit „nach der Wende“ und der Konstituierung von kollektiven Identitäten. Es stand zudem die Frage im Raum, ob das Jahr 1989 als eine allgemeine Zäsur für die jeweiligen Gebiete Ostmittel- und Südosteuropas gleichermaßen annehmbar sei.

Einleitend wiesen LAURA POLEXE (Basel) und JULIA RICHERS (Basel) auf die Aktualität des Jahres 1989 und die verschiedenen begrifflichen Konnotationen hin, die damit in Verbindung stehen und die bereits auf eine unterschiedliche Bewertung verweisen: 1989 als Wende, Umsturz, Revolution, Putsch, Transformation, Transition? Vor allem die Frage der Zäsur wurde sogleich als diskutierbarer Gegenstand eingeleitet: zur Reflexionsanregung wurden dabei 1988 für Ungarn, 1989 für Deutschland, 1990 für Jugoslawien genannt.

Auf der Grundlage des Aufsatzes „Geschichtsdenken im Umbruch. Osteuropäische Vergangenheitsdiskurse im Vergleich“ von Rudolf Jaworski1 gab die Frage: „Kann Geschichte verleugnet, aber nicht annulliert werden?“ Anlass, vor allem die weiterhin anhaltende Ausblendung der kommunistischen Vergangenheit ins Blickfeld zu rücken. Der Text „Grosse Linien. Zur Historisierung des Wandels um 1989“ von Robert Brier2 thematisierte die Frage der „Modernisierung“ und der damit verbundenen Sichtweisen auf den Kommunismus, sowie die Frage nach der postsozialistischen Zeit.

In seinem Vortrag zu den „Voraussetzungen von 'Vergangenheitsbewältigung' in Ungarn in und um 1989“ erörterte TAMÁS KANYO (Budapest) die mit diesem Thema verbundenen Probleme. Dazu gehören der „Faktor Zeit“ - seit dem Ende der kommunistischen Ära sind nur 20 Jahre vergangen - und als wesentlicher Punkt auch das Fehlen eines „linguistic turn“ politischer Grundbegriffe. Sogar die Geschichtswissenschaft, argumentierte er, weise dabei eine unkritische Begriffsverwendung auf. Zudem sei in Ungarn die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung nach wie vor nicht gegeben und an Universitäten werde kaum eine konstruktive Diskurskultur gepflegt. Hinzu komme die relative Abhängigkeit akademischer Institutionen vom Staat, ein erschwerter Quellenzugang und – für westeuropäische Wissenschaftler/innen – die Sprachbarriere.

IVO MIJNSSEN (Basel) erörterte in einer komparativen Betrachtung des politischen Denkens von Vaclav Havel und Vaclav Klaus anhand unterschiedlicher Interviews das jeweilige „Freiheitsverständnis“ der beiden Politiker: Havel stehe hier als moralische Autoritätsfigur dem Berufspolitiker Klaus gegenüber. In seiner Wertvermittlung propagierte Havel, so Mijnssen, keinen geschlossenen Staat, sondern eine Öffnung, z.B. den NATO-Beitritt. Für Klaus bedeutete der „Weg in die Freiheit“ freie Märkte. Gerade weil „Freiheit“ ein so vage definierter Begriff war, bot sich eine neoliberale Definition an. Tschechien hätte die „Rückkehr nach Europa“ zwar geschafft, die Verwundbarkeit nach außen sei jedoch geblieben. Eine partielle Idealisierung des kommunistischen Systems seitens der Bevölkerung sei ein paar Jahre nach 1989, wie bei anderen ehemaligen „Ostblockstaaten“, auch im Falle Tschechiens festzustellen.

In der Diskussion wurde festgehalten, dass aus dem Freiheitsbegriff von Klaus eine Skepsis gegenüber der politischen Partizipationsfähigkeit der Bürger evident wird. Für Rumänien ist dabei eine ähnliche Vorstellung festzustellen. Hier lautet der Grundtenor ebenfalls: wirtschaftliche Freiheit ist der erste Schritt zur politischen Freiheit.

Am Nachmittag lag der thematische Schwerpunkt auf Südosteuropa, insbesondere auf Kroatien. NADINE FREIERMUTH (Basel) und NATHALIE KEIGEL (Basel) stellten in ihrem gemeinsamen Vortrag „Vergangenheitsdiskurs in Kroatien am Beispiel von Fußball und Kirche“ die Trägerschaft dieser beiden „sozialen Plattformen“ im Nationalisierungsprozess während der 1970er- und 1980er-Jahre dar. Fußball bzw. die Tribüne und vor allem die Trägergruppe der Fangemeinschaft der „Bad Blue Boys“, hätten sich im Vorfeld des Zerfalls Jugoslawiens aktiv zur Trägergruppe des Nationalen erhoben. An deren propagierten Inhalten und der Rezeption von Ustaša-Symbolen ließe sich der Geschichtsrevisionismus in Kroatien ablesen, der in Form einer positiven Erinnerung an den faschistischen „Unabhängigen Staat Kroatien“ manifest werde. Keigel argumentierte, die Kirche habe in dieser Zeit eine ähnliche Funktion übernommen und nicht zuletzt durch ihre Initiative sei es zu einer ausschließlich positiven Bewertung und „Wiederbelebung“ des kontroversen, während des NDH tätigen Erzbischofs Stepinac gekommen. Evident an beiden Beispielen werde eine deutliche Abgrenzungs- bzw. Konstituierungsrhetorik Kroatiens von Jugoslawien und von Serbien.

ANNA HODEL (Basel) stellte in ihrem Vortrag die kleine Minderheit der Bosniaken in Zagreb, die sich als Muslime kroatischer Nationalität betrachten, vor. Im Zentrum der Präsentation standen die historische Betrachtung ihrer zentralen kulturellen Orte – der beiden Zagreber Moscheen – sowie die Konstituierung und der Kontext ihres muslimisch-kroatischen Selbstverständnisses. Dabei wurde deutlich, dass im Prozess der „Nationalisierung“ Bosnien einen Sonderfall darstelle. In der Diskussion stand vor allem zur Debatte, ob sich von einem solchen „Mikronarrativ“ der Bosnjaken Schlüsse auf größere Zusammenhänge ziehen lassen. Mit Bezug auf Derridas „Geschichte von den Rändern schreiben“ wurde diese Frage ausdrücklich bejaht.

In der anschließenden Diskussion kam erneut die Frage nach der zeitlichen Lokalisierung der Zäsur auf. Für Kroatien nimmt das Jahr 1989 keinen Zäsurstatus ein. Auch hier könnte man eher das Jahr 1990 mit der Einführung des Mehrparteiensystems als Zäsur sehen.

Die Schlussdiskussion zeigte, dass allen beim Arbeitstreffen vorgestellten Beispielen die Veränderung der Funktion von Geschichte und ein entideologisierter und gleichzeitig aber neu ideologisch kodierter Umgang mit der Vergangenheit gemeinsam sind. Damit verbunden ist außerdem ein erschwerter beziehungsweise selektiver Quellenzugang sowie deren teilweise Vernichtung, aber auch ein manipulativer respektive methodisch fragwürdiger Umgang mit den zugänglichen Quellen. Als weitere Gemeinsamkeit wurde das Fehlen eines „linguistic turns“ historischer Grundbegriffe im politischen Gestaltungsfreiraum nach 1989 angeführt, was erst in „defekte Demokratien“ mündete. Auch die Intensität des nachträglichen Nationalismus wurde aufgegriffen und im Vergleich diskutiert, wobei das sozialistische Jugoslawien auch in dieser Hinsicht einen Sonderfall darstellt. Anschließend wurden Themenvorschläge für das nächste FOSE-Treffen gesammelt, welches am 12. oder 13. März 2009 voraussichtlich in Zürich stattfinden wird.

Konferenzübersicht:

Julia Richers, Laura Polexe (Basel): Begrüssung, Einführung in das Thema und Textdiskussion

Tamas Kanyó (Budapest): Voraussetzungen von "Vergangenheitsbewältigung" in Ungarn in und um 1989

Ivo Mijnssen (Basel): Die Tschechoslowakei und 1989

Diskussion

Nadine Freiermuth & Nathalie Keigel (Basel): Vergangenheitsdiskurs in Kroatien am Beispiel von Fussball und Kirche

Anna Hodel (Basel): Moscheen und Identität(en) in Zagreb vor und nach 1990

Schlussdiskussion und Ausblick auf die weiteren Aktivitäten des Forums Ostmittel- und Südosteuropa

Anmerkungen:
1 Rudolf Jaworski, Geschichtsdenken im Umbruch. Osteuropäische Vergangenheitsdiskurse im Vergleich, in: Umbruch im östlichen Europa, Andrei Corbea-Hoisie u.a. (Hrsg.), Innsbruck 2004, S. 27-44.
2 Robert Brier, Grosse Linien. Zur Historisierung des Wandels um 1989, in: Osteuropa, 59 (2009), Heft 2-3, S. 381-391.

Kontakt

Nathalie Keigel, Universität Basel
E-Mail: <nathalie.keigel@stud.unibas.ch>


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts