Aristotelismus an deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts

Aristotelismus an deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts

Organisatoren
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2009 - 03.11.2009
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Von
Ulrike Zeuch, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Am 2. und 3. November 2009 fand das an und von der Herzog August Bibliothek veranstaltete und von Ulrike Zeuch (Wolfenbüttel) geleitete interdisziplinäre Arbeitsgespräch zum „Aristotelismus an deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts“ statt. Der internationale Teilnehmerkreis kam aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Ungarn, England und den USA. Die durchweg auf eine breite Quellenbasis gestützten, mikroanalytisch bestätigten Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden:

1. Es gab nicht den Aristoteles an deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts, sondern eine Vielzahl von Aristotelismen, unterschieden nach Disziplin, Lehrpersonal und vorherrschendem, intellektuellem Klima an den Universitäten.

2. Die systematische Stellung des Organon und die Abfolge der ihm angehörenden Schriften ist zwar mit einiger Sicherheit nicht von Aristoteles selbst festgelegt worden und war schon in der Antike in vielen Punkten umstritten. Sie ist aber Ergebnis einer intensiven wissenschaftssystematischen Diskussion, die mit Andronikos von Rhodos (1. Jahrhundert v.Chr.) beginnt und bis ins 6. Jahrhundert n.Chr. reicht und von dort, nicht zuletzt über Boëthius, in die mittelalterliche Philosophie eingegangen ist (hierzu RAINER THIEL).

3. Zwar gehörte der Aristoteles eines sämtliche Wissenschaften systematisch wie methodisch integrierenden Systems im 17. Jahrhundert insofern der Vergangenheit an, als man aufgrund neuer geistiger Tendenzen der Zeit diese Klammer nicht mehr zu benötigen meinte. Das heißt aber nicht, dass deswegen von einer Entwicklung seit dem 15. Jahrhundert von Autorität zu Pluralität zu sprechen wäre. Denn das würde nahelegen, es habe in der Scholastik einen einheitlichen Aristoteles gegeben, der dann gesplittet worden sei. Und es würde die Unterschiede in den Kontroversen des 12. und 13. Jahrhunderts um die aristotelische Metaphysik und den Status der Allgemeinbegriffe (via moderna, Wilhelm von Ockham, Duns Scotus etc.; hierzu LUDGER HONNEFELDER) ignorieren.

4. Die Auseinandersetzung um eine neue Fundierung der Wissenschaften seit dem Humanismus macht Aristoteles nicht obsolet; vielmehr erfolgen die Auseinandersetzungen entlang Aristoteles, wie das Beispiel der Universität Ingolstadt (hierzu MAXIMILIAN SCHUH) zeigt: Der durch die neuplatonische und arabische Kommentartradition vermittelte Aristoteles wurde in weiten Teilen ersetzt durch den nach dem Fall von Konstantinopel 1453 ‚frischen‘ Aristoteles mit bis dato unbekannten Handschriften, die übersetzt und kommentiert wurden. Der durch die Kommentierung durch Thomas von Aquin vermittelte scholastische Aristoteles wurde ersetzt durch den humanistischen, der humanistische Aristoteles wurde mit dem Aristoteles der theologischen Reformation vermittelt.

5. Die massiven Invektiven des frühen Luther im Zuge der rhetorischen Polemik gegen die katholische Rechtfertigungslehre waren der aktuellen Situation der Zeit geschuldet (hierzu THOMAS KAUFMANN), blieben aber nicht bestimmend für die Zeit um 1600 – die Hochzeit der protestantischen Reformuniversitäten. Sonst ließe sich nicht erklären, wie die zur Ausbildung des theologischen wie juristischen Nachwuchses der jeweiligen Territorien bestimmten Universitäten, wie etwa im Falle von Helmstedt, vom Landesherren ausgerechnet auf den Aristoteles des Späthumanismus verpflichtet wurden, wodurch eben jene Mischung (mixtura) von Metaphysik und Theologie verordnet wurde, welche die frühe reformatorische Bewegung verurteilte; diese Verordnung von oben aber kann die weit vor 1600 eingeleitete Segmentierung des Aristoteles in verschiedene Aristotelismen nur kurzfristig aufhalten, nicht aber grundsätzlich verhindern (hierzu ULRIKE ZEUCH).

6. Aristoteles blieb zentraler Autor der Curricula und wurde nicht, wie Luther dies eigentlich wollte, von der Universität verbannt. Zudem hatten die Reformatoren (Luther, Zwingli, Calvin, Melanchthon etc.) selbst ein sehr eigenes Verhältnis zu Aristoteles und der Stellung der Metaphysik zur Theologie und wurden wiederum unterschiedlich wahrgenommen und – äußerst ambivalent zum Teil – rezipiert, wie dies sich beispielsweise an der Universität Altdorf ablesen lässt. In jedem Fall gilt es – auch dies ein Ergebnis des Arbeitsgespräches –, sich vor verallgemeinernden Urteilen wie etwa, dass alle calvinistischen Universitäten durch den Ramismus bestimmt gewesen seien, zu hüten; die genaue Analyse einzelner Universitäten im Detail spricht dagegen (hierzu GÜNTER FRANK, JAN ROHLS, WALTER H. SPARN).

7. Selbst im Falle kritischer Distanzierung von Aristoteles blieb dieser präsent und wurde, je nach personeller wie institutioneller Konstellation, reaktiviert, wie die in ganz Europa an protestantischen Universitäten von Finnland über Schottland bis Frankreich, Deutschland und Italien geführte Diskussion über die Frage, ob die Tiere beseelt seien, zeigt. Denn die cartesische kategoriale Trennung zwischen res cogitans und res extensa trieb einen tiefen Keil zwischen ein – so Descartes‘ Annahme – radikal der Naturkausalität unterliegendes tierisches (nunmehr nicht mehr animalisches) Wesen und den Menschen (hierzu BERND ROLING). Doch das, was wie ein Siegeszug des Cartesianismus im 17. Jahrhundert in dieser Frage aussieht, erweist sich bei genauerer Analyse der Quellen als uneindeutiger. Der Konflikt zwischen dem aristotelischen und dem cartesischen Konzept der Tierseele zog sich durch das gesamte 17. Jahrhundert: Das empirische Belegmaterial wurde umfangreicher; die Argumente wurden ausgefeilter, die Schlussfolgerungen weiterreichend. Dazu nur zwei Beispiele: Warum sollte die menschliche Seele analog zur tierischen, die unter cartesischer Prämisse rein materiell verstanden wurde und damit vergänglich war, nicht ebenso vergänglich sein? Aber auch in die umgekehrte Richtung wurde gedacht: Wenn die menschliche Seele aufgrund der ihr eigenen Potentialität fähig sei, den menschlichen Intellekt zu übersteigen, warum nicht auch die des Tieres?

8. Bei dem Aristotelismus an deutschen Universitäten des 17. Jahrhunderts handelte es sich um ein Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In der Poetik, Rhetorik und Ethik - (hierzu MARTIN SCHMEISSER) blieb Aristoteles bei weitem länger und unangefochtener allgemein verbindliche Autorität als im Bezug auf Theologie, Kosmologie oder Metaphysik. Die gereinigte Metaphysik der Sozinianer (hierzu SASCHA SALATOWSKI) etwa favorisierte eine materielle Konzeption der menschlichen Seele; und auch Gott hatte keinen transzendenten Status: Weder war er überall, noch unendlich, noch unermesslich. Das Wesen und damit auch das göttliche Wesen, so die Annahme, realisierte sich erst in der Existenz. Die metaphysisch begründete Wahrheit einer adaequatio rei et intellectus wich der Behauptung einer Pluralität von Wahrheiten der einzelnen Disziplinen und der dialektischen Wissenschaften (hierzu FRANCESCO TOMMASI); auch wurde der univoke Begriff des Seins bestritten und man meinte, sich dabei gegen Aristoteles zu richten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass den univoken Seinsbegriff, gegen den man sich richtete, schon Aristoteles in der Metaphysik bestritt und seine Affirmation eindeutig stoisch war. Trotz vermehrter wissenschaftlicher Bemühungen in diese Richtung ist die Erforschung der stoischen Implikationen der Aristoteles-Rezeption seit der Frühen Neuzeit nach wie vor ein Desiderat.

9. Am erstaunlichsten ist der Befund, dass Aristoteles im 17. Jahrhundert bei aller Kritik, ja Polemik und Instrumentalisierung seiner Autorität pro und contra selbst noch in der Verneinung zentraler Bezugspunkt und Motor für eine kritische Auseinandersetzung mit Grundfragen der Wissenschaftstheorie der einzelnen Disziplinen blieb. Die Abkehr von Aristoteles infolge seiner sukzessiven Entmachtung durch Historisierung und Relativierung in der historia literaria ist weder absolut noch endgültig. Zwar brach die Trias der Theologie, Kosmologie und Anthropologie auf (Sparn) und war durch Aristoteles, wie er in der Schulphilosophie seit dem 15. Jahrhundert rezipiert wurde, nicht mehr zu kitten. Aber Aristoteles blieb wirksam und lebendig.

10. Was allerdings Ende des 17. Jahrhunderts endgültig aus dem Blick geriet, ist das Wissen um die Transzendenz, um die Nichtableitbarkeit der höchsten Prinzipien und eine, in den Prämissen der jeweiligen Wissenschaften und in dem Grad der Bestimmbarkeit ihrer jeweiligen Inhalte begründeten, Hierarchie der Disziplinen. Damit waren auch die von der aristotelischen Logik bestimmten Grenzen der Empirie und Induktion nicht mehr präsent.

Die Ergebnisse der Tagung werden dokumentiert und voraussichtlich in den Wolfenbütteler Forschungen (Harrassowitz Verlag) erscheinen.

Konferenzübersicht:

Ulrike Zeuch (Wolfenbüttel): Eröffnung der Tagung und Begrüßung der Teilnehmer

Rainer Thiel (Jena): Aristotelische Logik und Wissenschaftstheorie

Ludger Honnefelder (Bonn): Wirkungsgeschichte des mittelalterlichen Aristotelismus in der frühen Neuzeit (Johannes Duns Scotus)

Thomas Kaufmann (Göttingen): Antiaristotelismus in der frühen Reformation und die Folgen

Günter Frank (Bretten): Reformation und Aristotelismus

Walter H. Sparn (Uttenreuth): Protestantische Schulphilosophie – Differenzen und Ambivalenzen

Jan Rohls (München): Reformierte Ausbildungsstätten

Martin Schmeisser (München): Johann Crells ‚Aristotelische Ethik‘

Bernd Roling (Münster): ‚Anima brutorum‘ an den mitteldeutschen und skandinavischen Universitäten und ihre Diskussion zwischen Aristoteles und Descartes

Francesco Tommasi (Rom): Theorie der Wahrheit als adaequatio und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Universität Altdorf

Maximilian Schuh (Münster): Sieg des Humanismus? Aristotelismus an der Universität Ingolstadt im 16. Jahrhundert

Ulrike Zeuch (Wolfenbüttel): Entmachtung des Aristoteles an der Universität Helmstedt


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