Political History: Recent Trends in International Perspective

Political History: Recent Trends in International Perspective

Organisatoren
Prof. Dr. Willibald Steinmetz, Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey, Prof. Dr. Heinz-Gerhard Haupt (SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, Universität Bielefeld)
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2009 - 12.12.2009
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Von
Verena Steller, Historisches Seminar, Goethe Universität Frankfurt am Main; Stefan Scholl, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

Initiativen, die Politikgeschichtsschreibung in Form einer „Kulturgeschichte der Politik“ bzw. „des Politischen“ (Thomas Mergel, Barbara Stollberg-Rilinger), einer „Neuen Politikgeschichte“ (Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt) oder einer „Diskursgeschichte des Politischen“ (Achim Landwehr) neu zu beleben, haben in Deutschland in den letzten Jahren zu intensiven Debatten geführt.1 Im produktiven Dialog dieser Ansätze bleibt trotz zahlreicher Überlagerungen und Verflechtungen kontrovers, wie ‚Politik’ bzw. ‚das Politische’ überhaupt zu konzeptualisieren sei. Diese Diskussionen waren und sind jedoch keineswegs auf den deutschsprachigen Raum begrenzt. Die Tagung des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“2 hatte zum Ziel, das Gespräch über eine erneuerte Politikgeschichte jenseits der Grenzen nationaler akademischer Forschungszusammenhänge hinweg zu reflektieren und anzuregen.

Die Beiträge der ersten Sektion behandelten Entstehung und Wandel des Politikbegriffs als „Marker des Politischen“ in verschiedenen zeitlichen und räumlichen Kontexten. Die diffusen und changierenden Bedeutungen, die sich eindeutigen Definitionsversuchen entzogen, sowie das Fortbestehen unterschiedlicher Bedeutungsschichten des Politikbegriffs wurden dabei von allen Beiträgen belegt. Diese Eigenschaften machen den Begriff ‚Politik‘ mithin zu einem Grundbegriff politisch-sozialer Sprache. Eine inhaltliche Gemeinsamkeit kristallisierte sich insofern heraus, als dass die pejorativen Verwendungen des Begriffs ‚Politik‘ in allen Beispielen eine zentrale Rolle spielten. So zeigte JAVIER FERNÁNDEZ SEBASTIÁN (Bilbao), wie ‚Politik‘ in Spanien Anfang des 19. Jahrhunderts aufhörte, lediglich einen Arkanbereich der Verwaltung und Regierung zu bezeichnen und verstärkt mit den liberal-demokratischen Reformbestrebungen gleichgesetzt wurde. Die „politicomania“ der Liberalen wurde allerdings von konservativer Seite heftig kritisiert. PASI IHALAINEN (Jyväskylä) zeichnete die Verwendungsweisen des Politikbegriffs als über weite Strecken „verachtetes Wort“ in finnischen und schwedischen Parlamentsdebatten des 19. und 20. Jahrhundert nach. Während ‚Politik‘ im 19. Jahrhundert entweder mit verdächtigen Aktivitäten fremder Territorialmächte oder den „Häresien“ der Französischen Revolution identifiziert wurde, kam es erst Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer partiellen Aufwertung in Artikulation mit dem Staatsbegriff. MICHAEL FREEDEN (Oxford) machte im britischen linksliberalen Diskurs um 1900 die Tendenz aus, um den Terminus ‚Politik‘ „herumzunavigieren“ – progressive Intellektuelle bevorzugten den Begriff ‚Sozialreform‘, da ‚Politik‘ unter seinem schlechten Image litt: ‚Politics‘ galt hier eher als Synonym für Intrige und Parteiung und als zu wenig effizient, um die hohen Erwartungen der „science and art of government“ zu erfüllen.

MARTIN PAPENHEIM (Bielefeld) ging in seinem Beitrag über die semasiologische Betrachtung hinaus und machte im frühneuzeitlichen Europa drei sich sukzessiv ablösende begriffliche „Gravitationszentren“ aus, um die herum das Politische eingeordnet wurde: ‚Ratio‘, ‚Interesse‘ und ‚Politik‘. Seine Darstellung des semantischen Wandels und der Konjunkturen dieser Begriffe, die er mit einem sich ändernden Erfahrungsraum, insbesondere im Zuge der Entstehung einer ‚modernen‘ Form von Staatlichkeit, erklärte, verwies auf die grundlegende Frage nach dem Verhältnis zwischen Begriffsgeschichte und einer „Geschichte des Politischen“, die in der anschließenden Diskussion problematisiert wurde. WILLIBALD STEINMETZ (Bielefeld) wies klärend darauf hin, dass der Beitrag historisch-semantischer Untersuchungen vor allem darin bestehe, zu zeigen, auf welche Weise Sprache über die Bezeichnung dessen, was jeweils als ‚politisch‘ bezeichnet und wahrgenommen wurde, Anteil an der Erzeugung und Transformation des ‚Politischen‘ hatte. Der Gebrauch des Politikvokabulars sei insofern ein wichtiger Indikator und Faktor im Prozess der Herausbildung politischer Räume und Praktiken.

In der folgenden Sektion wurden aktuelle methodisch-theoretische Zugänge zu einer neuen Politikgeschichte aufgegriffen und aus der Perspektive der verschiedenen nationalen Forschungskulturen diskutiert. Wie ECKART CONZE (Marburg) einleitend bemerkte, gehe es in den Debatten nicht zuletzt um die Einordnung der Transformationen von Staatlichkeit, um die Frage nach sich wandelnden Machtverhältnissen und um klare analytische Bestimmungen des Politischen. HEINZ-GERHARD HAUPT (Bielefeld/Florenz) stellte die epochenübergreifende Perspektive des Bielefelder SFB vor, in dessen konstruktivistischen Verständnis Kommunikationsprozesse untersucht werden, die den Raum des Politischen in historisch variabler Form hervorbringen, strukturieren und transformieren. Dementsprechend konzentrieren sich die Fragestellungen auf Prozesse und Strategien der Politisierung und Depolitisierung von Themen, Akteuren und Praktiken sowie damit einhergehende Mechanismen der In- und Exklusion. Gleichzeitig geht der SFB dem Einfluss bzw. der Präsenz religiöser, ästhetischer, ökonomischer und anderer Diskurse, Semantiken oder Codes in analytisch bestimmter politischer Kommunikation nach.

Auch PATRICK JOYCE (London/Manchester) regte dazu an, das Politische neu zu denken, ausgehend von den Begriffen ‚Staat‘, ‚Macht‘ und ‚Regierung‘ (‚governance‘). Mit theoretischer Bezugnahme auf die ‚governmentality studies‘ im Anschluss an Foucault entwarf er ein Forschungsprogramm, das unterschiedliche Regierungsformen und -technologien zum Objekt der Analyse macht und diese mit Bruno Latour als netzwerkartige Zusammenhänge dinglicher und menschlicher Akteure versteht. In einer Geschichte des Politischen würde so gezeigt werden, auf welche Weise sich bürokratische, politische und technische Macht- und Herrschaftsformen überlappen.

GARY GERSTLE (Vanderbilt/Nashville) lieferte einen Überblick über neuere Diskussionen in der US-amerikanischen Politikgeschichte. Dabei hob er den Einfluss des ‚cultural turn‘ seit den 1980er-Jahren hervor, der das Themenspektrum mit Fragen nach der Konstruktion der USA als ‚Nation‘ sowie nach Diskursen und Praktiken der In- und Exklusion und Identitätsbildung erweitert habe. Anfechter der These des ‚american exceptionalism‘ hätten außerdem die Frage nach Staatlichkeit neu gestellt und für den amerikanischen Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts auf die Einbettung und Diffusion des Staates in die Gesellschaft hingewiesen.

In seiner Beschreibung der Entwicklung der niederländischen Historiographie machte HENK TE VELDE (Leiden) gleichermaßen seit den 1980er-Jahren ein wiedererstarktes Interesse an politikgeschichtlichen Fragestellungen aus. Unter dem Einfluss von Kultur-, Ideen- und Begriffsgeschichte seien Fragen der politischen Kultur und der Repräsentation von Politik in Zentrum gerückt worden. Er warnte allerdings davor, den Untersuchungsgegenstand zu weit zu fassen – es gelte, einen klar umrissenen Bereich der Politik zu analysieren und vor allem die nationalstaatliche Perspektive nicht zu vernachlässigen.

Einige der Beiträge, aber auch die anschließende Diskussion zeugten von einer gewissen Skepsis, die Perspektive des Bielefelder SFB einzunehmen, der den Staat als einen Akteur unter anderen im Raum des Politischen verortet, Politik jedoch besonders in epochenübergreifender Betrachtung nicht auf diesen reduziert. Der Begriff der ‚Staatlichkeit’ deutete sich zudem als Möglichkeit an, ein zu essentialistisches Staats-Verständnis zu hinterfragen. Darüber hinaus wäre es möglich, ‚Staat’ zu rekonzeptualisieren, indem dieser als diskursiver Knotenpunkt von Regierungstechniken und Wissensordnungen historisiert wird.

Die dritte Sektion richtete den Blick auf Phänomene der (De-)Politisierung des Ökonomischen. LARS BEHRISCH (Utrecht) arbeitete heraus, auf welche Weise die Entwicklungen der wirtschaftlichen Theoriebildung in Gestalt von Kameralistik und Physiokratie in Deutschland und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts neue regulierbare Objekte wie ‚Bevölkerung‘, ‚Produktion‘ und ‚Konsumption‘ hervorbrachten sowie die Statistik als politische Wissensform etablierten. Der Frage, welche Rolle ökonomische Probleme für das Politische spielen können, ging auch ALAIN CHATRIOT (Paris) nach. In seinem Beispiel der Regulierung des Getreidehandels in Frankreich am Anfang des 20. Jahrhunderts deutete er die beobachtete Politisierung in erster Linie als Resultat parteiübergreifender Initiativen zur institutionalisierten Regulierung der Agrarwirtschaft, und zwar sowohl durch legalistische Maßnahmen als auch auf der Ebene des Weltmarktes durch die Schaffung internationaler Organisationen. Entsprechend warb er zur Bestimmung des historischen Verhältnisses von Politik und Ökonomie für eine genaue Analyse der Funktionsweise von Institutionen, in der die Wechselwirkung von staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Kräften zu beachten sei. SIMONA CERUTTI (Paris) integrierte mit dem Rechtlichen eine weitere Dimension in ihre Betrachtungen. Sie beschrieb, wie die Ausgestaltung des überregionalen kaufmännischen Rechtssystems im 18. Jahrhundert zur Delegitimierung traditioneller Rechtsauffassungen im System lokaler Privilegien beitrug, indem es in wirtschaftlichen Beziehungen die Gleichheit zwischen Fremden und Einheimischen postulierte. In seiner Beschränkung auf das Ökonomische unterschied sich das System der „law merchants“ allerdings vom egalitären Ideal des Aufklärungsdiskurses, das auf universellen Menschen- und Bürgerrechten basierte.

Insgesamt verdeutlichten die Diskussionen der Sektion die Notwendigkeit einer analytischen Klärung der Begriffe der Politisierung und der Depolitisierung, insbesondere mit Bezug auf das Ökonomische. Die Entscheidung, Wirtschaft und Politik als klar abgrenzbare Bereiche aufzufassen, läuft ferner Gefahr, die historischen Grenzziehungsprozesse und -strategien zu vernachlässigen, die diese erst als Entitäten hervorbringen. Speziell Lars Behrisch konnte an seinem Beispiel demonstrieren, wie eine neue Perspektive auf ‚das Ökonomische‘ gleichsam dessen Politisierung vollzog. Die Ambiguität des Verhältnisses zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen seit der Frühen Neuzeit würde außerdem deutlicher, wenn man das Einfließen ökonomischer Diskurselemente in den Raum politischer Kommunikation als gleichzeitig ablaufende Ökonomisierung ‚des Politischen‘ begreifen würde.

Das vierte Panel wandte sich Repräsentationen und performativen Aspekten des Politischen zu: Sichtbarkeiten und Visibilisierungsstrategien öffneten das Spektrum methodisch über eine Einbeziehung der Geschichte der Wahrnehmungen und Inszenierungen des Politischen im öffentlichen Raum im Sinne einer Kulturgeschichte der Politik, wie DOMINIK GEPPERT (Bonn/Berlin) einleitete. In diesem Zusammenhang richtete CARLA VAN BAALEN (Nijmegen) den Blick auf die Praxis politischer Kommunikation und untersuchte die Visibilisierung der niederländischen Monarchie im 20. Jahrhundert bei Krönung, Kabinettseinsetzung und der alljährlichen Eröffnung des Parlaments. Im niederländisch-britischen Vergleich ließen sich diese Zeremonien der „Queen-in-Parliament“ sowohl als monarchistische Huldigungsveranstaltungen als auch als demokratische Einholung des Monarchen lesen. War die demokratisch-partizipative Interaktion für die moderne konstitutionelle Monarchie beim Verfassungsakt der Krönung genauso wichtig wie in den Situationen parlamentarischer Alltagshandlungen? Van Baalen lud dazu ein, Formsprachen von politischer Kommunikation in ihrer Verhandelbarkeit und Wandlungsfähigkeit zu betrachten.

Mediale Kommunikation und die Definition des Politischen beschäftigten auch MEIKE VOGEL (Bielefeld) in ihrem Beitrag zur massenmedialen Formung des politischen Protestes in der Bundesrepublik zwischen 1966 und 1969. Kameraführung und Schnitttechniken ließen einerseits Bilder eines Protestes entstehen, die zunächst als Gefährdung von „Recht und Ordnung“ inszeniert wurden. Andererseits wurde der Staat als unfähig dargestellt, angemessen auf legitime Proteste zu reagieren. Die Berichterstattung wurde zu einem polarisierenden „Kommunikationsereignis“, das einen breiten öffentlichen Diskurs über legitime Formen politischer Partizipation ebenso ermöglichte wie es Protest und politische Ordnung selbst formte.

CHRISTOPHE PROCHASSON (Paris) kehrte mit Jean Jaurès zur Tribüne als „klassischem Ort der Rede der Macht“ (J. Starobinski) zurück: an jenen Ort, der für Jaurès Performanz, Repräsentation und Deliberation bedeutete. Die politische Rede galt Jaurès als Übung und Ausbildung in Staatsbürgerschaft und als Gelegenheit zu Debatten, in denen sich in vernünftigem Diskurs das sozialistische Programm herauskristallisieren würde. Wie Prochasson betonte, war es vor allem der Einsatz spezieller „techniques du corps“ (M. Mauss), der die Performanz der Reden von Jaurès auszeichnete. Die Bedeutung der „languages spoken and languages seen“ als Werkzeuge der Begegnung und der Macht hob Michael Freeden deutlich hervor.

ALBERTO BANTO (Pisa) griff im letzten Panel-Beitrag den Impuls zur stärkeren Berücksichtigung von Narrativen auf: Der Risorgimento-Diskurs in Italien speiste sich im 19. und 20. Jahrhundert aus bereits existierenden christlichen Narrativen und Symbolen. Die Darstellung Garibaldis als leidender Christus stilisierte ihn zum säkularen Heiligen und patriotischen Märtyrer einer nationalen Glaubensmission. Daraus resultierte nicht zuletzt eine holistische Konstruktion der Nation mit der Losung: eine Nation, eine Person, ein Wille, was Folgen für den Stil politischer Debatten zeitigte: Meinungsdifferenz erschien nicht als berechtigter Meinungspluralismus, sondern als Devianz vom rechten Weg – ein Schema, das sich auch im Faschismus nicht verändern sollte.

Das fünfte Panel wandte sich schließlich der Öffnung und Neukonstituierung von Grenzen des Politischen und der Konstruktion politischer Räume zu. Zugleich lud es zur Reflexion epistemologischer Wege über den ‚klassischen’ nationalgeschichtlichen Rahmen der Politikgeschichte hinaus ein (ANDREAS VASILACHE, Bielefeld). DIANA MISHKOVA (Sofia) plädierte eingangs für eine weitere Theoretisierung des Räumlichen: Gerade die multi-ethnischen, multi-konfessionellen Gesellschaften der Balkan-Region machten deutlich, dass die Herausbildung der Diskurse über Nation und Nationalismus mit ihrer Überlagerung von wissenschaftlicher und politischer Semantik einer besonderen räumlichen Erfahrung und Einbettung der Region entspringen, wie sie anhand der Balkanologie aufzeigte. Historische Ereignisse sollten verstärkt als Korrelation von Zeit- und Raumschichtungen, das heißt als Mehr-Ebenen-Erfahrung, begriffen werden. Eine solche Sensibilität für die kognitive Dimension könnte sich nicht zuletzt für Debatten der histoire croisée, Verflechtungs- und Transfergeschichte als anregend erweisen.

Pluralisierung und der Umgang mit Diversität standen im Mittelpunkt des Beitrags von ALEXANDER M. SEMYONOV (Petersburg), der auf eine Neukonzeption der russischen Empire-Geschichte zielte. Die Einberufung der ersten Duma 1905 schuf einen neuen Raum des Politischen und regte an, die Repräsentationspolitik des Reiches auf Bewältigungsstrategien politischer Differenz hin zu untersuchen. Weder die regionale, ethnische noch konfessionelle Herkunft der Abgeordneten wurden zu Markern der Differenz, sondern die Ideologie. Die imperiale Strategie, Sprachen des Pluralismus einstweilen zuzulassen und zu pflegen, galt Zeitgenossen als Ausweis moderner Politik, ließ sich aber nicht mit Liberalismus gleichsetzen und warf Fragen nach der Auseinandersetzung zwischen Pluralismus und Relativismus auf.

OLAF KALTMEIER (Bielefeld) beleuchtete anhand des Beispiels der Hacienda in der Anden-Region, wie räumliche Praktiken verschiedener lokaler Akteure spezifische Räumlichkeit konstituieren und transformieren können. Seine Untersuchung zeigte die Hacienda als Wirtschafseinheit der Weltmärkte und als verteidigtes oder umkämpftes Gesellschaftsmodell des Nationalstaats, was auf die enge Verflechtung von lokalen wie globalen Räumen verwies. Während noch in den 1950er-Jahren die Hacienda in der republikanischen Verfassung Honduras einen Raum beständigen Ausnahmezustands unter Herrschaft der Siedlerelite darstellte, gewann mit den Agrarreformen in den 1960er- und 1970er-Jahren mit den ‚communitas’ neue Gesellschaftsform zivilgesellschaftliche Gestaltungskraft, wenngleich die Hacienda zugleich für die oberen Schichten ein Identitätssymbol blieb. Aus Sicht der politischen Anthropologie fielen hier ‚Staatsbildung von unten’ von der Peripherie aus und die Geschichte sozialer Bewegungen zusammen.

In der Abschlussdiskussion wurde einmal mehr das Ziel der Tagung aufgenommen, den politikgeschichtlichen Ansatz des Bielefelder SFB vor einem internationalen Publikum zu debattieren. In dieser Diskussion rückten eben jene Grenzziehungen, Depolitisierungs- und Entpolitisierungsprozesse selbst in den Mittelpunkt, stellte sich das ‚Monitoring‘ von Grenzen durch zeitgenössische Akteure als eminent politische Handlung dar – eine für die Konzeptualisierung des ‚Politischen‘ neben dem Weg über Staatlichkeitskonzepte auch zukünftig reizvolle Perspektivierung. Das grundsätzliche Anliegen, von einer abstrakten Definition politischer Kommunikation auszugehen, um das Politische in historisch spezifischen Konstellationen verorten zu können, wurde begrüßt. Die Kriterien, die Kommunikation in der Programmatik des SFB zu einer ‚politischen’ machen – nämlich erstens das Abzielen auf Breitenwirksamkeit, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit, zweitens die Thematisierung von Machtverhältnissen, Regeln des Zusammenlebens oder Grenzen des Sag- und Machbaren sowie drittens die Bezugnahme auf ein überindividuelles ‚Ganzes’ – wurden bei dieser Gelegenheit schärfer herausgearbeitet. Kulturgeschichtliche Fragestellungen nach Repräsentationen und Symbolizität fanden auch auf die sogenannten ‚klassischen’ Gegenstände der ‚Politik’ (das Parlament, staatliche Institutionen etc.) Anwendung. Umstritten hingegen blieb die Frage nach den Grenzen des Untersuchungsgegenstandes: Geht es einer erneuerten Politikgeschichte um die Analyse eines bestimmten Bereiches von ‚Politik’ oder um die historisch variablen Erscheinungsformen und -modalitäten des ‚Politischen’? Eine Frage, die in weiteren Diskussionen zu klären sein wird.

Konferenzübersicht:

Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld): Welcome and Introduction

Section I: Concepts of ‘Politics’ and the ‘Political’ in History
Chair: Willibald Steinmetz, Bielefeld

Javier Fernández Sebastián (Bilbao): What Did They Call ‘Politica’? Debating the Concept, Value and Place of Politics in Modern Spain

Martin Papenheim (Bielefeld): From ‘Interest’ to ‘Politics’: The Rise of Modern Political Language in Early Modern Europe

Michael Freeden (Oxford): Navigating around Politics: British Progressive Thought in the Late 19th and Early 20th Centuries

Pasi Ihalainen (Jyväskylä): Politics and the Political in Swedish and Finnish Political Cultures: Comparative Analyses of Parliamentary Debates

Section II: Roundtable: New Approaches to Political History in Varying Academic Cultures
Chair: Eckart Conze, Marburg

Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld/Florenz): Communication Processes and the Political

Patrick Joyce (London/Manchester): Power, the Political and the Material Turn in the Anglophone World

Gary Gerstle (Vanderbilt/Nashville): Rethinking the History of the States: A Report from the U.S.

Henk te Velde (Leiden): The History of Politics in the Netherlands

Section III: Depoliticisation and Repoliticisation of the Economic Sphere
Chair: Angelika Epple, Bielefeld

Lars Behrisch (Utrecht): The Implementation of Political Economy through Statistics in the Late Ancien Régime

Simona Cerutti (Paris): Law Merchants: a Model for an Egiltarian Society in 18th Century Europe

Alain Chatriot (Paris): The Laws of the Markets: an Historical Point of View on Political Regulation of Economy. The Example of Agricultural Policies in France during the 20th Century

Section IV: Presentations and Representations of the Political
Chair: Dominik Geppert, Bonn/Berlin

Carla van Baalen (Nijmegen): Political Ceremonies in the Netherlands. The Inauguration of the Monarch, the Inauguration of the Cabinet and the Opening of the Parliamentary Year in Comparison with other European Countries

Meike Vogel (Bielefeld): Concepts and Settings of Political Protest in German Public Broadcasting in the 1960s

Christophe Prochasson (Paris): Jaurès as Orator in Socialist Assemblies : Performance, Representations and Deliberation

Alberto Banti (Pisa): The National Discourse and its Political Implications (Italy, 19th-20th Centuries

Section V: Boundaries of the Political and the Construction of Political Spaces
Chair: Andreas Vasilache, Bielefeld

Diana Mishkova (Sofia): Scale and Recognition in the Historical Construction of (Political) Spaces

Alexander M. Semyonov (Petersburg): The Tensions of the Modern Russian Empire: The Political and Ideological Strategies of the Modernising Empire in the Language of Sovereignty and Nationhood

Olaf Kaltmeier (Bielefeld): Politics of Spatializations in the Andean Region

Final Discussion

Anmerkungen:
1 Siehe zum Diskussionsstand Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, München 2006, sowie den kritischen Überblick von Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 657-688.
2 Programmatisch immer noch Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: dies. / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main 2005, S. 7-26.