Paläste der Gelehrsamkeit. Privatbibliotheken im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit

Paläste der Gelehrsamkeit. Privatbibliotheken im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit

Organisatoren
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.09.2010 - 24.09.2010
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Von
Martin Wagendorfer, Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Vom 22. bis 24. September 2010 fand am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald eine hochkarätig besetzte internationale Tagung zum Thema Privatbibliotheken im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit statt.

Im öffentlichen Abendvortrag umriss DIETER MERTENS (Freiburg), der angesichts des ungemein breiten Spektrums der Adelsbibliotheken „keine feste Speise“ versprechen wollte, zunächst die Geschichte wichtiger Adels- bzw. Herrscherbibliotheken und wies dabei auch auf die unterschiedliche Lesekultur des Adels im Vergleich mit Gelehrten hin. Dem „Handbuch der historischen Buchbestände Deutschlands“ als Leitfaden folgend gab Mertens anschließend einen Überblick über heute noch bestehende adelige Privatbibliotheken in den deutschen Bundesländern.

Die erste Sektion der Tagung war „Regionalen Aspekten“ des Themas gewidmet. JÜRGEN GEISS-WUNDERLICH (Berlin) skizzierte den privaten Buchbesitz im spätmittelalterlichen Greifswald. Er stellte hierbei zunächst die Zentren der Buchkultur in der Stadt (Kirchen-, Kloster- und Fakultätsbibliotheken) vor, suchte dann nach Reflexen von privaten Büchersammlungen in öffentlichen Bibliotheken und versuchte schließlich – soweit möglich –, Strukturmerkmale privater Buchschenkungen herauszuarbeiten.

Die sonst im deutschsprachigen Raum kaum gewürdigten Buchmärkte in Dänemark und Schweden im 16. Jahrhundert untersuchte anschließend WOLFGANG UNDORF (Stockholm) und konzentrierte sich dabei nach einem Vergleich der schwedischen und dänischen Offizinen insbesondere auf den Import von Büchern nach Skandinavien per Schiff sowie deren Preise. Nach Undorf standen sowohl die privaten als auch öffentliche Buchsammlungen Skandinaviens in enger Verbindung mit dem europäischen Buchmarkt und können keineswegs als isolierte Peripherie gelten. Der skandinavische Buchmarkt entwickelte sich auf der Basis von und in enger Verbindung mit der spätmittelalterlichen katholischen Buchkultur.

Die Entwicklung britischer Privatbibliotheken von etwa 1450 bis 1550 umriss MARGARET LANE FORD (London). Anhand der erhaltenen Bestände selbst sowie anderer Quellen wie Testamente oder Rechnungsbücher der Buchhändler analysierte sie auch die Typen von Büchern, die sich in den betreffenden Bibliotheken befanden, sowie insbesondere auch Art und Motivation ihrer Erwerbung.

Methodische Grundüberlegungen zu Privatbibliotheken als Quelle der Überlieferungsgeschichte stellte FRANK FÜRBETH (Frankfurt am Main) an und zeigte, wie sich Überlieferungs- und Bibliotheksgeschichte gegenseitig befruchten können. Fürbeth formulierte mit der Untersuchung der Dynamik des Bestandaufbaus (das heißt des Zustandekommens) der Bibliotheken, der Kontextualisierung (das heißt der stärkeren Einbeziehung der Texte selbst in die Untersuchungen) sowie der Diskursivierung (das heißt der Funktion des Bücherbesitzes in zeitgenössischen Wissensdiskursen) drei Punkte, die künftig im Kontext der Bibliotheksgeschichte stärker berücksichtigt werden sollten.

Die zweite Sektion der Tagung behandelte „Gruppenspezifische Aspekte“ anhand von „Fallstudien“. ENNO BÜNZ (Leipzig) warf einen eingehenden Blick auf den Buchbesitz von Pfarrern im späten Mittelalter (insbesondere im 15. Jahrhundert) und wertete dafür als wichtigste Quelle vor allem Kataloge von Pfarrbibliotheken sowie Inventare aus, beklagte aber die schlechte Erschließung dieser Quellengruppe, insbesondere durch die ins Stocken geratene Fortführung der „Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands“.

Anschließend beschäftigte sich der beste Kenner der Schedelschen Bibliothek(en), FRANZ FUCHS (Würzburg), mit der schon von den Zeitgenossen hochgeschätzten Büchersammlung Hermann Schedels, von der im Gegensatz zu jener seines jüngeren Vetters Hartmann kein Katalog bekannt ist. Sie ist dennoch gut rekonstruierbar, da ein Großteil der Bücher über Hartmann auf uns gekommen ist: Zwar lässt sich nur in einer einzigen Handschrift ein Besitzvermerk Hermanns festmachen, doch sind eine ganze Reihe anderer Bände durch enthaltene Autographa, sei es in Form ganzer von Hermann kopierter Texte, sei es in Gestalt von Marginalien, Glossen oder autographer Inhaltsverzeichnisse, dem älteren Schedel-Vetter zuweisbar. In anekdotenreicher und faszinierender Weise konnte Fuchs dabei zeigen, wie die verschiedenen Lebensstationen Hermanns Spuren in seinen Büchern hinterlassen haben.

Mit einem Fragezeichen wollte VOLKER HONEMANN (Berlin/Münster) ausdrücklich seinen Vortrag „Stadtschreiberbibliotheken im deutschen Spätmittelalter?“ versehen wissen. Er wies mit Nachdruck auf die schwierige Abgrenzung zwischen privater und dienstlicher Bibliothek von Stadtschreibern hin, die dieses Amt oft nur sehr kurze Zeit innehatten. Erschwerend kommt bei der Untersuchung noch hinzu, dass es sich bei den in Frage kommenden Quellen eher um membra disiecta denn um systematisch aufzufindende Nachrichten handelt und das Material insgesamt dürftig ist. Honemann zeigte sich in der Frage, ob es wirklich reine Stadtschreiberbibliotheken gegeben hat, eher skeptisch und trat deswegen für die Formulierung „Bibliotheken von Stadtschreibern“ anstelle von „Stadtschreiberbibliotheken“ ein.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam RICHARD KREMER (Hanover, USA), der die Büchersammlungen von zwölf Astronomen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit untersuchte. Auch Kremer konnte aus den betreffenden Büchersammlungen keine typischen Berufsbibliotheken von Astronomen deduzieren und bezweifelte, ob es jemals solche gegeben habe.

Einen interessanten Einblick in den privaten Bücherbesitz von aschkenasischen Juden gab LUCIA RASPE (Frankfurt am Main). Obgleich bei den Juden angesichts des Fehlens von einschlägigen Institutionen der private Bücherbesitz im Mittelalter die Regel war, ist dieser bisher noch kaum untersucht; auch hier mangelt es an verwertbaren Quellen. Am Beispiel von noch unveröffentlichten Mantuaner Bücherlisten, welche die Juden 1595 der Zensur vorlegen mussten, beleuchtete Raspe auch die Identitätsbewahrung italienischer Juden durch ihren Bücherbesitz.

Einer ähnlich prekären Quellenlage sah sich EVA SCHLOTHEUBER (Münster/Düsseldorf) beim Thema „Bücher(sammlungen) in Frauenhand“ gegenüber. Sie präsentierte exemplarisch zwei der seltenen Büchersammlungen von Frauen, die sich vor der quellenmäßig ergiebigeren zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisen lassen, nämlich das 45 Titel umfassende Bücherverzeichnis der Elisabeth von Volkersdorf sowie das bisher noch nicht bekannte Bibliotheksinventar der Dominikanerinnen von Lemgo, welches auch die Ordnung der Bibliothek sowie ihre Genese aus privatem Buchbesitz erkennen lässt. Als charakteristisch für die Büchersammlungen von Frauen hielt Schlotheuber fest, dass insbesondere Witwen aufgrund der Verfügungsgewalt über ihr Vermögen Büchersammlungen aufbauen konnten, dass die gelehrt-bibliophile Tradition der Familie eine wichtige Rolle spielte und dass auch der Aufbewahrungsort der Bücher die Zusammensetzung der Büchersammlung beeinflusste.

Die letzte Sektion („Sammlungs- und Besitzgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart“) leitete der Münchener Kunsthistoriker PETER SCHMIDT mit einer Tour d’horizon durch die Darstellung von Büchersammlungen in der mittelalterlichen Kunst ein. Bis in die frühe Neuzeit war die Darstellung von größeren Büchersammlungen für die bildende Kunst (wie im übrigen auch für die Literatur) offenbar durchwegs uninteressant. Was die Darstellung kleinerer Bücherapparate betrifft, so dürfte nach Schmidt die Darstellung des Kirchenvaters Hieronymus inmitten seiner Bücher den Weg freigemacht haben für eine neue Ikonographie der Gelehrtendarstellung, die als ikonographischen Typus die Arbeit des Gelehrten als Mischung zwischen Ordnung (die säuberlich aufgereihten Bücher im Regal) und der eigentlichen Arbeit (unordentlich herumliegende Bücher auf Schreibtisch und Boden) definierte.

Am Beispiel Universitäten erläuterte MARIAN FÜSSEL (Göttingen) die Genese der öffentlichen Bibliotheken in der Frühen Neuzeit und exemplifizierte die Entwicklung anhand der Geschichte der Universitätsbibliothek Göttingen, die aus der Sammlung des Joachim Hinrich von Bülow hervorging. Füssel arbeitet für die von ihm untersuchte Periode vor allem drei Charakteristika heraus: Erstens das Aufgehen von immer mehr privaten Professorenbibliotheken in den Universitätsbibliotheken; zweitens die Bedeutung der Bibliotheken als kulturelle Ressourcen (für den Stifter bringt die Bibliothek Memoria, für die Institution Prestige) sowie die Institutionalisierung und Ausdifferenzierung (der Wunderkammer-Charakter der Bibliotheken geht immer mehr verloren, die systematische Erfassung markiert den Übergang zur öffentlichen Bibliothek ebenso wie der vermehrte Buchankauf durch die Universitätsbibliotheken selbst und die zunehmende Anzahl von Entlehnregelungen).

PAUL NEEDHAM (Princeton) verfolgte den Weg der frühesten in Nordamerika nachweisbaren Inkunabeln und stellte in diesem Zusammenhang mit Gerónimo de Mendieta OFM, John Norton, John II. Winthrop, Thomas II. Shepard sowie Increase Mather fünf frühe Inkunabelbesitzer vor, die anhand von Besitzeinträgen bzw. Randanmerkungen in den entsprechenden Bänden nachweisbar sind.

Wie wichtig Klosterbibliotheken als Überlieferungsträger von Privatbibliotheken sind, demonstrierte ARMIN SCHLECHTER (Speyer) am Beispiel von einschlägigen Büchersammlungen in Südwestdeutschland mit einer Fülle von Einzelbeispielen, unter denen die Bibliothek des Zisterzienserklosters Salem und ihre Genese besonderen Raum einnahmen. Schlechter zeigte, wie jedes Kloster bei der Erweiterung seiner Bibliothek durch Privatbibliotheken seinen eigenen Einzugsbereich hatte, dass dabei aber überraschenderweise Ordensgrenzen kaum eine Rolle spielten.

Als letzter Referent erläuterte CHRISTOPH VOLKMAR (Wernigerode) die Bedeutung von Adelsarchiven als Quelle für Privatbibliotheken am Beispiel von niederadeligen Bücherinventaren der Frühen Neuzeit. Volkmar schilderte als Abschluss der Tagung sehr eindrücklich auch die Probleme, die für die Archive mit der Restitution adeligen Bücherbesitzes in den neuen Bundesländern verbunden sind. Er plädierte für die Einzelfalllösung als Königsweg und betonte vor allem die Bedeutung wissenschaftlicher Begleitarbeit, das heißt das sorgfältige Dokumentieren des derzeitigen Ist-Zustands der archivarischen Bestände.

Die Publikation der ausnahmslos spannenden und nicht nur für Buchhistoriker interessanten Beiträge im Rahmen eines Sammelbandes ist für das kommende Jahr geplant.

Konferenzübersicht:

Öffentlicher Abendvortrag

Dieter Mertens (Freiburg): Adelsbibliotheken in Geschichte und Gegenwart

Regionale Aspekte

Jürgen Geiß-Wunderlich (Berlin): Privater Buchbesitz im spätmittelalterlichen Greifswald

Wolfgang Undorf (Stockholm): Regionale Buchmärkte und privater Bücherbesitz in Dänemark und Schweden im langen 16. Jahrhundert

Margaret Lane Ford (London): The Formation of British Private Libraries c. 1450-1550

Frank Fürbeth (Frankfurt am Main): Privatbibliotheken als Quelle der Überlieferungsgeschichte

Gruppenspezifische Aspekte: Fallstudien

Enno Bünz (Leipzig): Buchbesitz von Pfarrern im späten Mittelalter

Franz Fuchs (Würzburg): Hermann Schedel (1410 -1485) und seine Büchersammlung

Volker Honemann (Berlin/Münster): Stadtschreiberbibliotheken im deutschen Spätmittelalter?

Richard Kremer (Hanover, USA): Privatbibliotheken von frühmodernen Astronomen und Mathematikern: Versuch einer Bestandsaufnahme

Lucia Raspe (Frankfurt am Main): Privater Bücherbesitz bei den aschkenasischen Juden in Mittelalter und früher Neuzeit

Eva Schlotheuber (Münster/Düsseldorf): Bücher(sammlungen) in Frauenhand

Sammlungs- und Besitzgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Peter Schmidt (München): Bücher im Bild: Die kleine Handbibliothek in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen

Marian Füssel (Göttingen): Aus Privat wird Öffentlich - die Entstehung öffentlicher Bibliotheken in der frühen Neuzeit

Paul Needham (Princeton): Incunabels in Colonial North America

Armin Schlechter (Speyer): Privatbibliotheken und Klosterbibliotheken in Südwestdeutschland (15./16. Jahrhundert)

Christoph Volkmar (Wernigerode): Beichlingen, Erxleben, Stolberg - Adelsarchive als Zugang zu frühneuzeitlichen Privatbibliotheken / Restitutionsproblematik mitteldeutscher Archiv- und Bibliotheksbestände


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