„Bildungsstandards“ und die sich daraus entwickelnden „Kompetenzmodelle“ sind seit geraumer Zeit in aller Munde und wurden auch auf dem Berliner Historikertag in einer eigenen Abendveranstaltung kontrovers diskutiert. Vor allem seit dem Ergebnis der ersten Pisa-Studie ergab sich ein konkreter schulpolitischer Handlungsbedarf im Hinblick auf eine outputorientierte Kompetenzorientierung, die sich nicht länger an möglichen Unterrichtsergebnissen, sondern an abprüfbaren Kompetenzen orientiert. Für das Unterrichtsfach Geschichte hat die zuständige Kultusministerkonferenz jedoch keine nationalen Bildungsstandards geplant, auch für die nähere Zukunft nicht. Daher sprang der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) in die Lücke und legte bereits im Jahre 2006 auf dem Historikertag in Konstanz die erste Druckfassung seiner „Bildungsstandards Geschichte“ vor, die seinerzeit für Kritik, die sich sowohl am zugrundeliegenden Kompetenzmodell als auch an diversen Details entzündete, aber auch bundesweit für Lob und Anerkennung sorgten.
Seit diesem Zeitpunkt erscheinen ständig neue Monographien und Handreichungen zum Thema „Kompetenzorientierung“1, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie Kompetenzen durchaus unterschiedlich definieren. So basieren zwar alle Modelle auf der allgemeinen Kompetenzdefinition von Erich Weinert, profilieren davon ausgehend aber einen höchst unterschiedlichen Kompetenzkatalog. Ein länderübergreifender Konsens deutet sich bisher nicht an. Ein tragfähiges Modell der Kompetenzentwicklung wurde von der Geschichtsdidaktik noch gar nicht entwickelt.
Der Geschichtslehrerverband nutzte daher den Historikertag in Berlin, um auf einer eigens einberufenen Abendveranstaltung die überarbeitete Neuauflage seiner Bildungsstandards Geschichte zur Diskussion zu stellen. Diese werden in der ersten Jahreshälfte 2011 gedruckt vorliegen, sind aber jetzt schon auf der Seite <http://www.historikertag.de> einsehbar. Ulrich Bongertmann (Rostock), Leiter des Arbeitskreises „Bildungsstandards“ im VGD und zugleich Leiter der Abendveranstaltung, erläuterte in seiner Anmoderation die leitenden Grundgedanken der überarbeiteten Standards. Erhalten blieb das aus der ersten Auflage bekannte dreistufige Kompetenzmodell des Verbandes, das aus Sachkompetenz, Deutungs- und Reflexionskompetenz sowie Medien-Methoden-Kompetenz besteht.
Kompetenzen
Zur Sachkompetenz im Sinne eines Grundwissens zählt die Kenntnis themenbezogener Daten, Namen und Fachtermini. Der Arbeitskreis des VGD tritt damit allen Versuchen entgegen, Bildungsstandards „ohne Inhalte“ zu formulieren, ein Anliegen, für das sich besonders Rolf Ballof stark machte. Freilich reicht es nicht aus, hierfür einen bloßen und notwendigerweise subjektiven Themenkatalog zusammenzustellen. Es gilt vielmehr, möglichst präzise zu beschreiben, welche Kenntnisse, Erkenntnisse und Einsichten Schülerinnen und Schüler beim jeweiligen Thema gewinnen sollen, und darüber zu reflektieren, welchen Stellenwert dieses Thema im weiteren Kontext der historischen Bildung hat. Oder anders formuliert: Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht bedeutet auch, intensiv auf kategorialer Ebene und unter zunehmender Beteiligung der Schülerinnen und Schüler über die Auswahl und Begründung von Themen nachzudenken. Um aber dem falschen Eindruck einer Orientierung auf bloße Sachkenntnisse entgegenzutreten, hat der Arbeitskreis die zentrale Deutungs- und Reflexionskompetenz in seiner neuen überarbeiteten Auflage nach vorne gerückt, worauf vor allem Rolf Brütting hinwies.
Die Deutungs- und Reflexionskompetenz stellt das Herzstück der überarbeiteten Standards und das Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen anderen Unterrichtsfächern dar. Sie umschreibt eine Zahl von Teilkompetenzen, die oft nicht leicht voneinander abzugrenzen sind, und führt von Grundeinsichten in die Struktur historischer Erkenntnis über den kritischen Umgang mit Begriffen und Untersuchungsverfahren bis hin zur Produktion eigener Deutungen und zur kritischen Analyse fremder Deutungen von Geschichte. So sollen Schülerinnen und Schüler am Ende der Klasse 10 unter anderem Perspektivität in Quellen und Darstellungen erkennen und adäquat berücksichtigen, darauf aufbauend Fremdverstehen leisten, Veränderungen in Vergangenheit und Geschichte wahrnehmen, bei passender Gelegenheit Gegenwartsbezüge herstellen, mit Darstellungen von Vergangenheit kritisch umgehen, eigene Deutungen von Vergangenheit sprachlich adäquat umsetzen und vor allem den Konstruktcharakter von Geschichte erkennen können. Schülerinnen und Schüler sollen also erläutern können, dass Geschichte nicht an sich existiert, sondern nur durch die interessegeleitete Auslegung von Überlieferungen aus der Vergangenheit entsteht. Dies sind hochgesteckte Ziele, die ein moderner Geschichtsunterricht aber anpeilen muss. Die Standards sollen dabei behilflich sein.
Durch die Umstellung der Deutungs- und Reflexionskompetenz an den Anfang der Synopse soll auch optisch der Unterschied zu den traditionell lernzielorientierten Lehrplänen deutlich werden: Der Erwerb einer Historischen Kompetenz bleibt an den Erwerb inhaltlicher Kenntnisse gebunden, sie hängt weiterhin davon ab, an welchen Stoffen junge Menschen im deutschen Kulturraum der Vergangenheit von den Anfängen in der Steinzeit bis zur Gegenwart begegnen. Sie darf sich aber keineswegs in der Sachkompetenz erschöpfen, sondern wird erst durch zunehmend selbständige Deutungen und Reflexionen der festgelegten Inhalte gefüllt.
Die Medien-Methoden-Kompetenz schließlich zielt darauf ab, dass Schülerinnen und Schüler den jeweils unterschiedlichen Charakter der im Geschichtsunterricht eingesetzten Medien, also in erster Linie der Quellen und Darstellungen, erkennen und damit angemessen umzugehen lernen. Insbesondere sollen sie Quellen und Darstellungen aller Art kritisch erschließen, miteinander in Beziehung setzen und in ihrer Perspektivität erkennen und beurteilen können. Am letzten Punkt wird deutlich, dass die Grenzen zur vorangegangenen Deutungs- und Reflektionskompetenz fließend sind.
Zustimmung und Kritik
Der Arbeitskreis des Geschichtslehrerverbandes (VGD) erhielt zunächst Lob und Anerkennung dafür, dass er die Anregungen der vergangenen zwei Jahre aufgenommen und für das überarbeitete Kompetenzmodell berücksichtigt hat. Aber auch Kritik wurde seitens der Teilnehmer der gut besuchten Abendveranstaltung geäußert, die sich auf vier Punkte konzentrierte: Erstens wurde die Frage nach der Auswahl und der Begründung der Inhalte im Geschichtsunterricht aufgeworfen, die naturgemäß subjektiv bleiben müssen. Das Modell des Geschichtslehrerverbandes stellt allerdings einen Katalog an Inhalten zur Verfügung, aus dem dann vor Ort ausgewählt und ergänzt werden kann. Einigkeit bestand unter den Teilnehmern allerdings darin, dass die Sachkompetenz wichtiger Bestandteil eines Kompetenzmodells in Geschichte bleiben müsse. Zweitens wurde darauf hingewiesen, dass bisher ein Modell fehle, das die Inhalte und Kompetenzen miteinander in Verbindung bringe. Es stellt sich allerdings die Frage, ob solch ein Modell überhaupt vonnöten ist. Es erscheint nicht ersichtlich, warum Schülerinnen und Schüler Kompetenzen an bestimmten, vorher festgelegten Inhalten erwerben müssen. Drittens und fast unweigerlich stellte sich in diesem Zusammenhang erneut die Frage nach der Sinnhaftigkeit des chronologischen Durchgangs im Geschichtsunterricht. Da der zweite chronologische Durchgang in den Sekundarstufen II der Bundesländer in den vergangenen Jahren zunehmend zugunsten anderer didaktischer Zugriffsmöglichkeiten, wie etwa historischer Längsschnitte, aufgeweicht wurde, entschied sich der Arbeitskreis den ersten chronologischen Durchgang in der Sekundarstufe I beizubehalten, um bei den Schülerinnen und Schülern erst einmal ein Orientierungsvermögen in der Zeit anzulegen.
Viertens wurde auf die fehlenden Schnittstellen zwischen der Lehrerausbildung an den Hochschulen und den Studienseminaren sowie dem Lehreralltag in den Schulen hingewiesen. Daraus resultiert die Forderung, dass Fragen der Kompetenzorientierung einerseits möglichst früh in die erste und zweite Phase der Lehrerausbildung einbezogen werden und andererseits im Unterrichtsalltag auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden müssen.
Ausblick
Die Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzmodelle im Fach Geschichte wird weitergeführt werden, spätestens auf dem kommenden Historikertag 2012 in Mainz. Weitere Publikationen werden nicht lange auf sich warten lassen, zumal im Bildungsbereich ein Markt entstanden ist, der bedient werden will. Ob dies zu einer Annäherung oder gar Vereinheitlichung der unterschiedlichen Kompetenzmodelle beitragen wird, bleibt abzuwarten, ob dadurch eine Verbesserung des Geschichtsunterrichts überhaupt erzielt werden kann, ist ebenso fraglich, zumal der Geschichte als Nicht-Standard-Fach die Instrumentarien zur Überprüfung erreichter oder verfehlter Standards nicht zur Verfügung stehen. Hier ist die Ministerialbürokratie gefordert nachzusteuern, um nicht die alte Zwei-Klassen-Gesellschaft der Haupt- und Nebenfächer durch eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft der Standard- und Nicht-Standard-Fächer zu ersetzen. Alle Schülerinnen und Schüler haben einen modernen Unterricht verdient – in allen Schularten und in allen Fächern.
Sektionsübersicht:
Diskutanten
Ulrich Bongertmann (Vorsitz, Mecklenburg-Vorpommern)
Rolf Ballof (Niedersachsen)
Rolf Brütting (Nordrhein-Westfalen)
Peter Droste (Nordrhein-Westfalen)
Willi Eisele (Bayern)
Wolfgang Geiger (Hessen)
Walter Helfrich (Rheinland-Pfalz)
René Mounajed (Niedersachsen).
Anmerkung:
1 Werner Heil: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht. Stuttgart 2010; Frank Becker und Holger Reiner Stunz: Kompetenztraining Geschichte. Selbstdiagnose-, Förder- und Testbögen als Kopiervorlagen. Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Berlin 2010.