Arbeitsverwaltung und Zwangsarbeit in Ost- und Südosteuropa 1939-1945

Arbeitsverwaltung und Zwangsarbeit in Ost- und Südosteuropa 1939-1945

Organisatoren
Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.10.2010 -
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Von
Florian Dierl, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, im September 1944, befanden sich fast sechs Millionen zivile ausländische Arbeitskräfte in Deutschland. Von ihnen stammten weit über drei Viertel aus Ost- und Südosteuropa. Zudem waren Millionen Ost- und Südosteuropäer in ihren Heimatländern als Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft beschäftigt. Ihre Rekrutierung und die Steuerung ihres Einsatzes war Aufgabe der deutschen und einheimischen Arbeitsverwaltungen in den Besatzungsgebieten, über deren Geschichte und Tätigkeit bislang nur wenig bekannt ist. Über das Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen bei der Organisation des Zwangsarbeitersatzes in den besetzten Gebieten herrscht dabei ebenso Unklarheit wie über deren konkurrierende politische, wirtschaftliche und ideologische Ziele in den unterschiedlichen Phasen der Arbeitskräftepolitik. Der von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur unterstützte Workshop hatte sich daher zum Ziel gesetzt, anhand regionaler Fallstudien die Rolle der Arbeitsverwaltungen vergleichend zu untersuchen. Strukturelle Gemeinsamkeiten wie auch Besonderheiten der Zwangsarbeitsregime sollten hierbei näher bestimmt und die unterschiedlichen Handlungsspielräume der Akteure vor Ort ausgeleuchtet werden.

In seinem Einleitungsbeitrag skizzierte DIETER G. MAIER (Heidelberg) die strukturelle und politische Entwicklung der deutschen Arbeitsverwaltung im Reichsgebiet ab 1933. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Radikalisierung der Arbeitsverwaltungen in den besetzten Ländern adäquat erfassen. Kennzeichnend war die immer stärkere Kontrolle und Reglementierung der Arbeitskräfte, der Weg von der Arbeitsvermittlung zum staatspolitisch bestimmten „Arbeitseinsatz“. Marksteine auf diesem Weg bildeten die Einführung des Arbeitsbuches 1935 und die Dienstpflichtverordnung 1938. Die deutsche Arbeitsverwaltung verfügte so bereits vor Kriegsbeginn über die notwendigen Instrumentarien, die dann auch auf die besetzten Länder angewandt werden sollten. Einen weiteren Radikalisierungsschub für diese Gebiete brachte dann die Berufung Fritz Sauckels zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz im März 1942.

Der polnische Historiker RYSZARD KACZMAREK (Kattowitz) berichtete über die Politik der deutschen Arbeitsverwaltung in den annektierten oberschlesischen Gebieten, die sich unter dem Einfluss der „Volkstumspolitik“, also den Bestrebungen der Nationalsozialisten, die dort lebenden Menschen zu „germanisieren“, in den einzelnen Gebieten sehr unterschiedlich entwickelte. Insgesamt konstatierte Kaczmarek aber eine Anerkennung der wirtschaftlichen Gegebenheiten und eine daraus resultierende flexible Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Aus Oberschlesien wurden relativ wenige Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich deportiert, da sie überwiegend in dem industrialisierten Gebiet selbst als Arbeitskräfte benötigt wurden.

KARSTEN LINNE (Hamburg/Berlin) hob in seinem Beitrag zum „Reichsgau Wartheland“ hervor, dass Arbeitsverwaltung und SS-Stäbe dort bei den Deportationen gut zusammenarbeiteten. Dabei bemühten sich beide Organisationen, „eindeutschungsfähige“ polnische Arbeitskräfte herauszufiltern, die langfristig im Reichsgebiet angesiedelt werden sollten. Diese Verknüpfung zwischen Deportationen und der Rekrutierung von Arbeitskräften konnte nach Linne als Kompromiss zwischen ideologischen Zielen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten betrachtet werden, wobei die Arbeitsverwaltung jedoch ideologische Maßstäbe ohne weiteres zum Maßstab ihres Handelns machte.

Zu den Deportationen von polnischen Wanderarbeitern sowie zum zwangsweisen Einsatz von polnischen Arbeitskräften im Distrikt Radom des Generalgouvernements referierte ROBERT SEIDEL (Wuppertal). Er betonte die rasche Etablierung der deutschen Arbeitsverwaltung, die den deutschen Truppen auf dem Fuße folgte und bereits im September 1939 ihre Tätigkeit aufnahm. Nachdem in den ersten Monaten die Werbung von Freiwilligen im Vordergrund stand, die nur sehr kurzfristig Erfolge zeitigte, ging man ab Frühjahr 1940 zur verstärkten Zwangserfassung von Arbeitskräften über: Den polnischen Gemeindevorstehern wurde die Gestellung von Arbeiterkontingenten auferlegt, für deren Erfüllung sie mit ihrer persönlichen Freiheit und ihrem Eigentum einzustehen hatten. Brutale Razzien und willkürliche Verhaftungen prägten denn auch die Praxis der Arbeitskräfterekrutierung in den folgenden Jahren. Wenngleich es individuelle Strategien gab, sich dem Verfolgungsdruck zu entziehen, so blieben die reellen Möglichkeiten für eine Verweigerung von Zwangsarbeit angesichts fehlender ökonomischer Alternativen für die betroffenen Menschen eng begrenzt.

MARIO WENZEL (Berlin) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit den Zwangsarbeitslagern für jüdische Menschen im Distrikt Krakau. Diese Lager unterstanden – wie der gesamte jüdische Arbeitseinsatz im Generalgouvernement – nur für eine kürzere Zeitspanne formal der deutschen Arbeitsverwaltung. Diese legte eher Wert auf eine Beschäftigung der Juden in „freien“ Arbeitsverhältnissen. Im weiteren Verlauf des Krieges wurde der Arbeitseinsatz zunehmend von den beteiligten Firmen und den Judenräten organisiert, die für die Stellung von Arbeitskräftekontingenten verantwortlich waren. Diese Praxis hielt auch noch zum Zeitpunkt der gewaltsamen Liquidierung der Gettos an, bei der zunächst die nichtarbeitsfähigen Menschen in die Todeslager gesandt wurden, bis schließlich, etwa während der Aktion „Erntefest“, nach und nach auch die verbliebenen jüdischen Arbeitskräfte ermordet wurden.

Über die Arbeiterrekrutierung im „Unabhängigen Staat Kroatien“, einem Vasallenstaat des Deutschen Reiches, berichtete CHRISTIAN SCHÖLZEL (Berlin). Dort konnte die Regierung auf eine gewisse Tradition der Wanderarbeit in Deutschland zurückgreifen; dementsprechend begann man 1941 mit einer freiwilligen Werbung, die allerdings einem schleichenden Übergang zur Zwangsarbeit unterlag. Parallel zu den seit Mai 1942 geschlossenen bilateralen Abkommen, bauten die deutschen Dienststellen ihren Einfluss in Kroatien aus. Der Ustascha-Staat versuchte, sich durch die Rekrutierung von Arbeitskräften ebenso wie durch den Einsatz von Kriegsgefangenen von den im Land befindlichen Serben zu befreien – eine andere Form der „ethnischen Säuberung“. Insgesamt prallten aber unterschiedliche deutsche und kroatische Interessen aufeinander, die eine effiziente Rekrutierung behinderten.

Das zweite Beispiel aus dem besetzten Jugoslawien bildete das unter einer deutschen Militärverwaltung stehende Serbien: ZORAN JANJETOVIC (Belgrad) stufte die serbische Regierung als ein reines Ausführungsorgan der Besatzungsmacht ein. Auch hier begann man im Sommer 1941 zunächst mit der Rekrutierung von Freiwilligen. Bis Ende 1941 sollte das Land 75.000 Arbeitskräfte stellen und es zeigte sich rasch, dass die Zahl der Freiwilligen dafür nicht ausreichen würde. Die serbische Arbeitsbörse erhöhte daraufhin die Zahl ihrer Zweigstellen ebenso wie den Druck auf die Arbeitskräfte. Deutsche Firmen und Dienststellen rekrutierten derweil auf eigene Faust. Eine wichtige Rolle spielte die Pflichtarbeit im eigenen Gebiet, insbesondere in den kriegswirtschaftlich wichtigen Kupferminen von Bor und dem Bergbaugebiet von Kostolac. Im Rahmen der ausgeweiteten Verpflichtung der serbischen Bevölkerung, die politisch als paternalistisches Programm gegen „Nichtstuer“ verharmlost wurde, waren ab 1942 bis zu 30.000 Zwangsarbeiter im Bergbau beschäftigt. Die organisatorische Schwäche der serbischen Kollaborationsregierung und der zunehmende Kontrollverlust der deutschen Besatzer über das von den Partisanen beherrschte ländliche Gebiet führten ab dem Frühjahr und Sommer 1944 zur weitgehenden Auflösung des Erfassungssystems und in der Folge zu einem wirtschaftlichen Stillstand in der serbischen Industrie.

Als eine Art Vorlauf zum System des zwangsweisen Arbeitseinsatzes im Zweiten Weltkrieg lässt sich die deutsche Rekrutierungspolitik im Protektorat Böhmen und Mähren beschreiben: Hier trafen die Mitarbeiter der deutschen Arbeitsverwaltung zum ersten Mal auf eine ausländische Arbeiterschaft aus einem besetzten Land. STEFFEN BECKER (Prag) berichtete, dass die Anwerbung anfangs recht einfach verlief und bis Ende August 1939 bereits 70.000 Tschechen als Arbeiter nach Deutschland gegangen waren. Aber auch hier übte die Arbeitsverwaltung, die ihre Organisation nach deutschem Vorbild aufbaute, angesichts der nachlassenden Zahlen verstärkten Druck aus. Im November 1942 ging sie zu jahrgangsweisen Einberufungen über, später folgten auch Razzien und mit der „Aktion 1924“ versuchte sie eine totale Mobilisierung einzuläuten. Zwar wurden lediglich 30.000 Arbeitskräfte dieses Geburtsjahrgangs nach Deutschland deportiert, die Aktion hatte aber eine tiefgreifende Schockwirkung auf die tschechische Gesellschaft.

TILMAN PLATH (Greifswald) berichtete über die Arbeitskräfterekrutierung in den drei baltischen Generalbezirken Litauen, Lettland und Estland des Reichskommissariats Ostland. Im Gegensatz zu den anderen besetzten Gebieten der Sowjetunion strebte hier die deutsche Verwaltung grundsätzlich eine Kooperation an. Plath betonte die durchaus unterschiedlichen Interessen der deutschen Besatzungsbehörden, unter denen die Arbeitsverwaltung eher zu den schwachen Akteuren zählte. Als eine der wenigen Institutionen vor Ort plädierte diese für einen Einsatz baltischer Arbeitskräfte im Reich. Dabei unterschieden die deutschen Dienststellen jedoch scharf zwischen Balten und Slawen - vor allem letztere sollten im Reich zum Einsatz kommen. Insgesamt konnte man bei der Organisation des Arbeitseinsatzes im Baltikum eine Dominanz der wehrwirtschaftlichen Zielsetzungen in diesem Gebiet feststellen.

In der Abschlussdiskussion wurden die Einbeziehung immer weiterer Personenkreise in die Arbeitskräfterekrutierung und der immer stärker angewendete Zwang als charakteristische Merkmale für die deutsche Politik in allen besetzten Ländern Ost- und Südosteuropas hervorgehoben. Zugleich schärfte der detaillierte Blick auf die Regionen das Bewusstsein für die Bedeutung lokaler Ereignisse und Entwicklungen auf den Verlauf des Radikalisierungsprozesses im System der Zwangsarbeit. Verantwortlich für diese Unterschiede waren dabei wohl weniger die Strukturen der Arbeitsverwaltung als vielmehr die allgemeinen Ziele der Besatzungspolitik und die Stellung, welche die Nationalsozialisten den jeweiligen Regionen in einem zukünftigen Europa unter deutscher Herrschaft zumaßen. Erste Ergebnisse zur vergleichenden Analyse, wie sie hier vorgelegt wurden, unterstrichen die Notwendigkeit zur weiteren Forschung im Handlungsfeld der deutschen Arbeitsverwaltung und zur stärkeren Systematisierung des vergleichenden Ansatzes. Insbesondere vertiefte Studien zu Weißrussland und zur Ukraine, den beiden Hauptrekrutierungsgebieten für Zwangsarbeiter ab Ende 1941, wurden hierbei als Desiderat für künftige Arbeiten benannt.

Konferenzübersicht:

I. Impulsreferat

Dieter G. Maier: Vom Vermittlungsbüro zum „zivilen Wehrbezirkskommando“. Der Umbau der Arbeitsverwaltung zur Arbeitseinsatzbehörde 1933-1945

II. Polen als Modellfall

Ryszard Kaczmarek: Die deutsche Arbeitsverwaltung in Oberschlesien – zwischen Volkstumspolitik und Wirtschaftsrealität

Karsten Linne: „Volkstumspolitik“ und Arbeiterrekrutierung im „Reichsgau Wartheland“

Robert Seidel: Arbeitskräfteerfassung, Ausbeutung und Zwangsarbeit im Distrikt Radom

Mario Wenzel: Arbeitsverwaltung und Zwangsarbeit von Juden im Distrikt Krakau 1939-1944

III. Referenzbeispiele aus Ost- und Südosteuropa

Christian Schölzel: Arbeiterrekrutierung im „Unabhängigen Staat Kroatien“

Zoran Janjetovic: Arbeiterrekrutierung unter der Militärverwaltung in Serbien

Steffen Becker: Der Weg zum „Totaleinsatz“: Arbeitskräfterekrutierung im Protektorat Böhmen und Mähren

Tilman Plath: Arbeitskräfterekrutierung im Baltikum 1941-1944

Abschlussdiskussion


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