Gemeinsam mit dem Hamburger Arbeitskreis für Regionalgeschichte veranstaltete der Arbeitskreis Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen am 27. Februar 2010 an der Universität Hamburg die zweite von zwei Tagungen zur Adelsgeschichte in der Frühen Neuzeit. Stand bei der ersten Tagung im November 2009 in Hannover die politische, soziale und kulturelle Präsenz des Adels in der Stadt im Mittelpunkt1, so widmete sich die Frühjahrstagung in Hamburg der Thematik „Adel und Ökonomie“ in der Frühen Neuzeit und in der Umbruchphase zum 19. Jahrhundert.
Die Frage, inwieweit die ökonomischen Interessen das Leben des Adels beeinflussten, welchen Charakter die wirtschaftlichen Aktivitäten des Adels besaßen und welche soziale Rolle den Adeligen im Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung zukam, bildet in der Adelsforschung seit einigen Jahren einen Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses. Der Ausbau unternehmerischer Tätigkeiten und die Erschließung neuer Einkommensquellen waren Elemente des historischen Wandlungsprozesses des Adels und der Neubestimmung seiner sozialen Rolle in der Sattelzeit.
In diesem Rahmen bewegten sich die Vorträge, indem sie die ökonomischen Handlungsmuster einzelner Adelsfamilien und -herrschaften in Norddeutschland im Kontext der Herausforderungen, die die Bindung des Adels an seinen Grundbesitz im Übergang zur Moderne mit sich brachte, beleuchteten. Es waren mikrohistorisch konzipierte Studien, deren besonderer Ertrag in der breiten und fundierten Quellenbasis liegt, mit der die Forschungsergebnisse abgesichert sind. Der Blick auf einzelne Familien oder Personen vermag eher, die Zäsuren und Kontinuitäten im ökonomischen Handeln zu konkretisieren und sichtbar zu machen, als es eine auf Regionen oder bestimmte Adelslandschaften bezogene Fragestellung ermöglicht.
Zu einer Korrektur des bislang in der Forschung verbreiteten Bildes des allen kapitalistisch motivierten Unternehmungen gegenüber feindlich eingestellten Adeligen trug der Vortrag von OLIVER SCHULZ (Paris / Düsseldorf) bei. Diese stark vom Bürgertum geprägte Perspektive auf den Adel verstellte lange Zeit den Blick auf die Rolle, die Adelige in einigen deutschen Regionen als Pioniere in Industrie und Bergbau spielen konnten. Am Beispiel der südwestfälischen Familie von Elverfeldt arbeitete Schulz das Profil adeligen Unternehmertums in der Frühindustrialisierung heraus und zeigte, wie neben der Grundherrschaft in den Grafschaften Mark und Bentheim vor allem der Steinkohlenbergbau und der Schleusenbau im Zuge der Schiffbarmachung der Ruhr den von Elverveldts weitere Möglichkeiten zur Diversifizierung ihrer Einnahmequellen gebracht haben. Sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Industrie habe die napoleonische Zeit einen wichtigen Einschnitt dargestellt, indem die Aufhebung der Feudallasten und die einsetzende Ablösung der Bauern zwar einerseits den herausgehobenen Status des Grundherren angriffen hätte, andererseits aber mit den Ablösungszahlungen auch eine neue Kapitalbasis für die adeligen Familien geschaffen worden sei. Auch die Ausübung von Ämtern sei zur Wahrung der eigenen wirtschaftlichen Interessen eingesetzt worden. So habe beispielsweise Levin von Elverveldt (1762-1830) sein Amt als Maire von Volmarstein genutzt, um in einer Petition seine Interessen als Bergbauunternehmer voranzubringen und den Anschluss des Großherzogtums Berg an Frankreich zu fordern. Dieser würde den Absatz von Steinkohle wesentlich erleichtert haben, da der bisher verschlossene französische Binnenmarkt als Absatzgebiet zur Verfügung gestanden hätte. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sei es dann zu einem Rückzug der Familie aus unternehmerischen Tätigkeiten im Montanbereich und zu einer „Reagrarisierung“ gekommen.
Der Wille zu Reformen und die Bereitschaft zu wirtschaftlichen Veränderungen zeigte sich auch in dem „Kerngeschäft“ des Adels, in der Verwaltung und Bewirtschaftung seiner Güter. Die intensive und kenntnisreiche Auseinandersetzung mit den agrarischen Grundlagen adeliger Existenz vor dem Hintergrund eines zunehmend größer werdenden Drucks auf die Landwirtschaft veranlassten den mecklenburgischen Gutsherrn Ludwig Christoph von Langermann zu einer Reformschrift, mit der er die Grundbesitzer und Agrarunternehmer zu wirtschaftlichen Veränderungen und rationalerem Handeln bewegen wollte. Wie MICHAEL BUSCH (Rostock) darstellte, habe von Langermann, selbst wirtschaftlich erfolgreicher Unternehmer, seinen Einfluss als Politiker genutzt, um seinen Standesgenossen bei ihren Zusammenkünften auf Landtagen und Konventen die neuen Ideen der Ökonomie zu vermitteln und zur Umsetzung auf den ländlichen Gütern Mecklenburgs anzuregen. Die enorme Zunahme der Bevölkerung in der zweiten Hälfe des 18. Jahrhunderts und das Anwachsen von Gewerbeproduktion und Handel haben den Lebensmittel- und Rohstoffbedarf erhöht und eine modernere und intensivere Landwirtschaft erforderlich werden lassen. In engem Zusammenhang mit der Reformierung der Landwirtschaft setzte in Mecklenburg die Erarbeitung von agrarhistorischem Faktenwissen ein. In diesen Kontext einer sich herausbildenden Agrarwissenschaft als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin sei Langermanns nahezu 600-seitige Reformschrift „Versuch über die Verbesserung des Nahrungsstandes in Mecklenburg“ von 1786 einzuordnen. Die Auseinandersetzung und zum Teil auch scharfe Kritik mit bzw. an den bestehenden feudalen Verhältnissen sei Teil dieser Schrift, und dies zeige die Vielschichtigkeit Langermanns in seiner Funktion als Adeliger, Aufklärer und Gutsbesitzer: Die Verbesserung der Lebensverhältnisse durch produktionstechnische Fortschritte und neue Anbaumethoden in der Landwirtschaft zum allgemeinen Nutzen auf der einen Seite und zum anderen das Bestreben, den eigenen Standesgenossen Mittel und Wege aufzuzeigen, um ihre Güter behalten zu können, denn vor allem im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kamen zahlreiche Güter an nichtadelige Gutsbesitzer. Umgesetzt worden seien die Anregungen Langermanns ebenso wenig wie die seiner aus Mecklenburg stammenden agrarwissenschaftlichen Nachfolger wie Alexander von Lengerke oder Johann Heinrich von Thünen in ihrem unmittelbaren Umfeld jedoch nur in begrenztem Umfang.
Die Behauptung, dass der Adel sich mit einem rationalen und auf Ertragssteigerung setzenden Wirtschaftshandeln schwer tat, durchzieht die Forschung und wird zusammen mit den Faktoren Verschwendung und Verschuldung häufig als Grund für das Scheitern bzw. die ökonomischen Krisen am Ende des 18. Jahrhunderts angeführt. Doch erst der Blick auf das komplexe Gefüge von Einnahmen und Ausgaben, auf die Ökonomie eines konkreten Adelsguts, ermöglicht eine genaue Analyse. Dazu ist Kärrnerarbeit erforderlich, das zähe und genaue Auswerten von Gutsregistern und Gutsrechnungen und weiterer Quellen, die Aufschluss über das ökonomische Handeln der einzelnen Stammherren oder Generationen geben. MICHAEL ERHARDT (Stade) hat sich intensiv mit dem Gut Altluneberg im Landkreis Stade befasst und gab einen Einblick in die umfangreiche Überlieferung des Gutsarchivs. Das Gut verfügte über einen autarken landwirtschaftlichen Betrieb und umfänglichen Grundbesitz in Form von Meier- und Zehntrechten in der Börde Beverstedt, aber auch in angrenzenden Gebieten. Trotz umfangreicher Einkünfte aus Besitz und Ämtern sei es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Konkurs gekommen, dem Jahrzehnte lange finanzielle Schwierigkeiten folgten, die schließlich zum Verkauf des Guts führen. Auf der Basis der Auswertung der fast vollständig erhaltenen Gusregister und -rechnungen und Unterlagen zu Verpachtungen und Verkäufen sowie Gerechtsamen und Ablösungssachen zeigte Erhardt die Gründe für das unternehmerische Scheitern der Familie auf. Diese Gründe beruhten nur zum Teil auf einer mangelhaften Gutsverwaltung oder dem unangemessenen Ausgabenverhalten. Zur Eigenlogik adeliger Ökonomie gehörte auch die Verschuldung, verursacht unter anderem durch die Versorgung und Abfindung der nicht erbenden Geschwister und deren langfristige Folgen und Belastungen in Form von Zinsverpflichtungen.
Die Einkommenssituation der meisten Adelsgüter wurde zu einem wesentlichen Teil von den Einkünften im Rahmen grundherrschaftlicher Verhältnisse bestimmt. Die Abgaben der grunduntertänigen Bauern bildeten die Basis adeligen Einkommens und einer Ökonomie, die durch den Grundbesitz und die daran haftenden Rechte geprägt war. Das Verhältnis zwischen Grundherren und bäuerlichen Untertanen, den sogenannten Eigenbehörigen, war kein statisches, von äußeren Faktoren wie der wirtschaftlichen Entwicklung und sozialen Differenzierungsprozessen unbeeinträchtigtes Verhältnis. Dies zeigten die Beiträge von GERD VAN DEN HEUVEL (Hannover) und CHRISTOPH REINDERS-DÜSELDER (Oldenburg), die sich mit den grundherrschaftlichen Strukturen im Fürstbistum Osnabrück und Niederstift Münster befassten. Am Beispiel des Guts Gesmold im Amt Grönenberg erläuterte van den Heuvel die komplexe Koexistenz bäuerlicher Untertänigkeit in Form der westfälischen Eigenbehörigkeit und heimgewerblicher Textilproduktion durch ‚freie’ ländliche Unterschichten. Ausgesprochen gute Bodenverhältnisse in der Region, in der das Gut Gesmold lag, hätten den Anbau von Flachs und Hanf zur Weiterverarbeitung ermöglicht und ein intensives protoindustrielles Leinengewerbe gefördert. Etwa ein Drittel des zum Gut gehörigen Landes sei an eine Vielzahl von Pächtern verpachtet gewesen, die vor allem aus der unterbäuerlichen Schicht ohne eigenen Grundbesitz stammten. In Verbindung mit einer guten Agrarkonjunktur seit den 1770er-Jahren habe die Leinenherstellung dieser Bevölkerungsschicht die Möglichkeit zu einem guten Auskommen und ganzjähriger Beschäftigung geboten, so dass die Wanderarbeit im Amt Grönenberg im 19. Jahrhundert weit geringere Bedeutung besessen habe als in anderen Teilen des Osnabrücker Landes. Davon habe auch das Gut selbst profitiert: Die Einkünfte aus den freien Verpachtungen hätten mehr als ein Drittel der Gesamteinnahmen des Gutes ausgemacht. Die Grundherrschaft des Guts Gesmold sei, so die These van den Heuvels, ein wesentliches, wenn nicht gar bestimmendes Element der lokalen Wirtschaft und Gesellschaft gewesen. Der adelige Grundherr habe von der wirtschaftlichen Prosperität der Region profitiert, allerdings nicht als Agrarunternehmer, sondern als passiver Rentenempfänger. Diese wachsende und risikolose Einnahmequelle habe jedoch keinen Zwang entstehen lassen, die Eigenwirtschaft nach rationaleren Prinzipien zu betreiben, modernisierende Impulse seien vom Gut Gesmold daher nicht ausgegangen.
Mit den Strukturen von Grundherrschaften und ihren politisch-herrschaftlichen Implikationen befasste sich CHRISTOPH REINDERS-DÜSELDER (Oldenburg), der die Adelssitze als wirtschaftliche Zentren, Stätten landwirtschaftlicher und gewerblicher Produktion und Indikatoren für das Verhältnis des landsässigen Adels zu der sie umgebenden ländlichen Bevölkerung in den Blick nahm. Der für den westfälischen Adel charakteristische adelige Streubesitz implizierte, dass nicht ein ganzes Dorf oder Kirchspiel zu einem Gut gehörte, sondern die Hofstellen weit verstreut gelegen und sich über mehrere Bauerschaften, Kirchspiele und sogar Ämter erstreckten. Der Blick auf den Kontext von bäuerlichem Status und Ausmaß der Eigenbehörigkeit mache deutlich, dass letztere mit der jeweiligen Position der bewirtschafteten Stelle in der sozialen ländlichen Hierarchie unverkennbar und eindeutig zugenommen habe. Der Anteil der eigenbehörigen Bauern sei bei den Vollerben am höchsten gewesen, und an dieser Statusgruppe habe der Grundherr sein größtes Interesse gehabt. Auch hier zeige sich das ökonomische Denken bzw. Kalkül des landbesitzenden, niederen Adels: Die Vollerben seien die ältesten ortsansässigen Bauern gewesen, die Gründung dieser Bauerstellen habe oftmals bis ins Mittelalter zurück zurückgereicht. Sie seien dort ansässig gewesen, wo gute Bodenverhältnisse vorherrschten, ihre wirtschaftliche Ertragsfähigkeit sei daher ungleich größer gewesen als die eines Erb- oder Markkötters. Die spezifische grundherrschaftliche Verankerung des Adels in Form von Streubesitz sei für den Adel gleichzeitig die Basis einer starken Position im politisch-herrschaftlichen Gefüge des Landes gewesen, denn der Arm des Grundherrn habe weit über seinen eigenen Gutsbezirk hinaus in jedes einzelne Kirchspiel, jede Bauerschaft, in dem bzw. der er über Eigenbehörige verfügte, gereicht. Auf diese Weise geriet der gesamte Landstrich in die adelige Herrschaftssphäre - gebunden an und in Wechselbeziehung zu den ökonomischen Grundlagen adeliger Existenz in Form von Grundherrschaft.
Wie vielfältig und perspektivenreich das Thema „Adel und Ökonomie“ ist, zeigte abschließend auch der Beitrag von ANTJE SANDER (Jever). Sie nahm „Seltene Gäste“ in den Blick und meinte damit die Fürsten von Anhalt-Zerbst in ihrer Herrschaft Jever. Als die Fürsten im Jahr 1667 die Herrschaft im Jeverland übernahmen, habe dies für sie einen Zugewinn an wirtschaftlichem Potential bedeutet, zunächst sehr zum Erstaunen der Herrscher und der anhaltinischen Geographen. Aus mitteldeutscher Sicht seien die fruchtbaren Marschen, der marktorientierte Ackerbau, die Getreidexporte beinahe ein Kuriosum gewesen. Die Erlöse aus der Landwirtschaft seien jedoch direkt in die fürstliche Schatulle geflossen, ein Vertrieb der Produkte, wie es ansonsten für die „Unternehmer-Landwirte“ im Jeverland typisch gewesen sei, fand nicht statt. Für die seltenen Aufenthalte der Fürsten in ihrer friesischen Herrschaft habe dies bedeutet, dass die Versorgung nicht aus der Eigenwirtschaft bestritten werden konnte, sondern zum größten Teil durch Einkäufe.
Die Tagung hat vor allem die Mehrdimensionalität adeliger Ökonomie in ihrer Vielschichtigkeit und im Kontext des Wandlungsprozesses des Adels im Übergang zur Moderne sichtbar gemacht. Dabei ist ein Merkmal adeliger Existenz besonders deutlich geworden, das den Adel im Hinblick auf die ökonomischen Verhaltensmuster von anderen sozialen Gruppen unterscheidet. Der Vergleich mit dem bürgerlichen Unternehmer in Fragen kapitalistischen Wirtschaftshandelns oder des Risikoverhaltens trägt zwar zur Schärfung eines Profils adeligen Unternehmertums bei, für den Adeligen war die Rolle des Unternehmers jedoch nur eine von vielen. Typisch für den Adel scheint hingegen, dass er es verstand, die Rollen übergangslos zu wechseln, sich seinem Umfeld anzupassen, moderne Denkmuster zu rezipieren und sie mit seinem adeligen Selbstverständnis und den Legitimationsmustern seines Standes zu verknüpfen. Das Netzwerk sozialer Beziehungen und das mit der Zugehörigkeit zum Adelsstand verbundene symbolische Kapital bildeten die Basis für vielfältige ökonomische Verhaltensmuster.
Konferenzübersicht:
Franklin Kopitzsch (Hamburg): Kurze Einführung: Adel und Ökonomie
Oliver Schulz (Paris / Düsseldorf): Wirtschaftliche Strategien südwestfälischer Adelsfamilien im 18. und frühen 19. Jahrhundert am Beispiel der Familie von Elverfeldt
Michael Busch (Rostock): Ludwig Christoph von Langermann und sein „Versuch über die Verbesserung des Nahrungsstandes in Mecklenburg“ (1786)
Antje Sander (Jever): Seltene Gäste - Die wirtschaftliche Grundlage und Versorgung der Fürsten von Anhalt-Zerbst in ihrer Herrschaft Jever (1667-1793)
Michael Erhardt (Stadt): Die wirtschaftliche Entwicklung des Gutes Altluneberg (Landkreis Cuxhaven) im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Christoph Reinders-Düselder (Oldenburg): „Adelsherrschaft“ über „eigenbehörige Knechte“ - Zur frühneuzeitlichen Struktur der Grundherrschaft und ihren politisch-herrschaftlichen Implikationen
Gerd van den Heuvel (Hannover): Bäuerliche Leibeigenschaft und protoindustrielles Leinengewerbe als Grundpfeiler adeliger Ökonomie im 18. Jahrhundert: Das Gut Gesmold im Osnabrücker Land
Anmerkung:
1 Siehe Tagungsbericht Adel zwischen Stadt und Land. 14.11.2009, Hannover, in: H-Soz-u-Kult, 11.02.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2996>.