Auf dem Weg zur Wiedervereinigung: Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970-1990

Auf dem Weg zur Wiedervereinigung: Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970-1990

Organisatoren
Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA), Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.09.2010 - 24.09.2010
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Von
Klaus Storkmann, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam

Anlässlich des 20. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung und vor dem Hintergrund der aktuellen transatlantischen Debatte über die langfristigen Ursachen von 1989 brachte die 51. Internationale Tagung für Militärgeschichte (ITMG) höchst erfolgreich facettenreiche Aspekte der deutsch-deutschen und ost-westlichen Sicherheits- und Militärpolitik in die Debatte um die langfristigen Ursachen des Ende der Blockkonfrontation und die Schaffung der Rahmenbedingungen für die Wiedervereinigung ein. Der friedliche Charakter der Umwälzungen der Jahre 1989 und 1990 mache nachdenklich dankbar, so Oberst HANS-HUBERTUS MACK (Potsdam), Amtschef des gastgebenden Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA), rückblickend. Die damaligen revolutionären Veränderungen und der zeitgenössisch als „Deutsche Frage“ bezeichnete schwierige Weg dorthin haben auch militärische Komponenten gehabt, begründete Mack in seiner Begrüßung die Konzeption der Konferenz. Es habe sich daher angeboten, Dynamiken und Perspektiven der letzten zwanzig Jahre des Ost-West-Konflikts zu thematisieren. OLIVER BANGE (Potsdam) zufolge war es eine zentrale Frage der Tagungskonzeption, ob die Existenz zweier deutscher Staaten, ihrer Bündnispflichten, ihrer Soldaten und Gesellschaften Katalysator oder Hindernis auf dem gewundenen Weg zu 1989 gewesen war. Sicherheitspolitik hieß in den Jahrzehnten des Ost-West Konflikts immer auch Sicherheit zugleich vor und mit Deutschland. Bange betonte den Anspruch der Tagung, Mehrdimensionalität wider zu spiegeln, sowohl in Auswahl der Themen als auch der Referenten. Co-Organisator BERND LEMKE (Potsdam) hob zudem die weiterführenden Möglichkeiten vergleichender Betrachtungen und diachroner Perspektiven hervor.

GOTTFRIED NIEDHART (Mannheim) mahnte in seinem Einführungsvortrag, der deutschlandzentrierte Blick auf die Anfänge des Kalten Krieges sei nicht angebracht, auch wenn sich hier der Ost-West-Konflikt am augenfälligsten zeigte. Vielmehr sah er – global formuliert – die Ursache des Kalten Kriegs in der Verweigerung des Westens, nach 1945 die Statuserhöhung der Sowjetunion als gleichrangigen Partner zu akzeptieren. Grundlage der späteren Entspannungspolitik sei daher die Anerkennung der jeweiligen Besitzstände der anderen Seite gewesen. Kennedy habe demzufolge den Bau der Berliner Mauer 1961 auch als Zeichen gewertet, dass Chruschtschow die amerikanische Interessensphäre akzeptiere und respektiere. Niedhart rief in Erinnerung, dass Kennedy auf den Mauerbau mit den Bemerkungen reagierte, jetzt sei Westberlin sicher und eine Mauer sei allemal besser als ein Krieg. Die grundsätzliche Anerkennung der sowjetischen Interessen führte dazu, dass auch Krisen wie der Prager Frühling 1968 die Arbeitsbeziehungen zwischen beiden Supermächten nicht erschüttern konnten. Niedhart konstatierte, der Übergang vom Kalten Krieg zur antagonistischen Kooperation sei von beiden Seiten gewollt und letztlich unvermeidbar gewesen.

Der Weg in die Entspannungspolitik stand im Zentrum der ersten Tagungssektion. CSABA BÉKÉS (Budapest) plädierte für neue Interpretationen der Detente und unterstrich ähnlich wie Niedhart die Rolle der Kommunikation zwischen beiden Seiten. Geheimdiplomatie habe viel zur Lösung der großen Krisen um Berlin und Kuba beigetragen. Kompromisse hinter den Kulissen und Gesichtswahrung nach Außen seien dabei der Weg zur Entschärfung der Konflikte gewesen. Die konkurrierenden Entspannungsstrategien des Westens analysierte STEPHAN KIENINGER (Mannheim). Trotz scharfer öffentlicher Angriffe auf das „evil empire“ habe die Entspannungspolitik auch unter Ronald Reagan weitergelebt. Reagan und sein Außenminister George Schulz seien sich der Wirkmächtigkeit der amerikanischen Überlegenheit bewusst gewesen und wollten auf dieser Basis die Entspannungspolitik als Wettbewerb mit dem östlichen Lager führen – und gewinnen. Die Bedeutung des KSZE-Prozesses für die Ost-West-Dynamik hinterfragte OLIVER BANGE. Ungewöhnlich war, dass eine Sicherheitskonferenz jegliche militärische Themen aussparte. Die KSZE habe aber einen wesentlich umfassenderen als nur einen militärischen Sicherheitsbegriff verfolgt. Bange beleuchtete das hinter den Helsinkier Kulissen betriebene Dreiecksspiel zwischen Bonn, Moskau und Washington. Ost-Berlin blieb außen vor, sei aber durch seine erfolgreiche Auslandspionage sehr wohl genau im Bilde gewesen. Bange fragte nach den Gründen, die Erich Honecker bewogen, der Schlussakte trotz der offenkundigen Nachteile für die DDR zuzustimmen. Mit Blick auf die innenpolitische Debatte in der Bundesrepublik spitzte Bange zu, die CDU/CSU habe in ihrer Ablehnung der KSZE in Europa neben Albaniens KP allein gestanden. In seinem Kommentar fragte WINFRIED HEINEMANN (Potsdam), ob die europäischen Partner etwa ein Interesse an einer Fortdauer der europäischen und vor allem der deutschen Teilung hatten, weil diese ihnen auch Sicherheit vor Deutschland verschafften. Die KSZE diente auch dazu, beide deutschen Staaten enger in ihre jeweiligen Bündnisse zu integrieren, da die Entspannungspolitik nur innerhalb der Bündnisstrukturen geführt werden konnte. In der anschließenden Diskussion betonte Békés, der Warschauer Pakt habe eine streng defensive Doktrin und keine militärischen Angriffsabsichten gehabt, auch wenn dessen Operationspläne offensiv ausgerichtet waren. ULRICH LAPPENKÜPER (Friedrichsruh) sprach die Rolle der französischen Außenpolitik an und fragte, ob die durch die Ostpolitik eröffnete Perspektive einer deutschen Wiedervereinigung im Westen als Chance oder als Risiko wahrgenommen wurde. Die weiteren Fragen und Diskussionen drehten sich primär um die Rolle und Ziele Egon Bahrs. Die Bedeutung der Personen und ihrer Biographien betonten Kieninger und Bange mit Blick auf die junge Generation sowjetischer Politiker unter Michail Gorbatschow. Es sei kein Zufall, dass zahlreiche Politiker der Perestroika-Jahre über KSZE-Erfahrungen verfügten.

"Die Wiedervereinigung Deutschlands – 20 Jahre danach: Welche Chancen haben wir genutzt, welche haben wir versäumt?“ fragte HORST TELTSCHIK (Rottach-Egern) auf dem traditionellen Abendvortrag der ITMG. Als enger Vertrauter Helmut Kohls war Teltschik maßgeblich an den deutsch-deutschen Gesprächen 1989/1990 und den internationalen Verhandlungen zur deutschen Einheit beteiligt. Im November 1989 sei die größte Sorge der Bundesregierung gewesen, was passiere, wenn doch noch Schüsse fielen – sei es aus Nervosität oder aus Angst. Auf den Vereinigungsprozess zurückblickend, plädierte er dafür, nicht nach Fehlern zu suchen. Das Tempo der Einigung sei nur von einer Seite bestimmt worden – den Menschen in der DDR. Wiederholt thematisierte Teltschik das deutsch-französische Verhältnis – 1989/90, davor und danach. Die Skepsis François Mitterrands gegenüber der deutschen Wiedervereinigung habe in seiner Sorge begründet gelegen, dass ein vereintes, größeres Deutschland den europäischen Einigungsprozess aufkündigen könnte. Kohls enger Berater verneinte die häufig geäußerte Vermutung, die deutsche Zustimmung zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sei der Preis für das französische Ja zur Einheit gewesen. Mit entsprechenden Planungen sei bereits vor dem Herbst 1989 begonnen worden, strittig sei zwischen Kohl und Mitterrand lediglich der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung gewesen. Mit Blick auf heutige internationale Probleme fasste Teltschik seine Erfahrungen prägnant zusammen, wichtig sei nicht immer die Realität, sondern meist die Perzeption.

Krisen als Brenn- und Wendepunkte des Ost-West-Konflikts diskutierte die zweite Sektion. WANDA JARZABEK (Warschau) untersuchte die polnische Krise 1980/81 und die unterschiedlichen Ansätze innerhalb des östlichen Bündnisses zu deren Beilegung. Den radikalsten Ansatz – analog zu Prag 1968 – habe Erich Honecker verfolgt. Nicolae Ceausescu und Janos Kadar plädierten dagegen für Mäßigung. Die Folgen der „Able Archer“-Übung 1983 untersuchte MARK KRAMER (Cambridge, USA). Sein Fazit: „Able Archer“ werde stark überbewertet. Die Welt habe 1983 bei weitem nicht am Rand eines nuklearen Krieges gestanden. Gestützt auf sowjetische Akten und von ihm befragte vormalige sowjetische Politiker und Militärs sah Kramer keine Hinweise, dass das Politbüro und der Generalstab in Moskau über „Able Archer“ besorgt gewesen seien oder es gar Ängste vor einem amerikanischen Überraschungsangriff gegeben habe. Blockübergreifend skizzierte JOSEPH P. HARAHAN (Springfield, USA) die internationalen Rüstungskontrollverhandlungen und -mechanismen als Instrument vertrauensbildender Maßnahmen. Michael Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse erkannten die größte Bedrohung der Sowjetunion nicht im Westen, sondern aus ihrem Inneren heraus. Konsequenterweise sahen beide die Notwendigkeit zur Reduzierung der Militärausgaben. Auf amerikanischer Seite habe insbesondere die CIA die Glaubwürdigkeit der neuen sowjetischen Führung und Gorbatschows persönlich angezweifelt, als „reine Rhetorik“ oder gar als Täuschungsmanöver verkannt und in den Abrüstungsinitiativen Moskaus gar eine Gefahr für den Zusammenhalt der westlichen Allianz gesehen. WILFRIED LOTH (Essen) stellte seinen Kommentar unter das Leitmotiv der Lernprozesse. So wie die polnische Krise zu einem Lernprozess für die Sowjetunion wurde, führte „Able Archer“ 1983 zu einem Lehrprozess auf amerikanischer Seite. Loth relativierte Kramers Einschätzung einer „non-crisis“: „Es war nicht nichts“. Den Rüstungskontrollvereinbarungen lag ein nicht zuletzt den immensen Kosten der Rüstung geschuldeter Lernprozess auf beiden Seiten zu Grunde: die „Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sicherheitspolitik“. Im Prinzip der gemeinsamen Sicherheit und der kooperativen Sicherheitsstrukturen sah Loth bereits 1987 das Ende des Kalten Krieges. In der Diskussion wurde von DIETER KRÜGER (Potsdam) hinterfragt, ob nicht hinter allen großen Krisen im Ostblock ein gleiches Grundmuster sichtbar werde. Durch die ökonomische Schwäche des real existierenden Sozialismus ausgelöste Wirtschaftskrisen zwangen die Parteiführungen zu Reformschritten und damit zum Lockern der Zügel bis sie schließlich von der Dynamik der Prozesse überrollt wurden. Somit sei die grundsätzliche Reformunfähigkeit des real existierenden Sozialismus die gemeinsame Ursache der diversen Krisen. Kramer differenzierte die Sicht auf Gorbatschow als generellem Gegner militärischer Interventionen mit Hinweis auf den von ihm befohlenen oder zumindest autorisierten Einsatz gegen die litauische Unabhängigkeitsbewegung 1990. Er widersprach zugleich der Einschätzung Loths, die Breschnew-Doktrin habe nicht erst mit Gorbatschow sondern bereits mit der Nichtintervention in Polen 1980/81 ihr Ende gefunden. Loth entgegnete, er sehe eine graduelle Entwicklung hin zur neuen Politik Moskaus, aber eine radikale Umkehr unter Gorbatschow. GREGORY PEDLOW (Mons, Belgien) und SIGURD HESS (Rheinbach) unterstützen Kramers Einschätzung, „Able Archer“ sei in Moskau nicht als Bedrohung wahrgenommen worden.

Den Beziehungen zwischen beiden Bündnissen und ihren deutschen Mitgliedstaaten widmete sich eine weitere Sektion. TIM GEIGER (Berlin) zufolge blieb die Bundesrepublik aufgrund ihrer geopolitischen Lage besonders druckempfindlich. Hinzu kamen die Schatten der jüngeren deutschen Vergangenheit. Geiger brachte seine Analyse auf die Formel, die zwei Schwachstellen der Bundesrepublik seien „Berlin und Auschwitz“ gewesen. Diese hätten Bonn auch im atlantischen Bündnis eine Politik der Zurückhaltung anempfohlen. Seine tatsächliche Machtposition habe Bonn nur selten öffentlich gemacht. JORDAN BAEV (Sofia) spiegelte Geigers Ausführungen, indem er offizielle und inoffizielle Mechanismen der bi- und multilateralen Koordinierung des sowjetisch geführten Blocks analysierte. Er konstatierte, die DDR habe aufgrund ihrer exponierten Lage und ihres ungeklärten Status in den ersten Jahrzehnten innerhalb des Warschauer Pakts zumeist eine härtere Position eingenommen als die anderen Paktstaaten. Dies habe nicht selten zu Spannungen und Zielkonflikten mit moderater auftretenden Regierungen, wie denen Ungarns und Rumäniens, geführt. In den Gorbatschow-Jahren habe sich dann die Positionen der DDR, der ČSSR und Rumäniens angenähert. HEINER MÖLLERS (Potsdam) richtete seinen Focus zur NATO-Doppelbeschlussdebatte nicht auf SPD und FDP, die ohnehin im Mittelpunkt des zeitgenössischen und des späteren historiographischen Interesses standen, sondern auf den wenig bekannten Widerstand gegen die Nachrüstung innerhalb der CDU/CSU. DIETER KRÜGER nutzte seinen Kommentar zu differenzierenden und vergleichenden Gedanken zur Rolle und zum Einfluss beider deutscher Staaten in ihren Bündnissen. Die DDR habe den Warschauer Pakt in den 1960er-Jahren benutzt, um mit einer „umgekehrten Hallstein-Doktrin“ die Anerkennung durch Bundesrepublik zu erzwingen. Das östliche Bündnis habe für die DDR und die osteuropäischen Staaten in gewisser Weise die fehlende innere Legitimation ersetzt: Innerhalb des Blocks habe sich die DDR als scheinbar gleichberechtigt darstellen können. Unter vergleichbaren Legitimationsdefiziten habe die Bundesrepublik nie gelitten. Krüger betonte, die Sowjetunion habe keine Aggressionsabsichten verfolgt und verwies auf die Notwendigkeit, zwischen politischen Absichten und strategischen Dispositiven zu differenzieren. Er widersprach zudem teilweise der Bewertung des Warschauer Pakts als „verlängertem Arm der Sowjetunion“. Militärisch möge dies gelten, politisch seien aber durchaus nationale Interessen verfolgt worden. Sowohl in der NATO als auch im sowjetisch geführten Block habe es vergleichbare Intra-Block-Kontroversen gegeben.

MARIE-PIERRE REY (Paris) skizzierte den Weg der Veränderungen im Denken Gorbatschows und führte dann in die Sektion zu Interdependenzen von innerer und äußerer Sicherheit ein. HOLGER NEHRINGs (Sheffield, Großbritannien) vergleichender Blick auf die Protestbewegungen in Ost und West konzentrierte sich auf die Opposition gegen die Nachrüstung in der Bundesrepublik und die kirchliche Friedensbewegung in der DDR. OLDRICH TUMA (Prag) stellte in seinem Kommentar die großen politischen Unterschiede in Zielen und Motiven der Protestbewegungen in Ost und West – bei gleichzeitiger nahezu identischer Visualisierung und ähnlichem Auftreten – heraus.

Den operativen Planungen beider Blöcke sowie dem Verhältnis von Strategie und wechselseitiger Perzeption galt ein mit besonderer Spannung verfolgter Konferenzabschnitt. Sektionsleiter HANS-HUBERTUS MACK erinnerte daran, dass Krieg zu Zeiten des Ost-West-Konflikts sehr wohl als realistische Gefahr angesehen und mit entsprechend hohem Aufwand beübt wurde. Auf der Grundlage "scharfer" Einsatzpläne der NATO und der Bundeswehr stellte HELMUT HAMMERICH (Potsdam) erstmalig das worst case-Szenario nach Auslösung der höchsten NATO-Alarmstufe vor. Einem massiven Angriff des Warschauer Paktes sollte demnach in Norddeutschland nach kurzer Vorbereitungszeit mit vier Korps begegnet werden. Angesichts fehlender konventioneller Streitkräfte hätte die NATO allerdings auch in den 1980er-Jahren sehr schnell vor der Entscheidung gestanden, taktische Nuklearwaffen einzusetzen, um die wichtigen Schlüsselgelände halten zu können. Daran änderten weder die Modernisierung der konventionellen Streitkräfte noch das neue und in der Umsetzung befindliche FOFA-Konzept (Follow-on-Forces-Attack) etwas. Hammerich zeigte, dass eine moderne Operationsgeschichte politik- und strategiegeschichtliche Ansätze sehr gut ergänzen kann. SIEGFRIED LAUTSCH (Köln) spiegelte Hammerichs Ausführungen aus östlicher Perspektive, indem er die NVA-Operationspläne für den norddeutschen Raum aufzeigte. Da die DDR-Streitkräfte alle operativen Unterlagen vor dem 3. Oktober 1990 vertragsgetreu an die sowjetischen Stäbe übergaben, fehlen der Forschung schriftliche Quellen. Lautsch schloss diese Lücke ansatzweise mit aus eigenen Erinnerungen seiner früheren Funktionen in Operativabteilungen höherer NVA-Stäbe erarbeiteten Unterlagen. Seine Ausführungen begann er mit Skizzen zum strategischen Denken der sowjetischen Militärs. Aufgrund der Erfahrungen des Juni 1941 sei es deren oberste Priorität gewesen, einen Überraschungsangriff zu verhindern und den Gegner stattdessen auf dessen Territorium zu schlagen. Die von ihm vorgestellten offensiven operativen Pläne der 5. Armee aus dem Jahr 1983 bedeuteten aber keineswegs, dass ein Angriff vorgesehen war, betonte Lautsch. Es sollte lediglich einem durch verlässliche Erkenntnisse bestätigten unmittelbar bevorstehenden gegnerischen Angriff zuvorgekommen werden. Mit der 1985 erarbeiteten neuen rein defensiv ausgerichteten operativen Planung sei dann auch diese offensive Option obsolet geworden. Mit seien Plänen habe der sowjetische Generalstab bereits 1985 das neue defensive strategische Konzept des Warschauer Vertrages von 1987 vorweggenommen.

BERND LEMKE sah in der Allied Mobile Force (AMF) nicht nur einen militärischen Verband, sondern primär ein Kommunikationsmittel. Mit ihr sollte dem Gegner die Entschlossenheit der atlantischen Allianz demonstriert werden. In seinem Kommentar stellte JAN HOFFENAAR (Den Haag) drei Essentials der Analyse operativer Planungen heraus: Intentionen, Kapazitäten und Perzeptionen. Er hinterfragte, in wie weit in Moskau, im sowjetischen Generalstab und in der NVA tatsächlich an einen Angriff der NATO geglaubt wurde, zumal die östliche Aufklärungsarbeit sehr gut war. Die defensive Ausrichtung der NATO könne den östlichen Militärs nicht verborgen geblieben sein. In der kontrovers geführten anschließenden Debatte meldeten sich vormalige Militärs aus Ost und West zu Wort. HANS-HENNING VON SANDRART (Falkensee) unterstützte Lemkes Wertung der Allied Mobile Force als Kommunikationsmittel mit dem Gegner. Diesem sollte mittels der AMF die Gefahr eines unmittelbaren und frühzeitigen Zusammenpralls mit amerikanischen Truppen und die damit verbundene mögliche nukleare Eskalationsstufe vor Augen geführt werden. FRIEDRICH FREIHERR VON SENDEN (Birkenwerder) griff Hoffenaars nachdenkliche Frage nach dem „Danach“ eines Atomwaffeneinsatzes auf. Übungen seien immer mit dem Nuklearwaffeneinsatz beendet, ein „Danach“ sei nicht mehr dargestellt worden. GERHARD GROSS (Potsdam) plädierte wie Hoffenaar für weitere operationsgeschichtliche Forschungen. Letztlich Ausdruck der Wahrnehmung gegnerischer Absichten, könnten Operationspläne bedeutende Erkenntnisse zur Perzeptionsforschung beisteuern.

Ausgehend von Odd Arne Westads Thesen über den „globalen Kalten Krieg“ galt die abschließende Sektion dem Agieren beider deutscher Staaten in der Dritten Welt. Wiederum wurde die Politik Bonns und Ost-Berlins gleichermaßen einer historisch-kritischen Analyse unterzogen. ROMAN DECKERT (Berlin) blickte auf die von beiden deutschen Staaten geleistete militärische Unterstützung des Sudan. Die Bundesregierung habe dem Regime in Karthum über Jahrzehnte direkte und über Rüstungsfirmen indirekte Militärhilfe zukommen lassen. KLAUS STORKMANN (Potsdam) analysierte Motive, Ziele und Aktionsfelder der DDR-Militärhilfen für die Dritte Welt. Für die DDR seien die Militärkontakte in die Dritte Welt grundsätzlich in die Strategie und Ideologie der Systemkonfrontation eingebettet gewesen, dennoch blieb darin Raum für eigene Interessen Ost-Berlins. JASON VERBER (Iowa City, USA) konzentriert seine Forschungsarbeit auf Namibia und das dortige Agieren beider deutscher Staaten. Alle drei Beiträge ließen laut WINFRIED HEINEMANNs Kommentar erneut erkennen, was bereits mehrfach auf der Tagung heraus gearbeitet wurde: die erhebliche Bedeutung der Geheimdienste. Bedrohung sei nicht zuerst eine Realität, sondern eine Perzeption, so Heinemann.

Eine prominent besetzte Podiumsdiskussion schloss die Tagung ab. Hochrangige Zeitzeugen aus der alten Bundesrepublik und der DDR brachten im Dialog mit dem Publikum ihre Erinnerungen als damalige verantwortliche Politiker und Militärs ein. LOTHAR DE MAIZIÈRE (Berlin) würdigte auf die Monate seiner Regierung zurückblickend die Loyalität der NVA und namentlich von Admiral Theodor Hoffmann als deren letzter Chef. Unter dessen Führung seien die DDR-Streitkräfte den schwierigen Weg der eigenen Auflösung mitgegangen. THEODOR HOFFMANN (Berlin) hob den Anteil der „bewaffneten Organe“ der DDR daran hervor, dass im Herbst 1989 und danach kein Schuss fiel und die „Wende“ friedlich verlief. Die NVA habe die politische Wende nicht herbeigeführt, sie sei auch kein Vorreiter der deutschen Einheit gewesen, sie habe aber diese Prozesse loyal mitgetragen. Auf das Jahr 1990 und die Auflösung der NVA zurückblickend, konstatierte KLAUS NAUMANN (Otterfing), es sei nicht um Sieger und Besiegte gegangen, sondern um faire Zusammenarbeit und Zusammenwachsen von zwei deutschen Staaten einer Nation. Diese Einschätzung aufgreifend appellierten de Maizière und der frühere Staatssekretär WERNER ABLASS (Berlin) an die Bundesregierung, ehemaligen NVA-Soldaten das Führen ihrer Dienstgrade außer Dienst zu gestatten. Die Perspektive von Außen auf die Deutschen in West und Ost brachte GEORGES-HENRI SOUTOU (Paris) ein. Wie die meisten anderen europäischen Regierungen sei auch die französische noch Anfang 1990 überzeugt gewesen, dass die deutsche Wiedervereinigung nicht kommen werde, schon allein weil die Sowjetunion dies nicht zulassen werde. Nur zwei französische Staatsmänner haben in den Jahrzehnten der Teilung an die deutsche Einheit geglaubt: Robert Schumann, der Deutschland aufgrund seiner Biographie gut kannte, und Charles de Gaulle, der „die DDR nie erst genommen“ habe. Soutou wertete bei allen Schwierigkeiten – von außen betrachtet – die deutsche Vereinigung als Erfolg.

Die 51. ITMG leistete ihren Beitrag zur Beantwortung der bis heute umstrittenen Fragen nach den langfristigen Ursachen für die letztlich friedliche Auflösung des politisch-militärischen Antagonismus. Sie zeigte, dass Sicherheitspolitik unter den Aspekten Politik, Blöcke, Militär und Gesellschaft äußerst vielschichtig erforscht werden kann. Dementsprechend facettenreich war die Konferenz. Deren einzelnen Panels wären durchaus jeweils eigene Konferenzen wert gewesen. Die skizzierten Aspekte zukünftig durch internationale Forschungsverbünde und -kooperation zu vertiefen ist eine lohnende Aufgabe für die zukünftige historiographische Debatte.

Konferenzübersicht:

Hans-Hubertus Mack: Begrüßung
Oliver Bange; Bernd Lemke: Einführung
Gottfried Niedhart: Einführungsvortrag Deutsche Frage und Kalter Krieg 1945-1969

Sektion I: Der Weg in die Ost- und Entspannungspolitik ab 1970

Gerhard Groß: Einführung
Csaba Békés: Östliche Strategien
Stephan Kieninger: Westliche Strategien
Oliver Bange: KSZE-Prozess und Ost-West-Dynamik
Winfried Heinemann: Kommentar

Abendvortrag
Horst Teltschik: Die Wiedervereinigung Deutschlands – 20 Jahre danach: Welche Chancen haben wir genutzt, welche versäumt?

Sektion II: Krisen und ihre Folgen 1970-1990

Burkhard Köster: Einführung
Wanda Jarząbek: Polen
Mark Kramer: Able Archer
Joseph P. Harahan: Die internationalen Rüstungskontrollverhandlungen und die Wiedervereinigung Deutschlands
Wilfried Loth: Kommentar

Sektion III: Die Bündnisse und ihre deutschen Mitglieder

Heiner Bröckermann: Einführung
Tim Geiger: NATO und Bundesrepublik
Jordan Baev: Warschauer Pakt und DDR
Heiner Möllers: Der NATO-Doppelbeschluss in der parlamentarischen Auseinandersetzung und medialen Berichterstattung der Bundesrepublik Deutschland
Dieter Krüger: Kommentar

Sektion IV: Die Interdependenz von innerer und äußerer Sicherheit

Marie-Pierre Rey: Einführung
Holger Nehring: Protestbewegungen in Ost und West
Rainer Eckert: Friedensbewegung in der DDR
Oldřich Tůma: Kommentar

Sektion V: Operative Planungen: Zum Verhältnis von Strategie und wechselseitiger Perzeption

Hans-Hubertus Mack: Einführung
Helmut Hammerich: Die Operationsplanungen der NATO zur Verteidigung der Norddeutschen Tiefebene in den 1980er-Jahren
Siegfried Lautsch: NVA-Operationsplanung für Norddeutschland
Bernd Lemke: Abschreckung, Provokation oder Bedeutungslosigkeit? Die Allied Mobile Force in den Wintex und HILEX-Übungen 1970-1980
Jan Hoffenaar: Kommentar

Sektion VI: Bundesrepublik und DDR in globaler Perspektive

Bernd Lemke: Einführung
Roman Deckert: Bundeswehr und NATO in der Welt
Klaus Storkmann: »Antiimperialistische Solidarität« oder Interessenpolitik? Militärhilfen der DDR für die Dritte Welt
Jason Verber, Die Politik der DDR und der Bundesrepublik in Südwestafrika und Namibia
Winfried Heinemann: Kommentar

Abschlussdiskussion: Die deutsche Frage als historischer Faktor auf dem Weg zur Wende 1989/90

Michael Epkenhans: Einführung
Ministerpräsident a.D. Lothar de Maizière
Minister a.D. Theodor Hoffmann
General a.D. Klaus Naumann
Georges-Henri Soutou


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Deutsch
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