Bicentenario: 200 Jahre Unabhängigkeit in Lateinamerika

Bicentenario: 200 Jahre Unabhängigkeit in Lateinamerika

Organisatoren
Stefan Rinke, Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin; Hans-Martin Hinz, Deutsches Historisches Museum Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.12.2010 - 11.12.2010
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Von
Frederik Schulze, Neuere Geschichte / Geschichte Lateinamerikas, Freie Universität Berlin

2010 feierten mehrere Länder Lateinamerikas die zweihundertste Wiederkehr der Unabhängigkeit von Spanien. Diesen ‚Bicentenario’ nahmen das Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin und das Deutsche Historische Museum zum Anlass, im Rahmen einer internationalen Tagung der Frage nach der Unabhängigkeit als Bezugspunkt nationaler Erinnerung in Gesellschaft, Öffentlichkeit und Historiographie Lateinamerikas nachzugehen. Dabei berücksichtigte die Tagung die regionale Heterogenität Lateinamerikas und bot Beiträge zu vielen wichtigen hispanoamerikanischen Regionen sowie zu Haiti und Brasilien. Die Tagung wurde eröffnet mit Grußworten vom Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum Hans Ottomeyer, Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, dem Botschafter der Republik Uruguay Pelayo Díaz Muguerza und Johannes Bloos vom Auswärtigen Amt.

In seiner Einführung skizzierte STEFAN RINKE (Berlin) die Forschungslage zur lateinamerikanischen Unabhängigkeit. Nachdem die lateinamerikanische Historiographie bis in die 1950er-Jahre die Unabhängigkeit als Gründungsmythos der Nation beschrieben und die Bedeutung von Unabhängigkeitshelden und der nationalen Einheit hervorgehoben habe, sei diese Meistererzählung in den 1960er-Jahren durch eine revisionistische Geschichtswissenschaft aufgebrochen worden und verstärkt die soziale Dimension der Unabhängigkeit analysiert worden. Momentan stünden drei Themenschwerpunkte im Mittelpunkt der Forschung, nämlich die politische Geschichte und Aushandlungsprozesse auf lokaler Ebene, wobei vor allem nicht-privilegierte Schichten das Interesse auf sich zögen, des Weiteren nationale Erinnerungspolitiken und zum dritten globale und transregionale Ansätze. Auf diesen Ansätzen fußten die drei thematischen Schwerpunkte, öffentliche Festkultur, Helden und Schurken sowie Vermittlung und Aufarbeitung der Unabhängigkeit im schulischen Umfeld und in wissenschaftlichen Einrichtungen, als Leitfäden der Tagung.

Der erste Tagungstag wurde mit zwei einführenden Vorträgen fortgesetzt. HILDA SABATO (Buenos Aires) sprach über „Independencia y nación en la historia de América Latina“. Dabei ging es ihr um die Rolle der Historikerin bzw. des Historikers bei der Erinnerung an die Unabhängigkeit im Rahmen gesellschaftlicher Erinnerungspraktiken. Im Anschluss machte ÉTIENNE FRANÇOIS (Berlin) in seinem Vortrag deutlich, welche unterschiedlichen Rollen die Revolution in der europäischen Erinnerungskultur seit der Französischen Revolution spielte, und stellte den Verlust der Strahlkraft der Revolution heutzutage fest.

Das erste Panel widmete sich der öffentlichen Festkultur und ging den Fragen nach, welche Ausgestaltungen sich für die Inszenierung der Unabhängigkeit im öffentlichen Raum feststellen lassen, welchen Anteil dabei Feiertage, Feierlichkeiten und Denkmäler hatten und wer die Träger des Nationenbildungsprozesses waren. STEFAN RINKE stellte in seinem Vortrag den chilenischen Umgang mit der Unabhängigkeit anlässlich der beiden Jahrhundertfeiern vor. Zwar lasse sich über die Zeit eine Veränderung der Feierlichkeiten beobachten, doch stehe nach wie vor die Nation und deren Symbole wie Denkmäler und Militärparaden im Mittelpunkt der Erinnerung, während beispielweise indigene Gruppen kaum einbezogen würden. SILKE HENSEL (Münster) referierte über „Die Rolle politischer Feste bei der Legitimierung einer neuen Ordnung“. Dabei zeigte sie die Aushandlungsprozesse zu Verfassungsfragen und nationaler Identitätsstiftung, wie sie im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten des ersten mexikanischen Kaisers, Agustín de Iturbide, stattfanden. HÉCTOR PÉREZ-BRIGNOLI (San José, Costa Rica) sprach über „La Independencia centroamericana y la formación de una cultura festiva pública“. Dabei entwarf er ein Panorama der zentralamerikanischen Unabhängigkeitsfeiern in unterschiedlichen Ländern und zeigte, welche Akteure und Erinnerungsformen in den ersten 100 Jahren entscheidend waren.

Das zweite Panel behandelte „Helden und Schurken“ der Unabhängigkeit. Hier sollten Mythenbildungen und deren De- und Rekonstruktionen thematisiert werden. Wie und zu welchem Zweck wurden die Akteure der Unabhängigkeit Teil des Erinnerungsprozesses? Gibt es einen Wandel in der Beurteilung bestimmter Personen? Welche Akteure haben zu welchem Zweck vermeintliche Helden in der Nachschau instrumentalisiert? MICHAEL ZEUSKE (Köln) reflektierte in seinem Beitrag „Miranda/Bolívar und die karibische Revolution der Sklaven“ Gedanken über Humboldts Sicht auf die „Helden“ der Unabhängigkeit und stellte in einem zweiten Teil die These auf, dass es sich bei der Unabhängigkeit um einen Mythos handele, den es aufgrund der Heterogenität der Ereignisse zu dekonstruieren gelte. JURANDIR MALERBA (Porto Alegre) sprach über „Dom João VI, rey de Brasil” und zeigte, dass die Konstruktion der Figur des Königs João hoch umstritten und jeweils abhängig von Strömungen innerhalb der Historiographie war. BARBARA POTTHAST (Köln) legte in ihrem Vortrag den Umgang mit der historischen Figur des Dr. Francia dar, wobei deutlich wurde, dass in Paraguay ein anderes Ereignis, nämlich der Tripelallianzkrieg, die Erinnerung an die Unabhängigkeit überlagert. Abschließend sprach REBECCA EARLE (Warwick) über „El indígena como héroe de la independencia“. Sie machte auf die Instrumentalisierung des Indigenen seitens der lateinamerikanischen Eliten für den Nationenbildungsprozess aufmerksam.

Das dritte Panel befasste sich mit der Vermittlung und Aufarbeitung der lateinamerikanischen Unabhängigkeit bis in die Gegenwart hinein. Insbesondere die Vermittlung dieser Geschichte im öffentlichen Raum rückte dabei ins Zentrum des Interesses. EDUARDO CAVIERES (Valparaíso) eröffnete die Sektion. In seinem Vortrag reflektierte der chilenische Nationalpreisträger über die noch immer starke symbolische Bedeutung der Beschäftigung mit der Unabhängigkeit und ihren Mythen in ganz Lateinamerika. Dabei betonte er die Verantwortung der lateinamerikanischen Historiker zu einer Öffentlichkeit über die nationalen Grenzen hinaus wirken zu müssen. MICHAEL RIEKENBERG (Leipzig) schloss an mit seinem Vortrag über den argentinischen Revolutionsmythos. Dabei zeigte er, dass es sich bei den Unabhängigkeitsrevolutionen um Handlungen von Gewaltakteuren gehandelt habe, die nur durch ein sich ergänzendes Erinnern und Vergessen für die nationale Erinnerung nutzbar zu machen seien. CHRISTIAN BÜSCHGES (Bielefeld) diskutierte die ecuadorianischen Identitätsdiskurse im Zusammenhang mit der indigenen Geschichte des Landes. CARY HECTOR (Port-au-Prince) referierte über „Die Unabhängigkeit Haitis im Spannungsfeld zwischen Staat, Nation und Weltsystem“ und schlug einen Bogen von der Symbolik der frühen Unabhängigkeitsphase bis hin zu jüngsten Herausforderungen Haitis nach dem Erdbeben von 2010.

HANS-JOACHIM KÖNIG (Eichstätt) ging in seinem Abschlussvortrag auf verschiedene Aspekte der Tagung ein. Nach einer theoretischen Erörterung von Konzepten wie Erinnerung und Erinnerungsorten wandte er diese auf den lateinamerikanischen Kontext an und zeigte die Bedeutung verschiedener Erinnerungsformen an die Unabhängigkeit.

In der Abschlussdiskussion wurden die Ergebnisse resümiert. Deutlich wurde, dass die Bindungskraft der Nation nicht zuletzt aufgrund der Nutzung der Unabhängigkeit nach wie vor als stark einzuschätzen ist. Diese integrative Wirkung bringt aber auch Marginalisierung mit sich, da in der Regel traditionelle Eliten die Unabhängigkeitserinnerung inszenierten und bestimmte Gruppen, vor allem die Indigenen, entweder ausgeschlossen oder nur als Symbole einbezogen werden. Hier liegen aktuelle Aufgaben der Historikerinnen und Historiker, die sich in gesellschaftliche Debatten einbringen und tradierte Erinnerungen hinterfragen können. Die Tagung zeigte die Heterogenität der lateinamerikanischen Unabhängigkeiten und ihrer Erinnerung. Als Trend der Zukunft, so resümierte man, sei klar die zunehmende Tendenz zur Interpretation der Ereignisse an sich, aber auch ihrer Rezeption durch die Nachwelt in globalen Zusammenhängen zu erkennen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Eröffnungsvorträge
Hilda Sabato (Buenos Aires): Independencia y nación en la historia de América Latina. Viejo tema, nuevos rumbos

Étienne François (Berlin): Die Revolution. Ein europäischer Erinnerungsort?

Panel I: Öffentliche Festkultur
Stefan Rinke (Berlin): Der Monat des Vaterlands. Chile zwischen Centenario und Bicentenario

Silke Hensel (Münster): Die Rolle politischer Feste bei der Legitimierung einer neuen Ordnung. Mexiko im Übergang vom Ancien Régime zur Unabhängigkeit

Héctor Pérez-Brignoli (San José): La Independencia centroamericana y la formación de una cultura festiva pública

Panel II: Helden und Schurken
Michael Zeuske (Köln): Miranda/Bolívar und die karibische Revolution der Sklaven

Jurandir Malerba (Porto Alegre): Dom João VI, rey de Brasil. Entre la historia y la memoria

Barbara Potthast (Köln): Dr. Francia als paraguayischer Erinnerungsort

Rebecca Earle (Warwick): El indígena como héroe de la independencia

Panel III: Vermittlung und Aufarbeitung
Eduardo Cavieres (Valparaíso): Independencia y República. Procesos factuales y construcción de los imaginarios y de la memoria

Michael Riekenberg (Leipzig): Der Mythos einer Revolution. Argentiniens Eliten erfinden ihre Geschichte

Christian Büschges (Bielefeld): Der Kampf um die Nation. Historiographische und politische Debatten in Ecuador von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart

Cary Hector (Port-au-Prince): Die Unabhängigkeit Haitis im Spannungsfeld zwischen Staat, Nation und Weltsystem. Konflikte und Dilemmas (1804-2004)

Abschlusspanel: Geschichte zwischen Erinnerung und Zukunft in Lateinamerika
Hans-Joachim König (Eichstätt): Erinnerungen für die Zukunft. Zweihundert Jahre Unabhängigkeit Lateinamerikas