Zwischen Theologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen Reformationen

Zwischen Theologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen Reformationen

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.10.2010 - 15.10.2010
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Von
Arne Butt, Institut für Historische Landesforschung, Göttingen

Am 14. und 15. Oktober 2010 fand im Institut für Europäische Geschichte in Mainz die interdisziplinäre, von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderte Tagung „Zwischen Theologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen Reformationen“ statt. Ziel der Tagung war es, die Ausbildung und Entwicklung der Kirchenleitungsgremien im sich herausbildenden frühneuzeitlichen Territorialstaat des „langen 16. Jahrhunderts“ bis zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges zu beleuchten. Hierbei wurde neben der lutherischen auch die reformierte und die römisch-katholische Konfession in den Blick genommen. Die gut aufeinander abgestimmten Vortragsthemen, die im Verlauf der Tagung jederzeit eine ineinandergreifende Diskussion der Teilnehmer erlaubten, beleuchteten das Thema aus zwei Leitperspektiven: Zum einen wurden die theologischen und juristischen Diskurse des 16. Jahrhunderts aufgezeigt, die die Grundlage für die Ausbildung der Kirchenleitungsgremien bildeten. Zum anderen wurde die Implementierung von Kirchenstrukturen anhand mehrerer Fallbeispiele dargestellt. Dabei ging es vor allem um die dadurch aufscheinenden landesherrlichen Entscheidungsspielräume sowie die teils kontroversen, sowohl innerkirchlichen als auch mit der politischen Administration geführten Aushandlungsprozesse.

Nach der Begrüßung der Tagungsteilnehmer durch IRENE DINGEL, Direktorin des Instituts für Europäische Geschichte, führte JOHANNES WISCHMEYER in das Tagungsthema ein. Er betonte, dass die Reformation entgegen der anfänglichen Intention tendenziell zu einer stärkeren Verquickung von weltlicher und geistlicher Sphäre führte. Zu den zentralen Aufgaben einer Kirchenleitung gehörten die Wahrung der Lehrinhalte, die Aufrechterhaltung der Kirchenzucht, aber auch die Aufsicht über die nachgeordnete Kirchenstruktur und die Bildungseinrichtungen. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben bildeten sich unterschiedliche Strukturen heraus: Zum einen Konsistorien, die teilweise in Konkurrenz mit synodalen Elementen standen; zum anderen war die Integration in die landesherrliche Zentralverwaltung möglich, zum dritten die Übernahme bzw. Beibehaltung der Diözesanstruktur. Wischmeyer wies auf offene Fragen hin, durch deren Beantwortung Paradigmen wie Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung differenziert werden könnten: Ist die kirchliche Rechtspraxis eher in Kontinuität zum Spätmittelalter oder als Angleichung an zum Beispiel in den Policeyordnungen repräsentierte Entwicklungen zu bewerten? Wie wirkte sich das Nebeneinander von Theologen und Juristen in den Kirchenleitungsgremien aus? Welche institutionellen Ausprägungen waren der allgemeinen administrativen Entwicklung im 16. Jahrhundert geschuldet? Und nicht zuletzt: Welche Alternativen zu den vorherrschenden Kirchenleitungsmodellen wurden im 16. Jahrhundert diskutiert oder gar implementiert?

ELISABETH ROSENFELD stellte eingangs die unterschiedlichen, bis circa 1530 geäußerten Vorstellungen Luthers, Melanchthons und Bugenhagens zur Kirchenstruktur vor. Luther betrachtete das Ortspfarreramt als wichtigstes kirchenleitendes Amt, die Visitation als übergeordnete Institution aus menschlichem Recht. Nicht klar definiert war die Rolle der weltlichen Obrigkeit, die Luther aufgrund ihres Christseins in der Pflicht sah, zur Besserung der Kirche beizutragen. Melanchthon vertrat die Auffassung, dass Verkündigung und Sakramentsverwaltung einzelnen Personen übertragen werden sollten, doch wem diese Übertragung obliegen sollte, präzisierte er nicht. Für diese genuin bischöflichen Aufgaben sah er später ein Superintendentenamt vor. In der Confessio Augustana hingegen erwähnte Melanchthon dieses Amt nicht. Er bezog sich vielmehr auf das Bischofsamt, für dessen Anerkennung er lediglich ein dem Evangelium gemäßes Amtsverständnis der Amtsträger zur Voraussetzung machte. Bugenhagen wiederum empfahl Gemeinden, denen ein evangelischer Prediger verweigert wurde, einen solchen nach „althergebrachtem Recht“ zu wählen, der dann aber auch von ihnen versorgt werden musste. Neben den Prediger stellte Bugenhagen einen Diakon, dem in erster Linie karitative Aufgaben zugeordnet waren. In späteren Kirchenordnungen sah er Superintendenten vor, zeigte sich aber durchaus flexibel, als er etwa in der Pommerschen Kirchenordnung am Bischofsamt festhielt. Kirchliche Strukturen oberhalb der Superintendentenebene spielten in Luthers, Melanchthons und Bugenhagens Vorstellungen zunächst keine Rolle. Die Mitwirkung der weltlichen Obrigkeit blieb zunächst unbestimmt, da zum Beispiel das landesherrliche „Notbischofsamt“ erst ab Mitte der 1530er-Jahre diskutiert wurde.

In der anschließenden Diskussion wurde hervorgehoben, dass erstaunlicherweise die geistliche Jurisdiktion, für die definitiv neue Strukturen geschaffen werden mussten, in der Frühphase der Reformation kaum thematisiert wurde, und dass mit den Superintendenten, die die Lehre der Pfarrer beaufsichtigten, situativ auf die Täuferbewegung reagiert wurde.

JOHANNES WISCHMEYER umriss zunächst die weitere Entwicklung kirchenleitender Strukturen ab den 1530er-Jahren. Im Vordergrund standen die Schaffung stabiler administrativer Strukturen und eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Hierzu wurden auf territorialer Ebene vorrangig Konsistorien eingerichtet, die sich meist aus nichtständigen Visitationskommissionen entwickelten. Wischmeyer zeigte am Beispiel der Theologen Erasmus Sarcerius (1501-1559) und David Chytraeus (1530-1600) den Diskurs über Legitimation und Kompetenzen von Kirchenleitungsgremien nach 1550. Bestimmend für beide waren die Unterscheidungen zwischen geistlicher Gerichtsbarkeit und obrigkeitlicher, gewaltbeinhaltender Exekution sowie zwischen potestas ecclesiastica interna (die der Geistlichkeit vorbehaltene Verkündigung und Disziplinargewalt) und externa. Sarcerius sah die geistliche Jurisdiktion als ‚geistliches Schwert‘ mit unabhängiger Autorität. Das Konsistorium sollte als Organ die Kirchengewalt der Geistlichkeit repräsentieren und zum Beispiel auch für die kirchliche Güterverwaltung zuständig sein. Fast eine Generation später entwarf Chytraeus einen Kirchenbegriff, der stärker territorial geprägt war. Das Konsistorium war in diesem Entwurf Repräsentant der ecclesia, moralstabilisierendes Instrument für die Obrigkeit, diente der Disziplinierung der Pfarrer und leitete seine Autorität direkt aus der Bibel ab. Während Chytraeus das ‚geistliche Schwert‘ nicht mehr erwähnte, definierte er die Abgrenzung der geistlichen von der weltlichen Jurisdiktion deutlicher. Diese Scheidung ließ sich so jedoch nicht in die Praxis umsetzen bzw. blieb problematisch.

In der anschließenden Diskussion wurde angemerkt, dass die Umsetzung von Urteilen im 16. Jahrhundert generell problematisch war. Exekutive Kirchengewalt impliziert etwa auch die Pommersche Kirchenordnung 1535, in der ein Gefängnis vorgesehen ist, das aber realiter nicht vorhanden war. Betont wurde nochmals, dass sich die lutherische geistliche Jurisdiktion auf eine Vielzahl von Rechtsquellen stützte, so dass der Unterschied zur katholischen Gerichtsbarkeit nicht überbetont werden sollte.

KLAUS UNTERBURGER widmete sich in seinem Vortrag den Entwicklungen der Kirchenleitungsstrukturen in katholischen Territorien. Die Ausgangslage im 16. Jahrhundert war auf katholischer Seite geprägt von den Vorwürfen der Landesherren, die Kirche versage bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, während die Geistlichkeit die Bedrückung der Kirche durch die Landesherren als zentrales Problem darstellte. Die Reformdekrete des Konzils von Trient (1545-1563), auf dem die weltlichen Autoritäten nur informell Einfluss ausüben konnten, waren orientiert am Ideal des Bischofs als ‚Guten Hirten‘ und stärkten die bischöfliche Stellung, während sich die weltlichen Herrscher aus der Kirchenleitung zurückziehen sollten. Die anschließende Umsetzung des päpstlich-bischöflichen Anspruchs auf das Kirchenregiment, bei dem die weltliche Seite eine dienende Funktion einnehmen und sogar die Aufsicht über die temporalia der geistlichen Seite zustehen sollte, stieß auf den Widerstand der Landesherren. An den Beispielen des Erzbischofs von Mailand Carlo Borromeo (1560-1584) und des katholischen ‚Musterstaats‘ Bayern zeigte Unterburger, dass es den Bischöfen tatsächlich gelang, ihre Position zu stärken, obwohl strukturelle Defizite in der bischöflichen Administration blieben. Die Stärkung der weltlichen Gewalt im 18. Jahrhundert machte vieles rückgängig, beachtete aber im Grundsatz die tridentinische Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre.

In der anschließenden Diskussion präzisierte Unterburger die Rolle der geistlichen Reichsstände, die als Territorialherren ähnliche Interessenlagen hatten wie die weltlichen Fürsten und sich daher zum Teil zwei getrennter Verwaltungen für die geistlichen und weltlichen Belange bedienten. Zudem wurde auf die Ähnlichkeiten der protestantischen Theologendiskurse bezüglich einer eigenen geistlichen Exekutionsgewalt und die Bedeutung der zunehmend stabiler werdenden konfessionellen Verhältnisse hingewiesen, die die teilweise Umsetzung der Tridentinischen Beschlüsse erst möglich machten.

GEORG PLASGER stellte die theologischen Grundlinien dar, an denen sich im 16. Jahrhundert lutherische und reformierte Kirche schieden. Während Luther in seinen Invocavit-Predigten 1522 die Bedeutung von Kirchenordnungen relativierte, sah Calvin die Kirchengemeinde in der Pflicht, die Ordnung der Kirche zu organisieren. Der Gläubige sollte seine Freiheit im Glauben zugunsten einer dynamischen Ordnung der Kirche bezüglich Gebräuchen, Zeremonien, Zucht und Frieden freiwillig einschränken. Die reformierte Emder Kirchenordnung von 1571 ist beispielhaft für die Bedeutung der Gemeinde und die Gleichordnung aller Amtspersonen. Dieses „antihierarchische“ Verständnis ist auch in den kurpfälzischen Kirchenordnungen von 1563/64 zu beobachten, gleichzeitig jedoch das Spannungsverhältnis zwischen der diese Ordnungen initiierenden Obrigkeit und einer eigenständigen Kirchenorganisation, das bis in das 20. Jahrhundert für die reformierten Kirchen bestimmend war.

Die folgende Debatte betonte, dass reformierte Kirchenordnungen nicht generell „staatsferner“ seien als lutherische, sich aber sehr wohl mentalitätsgeschichtlich relevante Unterschiede zeigten. Zudem sei vor allem die unterschiedliche Bewertung der Obrigkeit und die stärkere Verbindung von Theologie und Jurisprudenz – Calvin war selbst Jurist – für die Reformierten charakteristisch.

SABINE AREND untersuchte die Strahlkraft des Württembergischen Kirchenleitungsmodells im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts. Im Herzogtum Württemberg bildete sich seit den 1530er-Jahren eine vierstufige Hierarchie aus (Pfarramt, Dekanat, Superintendentur und Visitationsrat). Aus letzterem entwickelte sich 1559 der Kirchenrat, der im Vergleich zu den in Kursachsen existierenden Konsistorien nicht nur die geistliche Jurisdiktion (außer Ehesachen), sondern auch die Kirchenadministration wahrnahm. Er unterstand als Behörde wie Rentkammer und Oberrat direkt dem Fürsten und repräsentierte im Vergleich zu Kursachsen eine „zentralistische“ Kirchenleitung. Dem Württembergischen Kirchenrat oder seinem Vorgänger, dem Visitationsrat, verwandte Einrichtungen entstanden in zahlreichen Territorien, unter anderem in der Kurpfalz 1556, in Braunschweig-Wolfenbüttel 1568, in Lippe 1571, in Henneberg 1574 und sogar – mit der Einrichtung eines Oberkonsistoriums in Dresden – im Kurfürstentum Sachsen 1580. Für die Verbreitung dieses Modells war zum einen der Wunsch der Fürsten nach einer starken Einbindung der Kirche in den Territorialstaat maßgebend, andererseits aber auch der persönliche Einsatz des Tübinger Theologen Jakob Andreae, sei es als Fürstenberater oder als Urheber verschiedener Kirchenordnungen.

Im Anschluss drehte sich die Diskussion vor allem um die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten bei der Implementierung von Kirchenleitungsmodellen, wobei auf Parallelen zwischen Andreae und Bugenhagen verwiesen wurde. Zudem wurde betont, dass die teilweise Übernahme von Kirchenordnungen auf die katholische Gegenseite als wichtiges Zeichen der Einigkeit unter protestantischen Reichsfürsten wirkte.

MACIEJ PTASZYNSKI zeigte in seinem Vortrag, wie erbittert die Auseinandersetzung um unterschiedliche Kirchenleitungsmodelle geführt wurde. Die in der 1535 eingeführten pommerschen Kirchenordnung noch unbestimmte Organisation der Kirchenleitung wurde in der Kirchenordnung von 1563 präzisiert: Den drei Generalsuperintendenten, die die Ordination von Pfarrern durchführen sollten, waren die städtischen pastores primarii untergeordnet. Drei Konsistorien sollten die geistliche Jurisdiktion sowie Kontroll- und Visitationsaufgaben übernehmen. Der Stralsunder Stadtpfarrer Jakob Kruse geriet hierüber 1570, als er drei Geistliche ordinierte, in einen langjährigen Streit mit dem Generalsuperintendenten Jakob Runge. Kruse sprach das Pfarrberufungsrecht, Kirchenzucht- und Jurisdiktionsgewalt den Gemeinden zu, akzeptierte allerdings Konsistorien als Gremien für die Administration. Er war jedoch kein lutherischer Radikalreformer, sondern vertrat vielmehr das Kirchenbild der städtischen „Ratsreformation“ und einer stärker eigenständigen Stadtkirche. Obwohl er 1586 aus dem Amt entfernt wurde und die Kirchenordnung Runges bis in das 20. Jahrhundert in Kraft blieb, zeigte der Widerstand Erfolg: Nicht nur Stralsund, sondern auch andere Städte konnten sich bis zum 30jährigen Krieg der strikten Einbindung in die Landeskirche entziehen und führten zum Beispiel eigene Ordinationen durch.

Anschließend wurde diskutiert, ob nicht die Auseinandersetzungen um die Konkordienformel in Pommern den Streit zusätzlich eskalieren ließen, wobei allerdings sowohl Runge als auch Kruse Gegner der FC waren. Die Schnittstellen zwischen städtischer Kirche und Landeskirche führten auch im 17. Jahrhundert immer wieder zu Streitigkeiten zwischen Stadtregiment und Landesherrn.

REGINA BAAR-CANTONI legte dar, wie stark Konfessionswechsel die Struktur der Kirchenleitungsorgane beeinflussen. Die grundlegende lutherische Kirchenstruktur wurde in der Kurpfalz 1556 durch Kurfürst Ottheinrich geschaffen, der dabei auf bereits vorreformatorisch zu beobachtende Entwicklungen eines Landeskirchenregiments zurückgriff. Mit den Konfessionswechseln der nachfolgenden Kurfürsten war in erster Linie ein umfassender Personalaustausch verbunden, der langfristig den Aufstieg bürgerlicher Eliten beförderte. Die Ausgestaltung der Kirchenorganisation war jedoch jeweils mit Kompromissen verbunden: Die Hinwendung zur reformierten Kirche brachte eher zurückhaltende Veränderungen auf der Gemeindeebene und in der Kirchenzucht, während für die Leitungsstrukturen Kontinuität vorherrschte. Die häufigen Veränderungen führten jedoch nicht zu einer stärkeren Verquickung, sondern respektierten die weitestgehende Trennung zwischen Kirchenleitung und weltlicher Administration.

In der anschließenden Diskussion wurde vor allem der Personalaustausch thematisiert. Er konzentrierte sich auf die kirchlichen und universitären Eliten, wohingegen die weltlichen Amtsträger länger im Fürstendienst verblieben. Zudem wurde offensichtlich zwischen „Melanchthonianern“, die teilweise bleiben durften, und „Lutheranern“ differenziert. Betont wurde auch, dass bereits unter Ottheinrich die Gemeinden eine starke Stellung besaßen und dies die Auswirkungen der Konfessionswechsel weiter relativierte.

AXEL GOTTHARD widmete sich der Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens als reichs- und religionsgeschichtlichen Hauptereignisses. Das später unter der Verkürzung cuius regio, eius religio bekannte Ergebnis ist nur verklausuliert in den gegenseitigen Gewaltverzichtszusagen thematisiert. Für protestantische Territorien wurde die Aussetzung der geistlichen Jurisdiktion festgeschrieben. Die Territorialisierung der Religionswahl, die durch ein Emigrationsrecht praktikabel gemacht werden sollte, lag vor allem im Interesse der katholischen Fürsten. Die vollständige Freistellung der Religionswahl scheiterte aber auch, weil die gefestigten protestantischen Territorien sie nur halbherzig forderten, da sie ihrer nicht mehr bedurften. Der status quo sollte gesichert, aber zukünftige Veränderungen nicht ausgeschlossen werden – damit waren die Auseinandersetzungen bis zum Westfälischen Frieden 1648, dem „zweiten Religionsfrieden“ (Gotthard), vorgezeichnet. Der Augsburger Reichstag sah Herrschaft strikt territorial und besiegelte damit eine seit dem Spätmittelalter fortschreitende Entwicklung.

Anschließend kam vor allem die Motivation der katholischen Seite zur Sprache, die maßgeblich wegen des unmittelbaren Vorspiels des Reichstages (zum Beispiel des Markgrafenkriegs) auf eine verbindliche Festschreibung der momentanen Machtverteilung drang. Gleichzeitig wurde betont, dass die Übertragung der Normgebungskompetenz im religiösen Bereich auf die Territorialebene der gleichzeitigen Entwicklung in anderen Rechtsbereichen entsprach.

JENS E. OLESEN erweiterte den Horizont auf Dänemark und Norwegen und stellte deutliche Unterschiede zu den bisher betrachteten Entwicklungen dar. König Christian III. setzte 1536 die Bischöfe Dänemarks nach ihrer Gefangennahme ab und führte die Reformation durch, 1537 auch im der Krone unterstellten Norwegen. Die unter Mithilfe von Bugenhagen erarbeitete Kirchenordnung sah anstelle der Bischöfe starke Superintendenten vor, deren Autorität direkt vom König abhing. Sie rekrutierten sich vorrangig aus dem Bürgertum, so dass über diese Kirchenleitungsfunktionen ein sozialer Aufstieg möglich wurde, der sich in fester Loyalität zum Königtum niederschlug. Drei Generationen sind dabei zu unterscheiden: Für die erste Generation der Superintendenten war ein Studium in Wittenberg und eine Beteiligung an der Durchsetzung der Reformation Voraussetzung. Die zweite Generation ab circa 1560 verdichtete ihre Macht auf der lokalen Ebene, erhielt bischöfliche Privilegien zurück und führte auch wieder den Bischofstitel. Die dritte Generation um 1600 herrschte tatsächlich wie Bischöfe über ihre Amtsbezirke („Stifte“), respektierte allerdings immer die königliche Autorität.

Die anschließende Diskussion thematisierte die Kompetenzverteilung zwischen König und Superintendenten, die in der Kirchenordnung nicht klar geregelt war. In Streitfällen wurden häufig Universitätsgutachten eingefordert. Schließlich kam die Frage auf, ob das dänische Kirchenmodell, in dem der Herrscher einen gewonnenen Freiraum nicht den Adligen, sondern Bürgerlichen einräumte, als absolutistisches Modell bezeichnet werden kann, allerdings ist die Kirchenstruktur Dänemarks im 16. Jahrhundert noch nicht genügend erforscht.

MARTIN ARMGART stellte mit Siebenbürgen ein Territorium vor, in dem die Religionspolitik nicht mit dem Seelenheil der Untertanen gerechtfertigt wurde, sondern die friedliche Koexistenz der Konfessionen gewährleisten sollte. Die starken Landstände, die als nationes jeweils an ein Territorium gebunden waren und auch den Fürsten wählten, vermochten ihre Kompetenzen auf das Religionswesen auszudehnen. Dies führte mit Einsetzen der Reformation um 1540 zu einer raschen Auffächerung der Bekenntnisse, und ab 1564 lag das ius reformandi sogar bei den einzelnen Gemeinden, so dass die 1557 beobachtete Struktur mit drei Superintendenten für die exemten Siedlungsgebiete der Sachsen (sächsische Nationsuniversität), für die Ungarn in Siebenbürgen und für die zeitweilig zum Fürstentum gehörenden ungarischen Komitate (Partium) bald erodierte. Für die Kirche der sächsischen Nationsuniversität war ab 1572 die confessio Augustana verbindlich, über den Pfarreien entstanden Kapitelsbezirke, deren Vertreter in einer Synode die Superintendenten wählten. Diesen Superintendenten gelang es in Konkurrenz zu den Kapiteln, der Nationsuniversität und dem Landesherrn, ihre Kompetenzen auf die Pfarrereinsetzung, Vertretung der Geistlichen, Disziplinarangelegenheiten und Rechtsprechung in Kirchensachen auszudehnen und somit von den zersplitterten Machtverhältnissen in Siebenbürgen zu profitieren.

In der anschließenden Diskussion wurde verdeutlicht, dass die frühe Reformation in Siebenbürgen stark von Wittenberg geprägt war und die verstärkten synodalen und presbyterialen Elemente der Kirchenverfassung durch die schwache Herrschaft und die „fast republikanischen“ (H.R. Schmidt) Verhältnisse begünstigt wurden.

Den letzten Teil der Tagung bildeten drei Interpretationen mit unterschiedlichen Perspektiven: Zunächst kommentierte KARL HÄRTER die Vorträge und Diskussionen aus rechtshistorischer Sicht. Die Entwicklung der Kirchenleitungsmodelle ließe sich gut in den generellen Vorgang der Professionalisierung und Staatsformierung in der frühen Neuzeit einfügen. Die theologischen Diskurse seien damit Teil einer „Ordnungsoffensive“ der Territorialstaaten, die mit neuen Institutionen Stabilität und Erwartbarkeit schufen. Angesichts des Bruchs der späteren Kirchenordnungen mit dem starken Gemeindebegriff der Wittenberger Reformatoren stellte Härter die Frage, ob tatsächlich die Diskurse auf die Praxis oder nicht vielmehr die vorhandenen Gegebenheiten respektive Hemmnisse auf die Diskurse zurückwirkten. Er hob hervor, dass Kirchenleitung in der Tagung nicht als fürstliches „Top-Down-Modell“ beschrieben wurde, sondern dass lokale Einheiten und der Aufstieg zum Beispiel des Bürgertums ebenfalls Berücksichtigung fanden. Zudem wies er darauf hin, dass stärker die unterschiedlichen Rechtskategorien, mit denen argumentiert wurde, und die Mechanismen der Abgrenzung zwischen geistlicher und weltlicher Jurisdiktion betont werden müssten. IRENE DINGEL machte in ihrem Kommentar aus kirchen- und theologiehistorischer Sicht deutlich, dass Kirchenordnungen in erster Linie, auch wenn sie theologische Lehrteile enthalten, die Struktur von Kirchenleitung beträfen und damit stärker das äußere als das innere theologische Amtverständnis. Reibungspunkt seien dabei meist die Hierarchien, da „wahre Kirche“ ihrer zwar nicht bedürfe, sie als ecclesia universalis jedoch gleichzeitig in die Gesellschaft eingebunden sei. Die konfessionellen Beweggründe für bestimmte Kirchenleitungsmodelle sollten nicht überbetont werden, da der Gestaltungsspielraum im Laufe des 16. Jahrhunderts abnahm und teilweise spätere Konfessionswechsel kaum noch Auswirkungen auf die Kirchenstruktur hatten. Dezentrale Kirchenmodelle seien hingegen in erster Linie bei „Untergrundreformationen“ (zum Beispiel Calvinisten in Frankreich) entstanden. Dingel betonte, dass in vielen Fallstudien pragmatische Gründe hervorgetreten seien, die zu einer bestimmten Kirchenleitungsstruktur führten. HEINRICH RICHARD SCHMIDT betonte aus gesellschaftsgeschichtlicher Sicht, dass offensichtlich die zentralistische Kirchenverfassung zunächst nicht intendiert gewesen sei, sich in starken Staaten aber starke kirchliche Zentralinstanzen ausbildeten. Das presbyteriale Modell sei ein Merkmal von „republikanischen“ und schwachen Staaten, woraus immer wieder Konflikte mit Machtträgern entstanden seien. Grundsätzlich merkte Schmidt an, dass die Konfessionalisierungsforschung die etatistische Ebene und damit auch die Zentralperspektive der Kirchenleitung betone. Als sehr fruchtbar erachte er demgegenüber eine Akteursperspektive, die nach der Verbindung von Struktur und Handlung, den Kommunikationswegen und Wechselwirkungen zwischen den Leitungsebenen forsche und dabei die Wahrnehmungsebene personalisiere, um stärker die Handlungsoptionen der Beteiligten zu verdeutlichen.

Die Schlussdiskussion griff Anregungen aus den Kommentaren auf, formulierte aber auch Ergebnisse der Tagung. So sei es beeindruckend, wie stark der Augsburger Religionsfriede auf Reichsebene nachwirkte, sich aber in der landesherrlichen Kirchenpolitik der Protestanten kaum niederschlug. Die Durchdringung von Theologie, Jurisdiktion und Verwaltung sei in allen betrachteten Beispielen zu beobachten gewesen und die Prozesse durchaus über Bekenntnisgrenzen hinweg vergleichbar. So entwickelten sich die Strukturen in protestantischen Territorien ähnlich wie in den geistlichen Reichsständen. Die beiden wichtigsten der abschließend formulierten Desiderate lauten: Angesichts der gewonnenen Einblicke in andere Staaten müsste erstens die Rolle des Reiches – als Motor oder Zentrum? – klarer herausgearbeitet werden, um sich nicht von der „Reichsperspektive“ blenden zu lassen. Wie von H. R. Schmidt angedeutet, muss zweitens der Betrachtung der theologischen Grundlagen und der Implementierung von Kirchenleitungsmodellen die Untersuchung der tatsächlichen Kirchenherrschaftspraxis folgen. Ebenso sollte die Rolle weiterer Akteure wie Patronatsinhaber und Stände genauer in den Blick genommen werden.

Konferenzübersicht:

Irene Dingel (Mainz): Begrüßung
Johannes Wischmeyer (Mainz): Einführung – Kirchenleitung im frühneuzeitlichen Territorium zwischen landesherrlichem Kirchenregiment und institutionellem Autonomiestreben

Sektion 1: Diskussionen

Elisabeth Rosenfeld (Berlin): Debatten um die Organisation der Kirchenleitung im Umfeld der Wittenberger Reformation
Johannes Wischmeyer (Mainz): Kirchenleitung und ihre Institutionen als Thema lutherischer Theologie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
Klaus Unterburger (Münster): Bischofsamt und weltliche Obrigkeit auf dem Konzil von Trient und in der nachtridentinischen Reform
Georg Plasger (Siegen): Das dynamische Verständnis reformierter Kirchenordnung

Sektion 2: Implementierungen

Sabine Arend (Heidelberg): Modelle der Kirchenleitung in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts: Der Export der württembergischen Kirchenverfassung in andere Territorien
Maciej Ptaszynski (Warschau/Mainz): Lutherisches Kirchenregiment im Kreuzfeuer interner Kritik. Konfliktsituationen zwischen Stralsunder Superintendenten und pommerschen Generalsuperintendenten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
Regina Baar-Cantoni (Gießen): Struktur und Wandel der zentralen Institutionen des landesherrlichen Kirchenregiments im Verlauf der Konfessionswechsel in der Kurpfalz
Axel Gotthard (Erlangen): Der reichsrechtliche Rahmen – das landesherrliche Ius reformandi am Augsburger Reichstag von 1555
Jens E. Olesen (Greifswald): Kirchenleitung in den lutherischen Kirchen Skandinaviens
Martin Armgart (Heidelberg): Territoriale Kirchenleitungsmodelle im multikonfessionellen Territorium – Fürstentum Siebenbürgen

Sektion 3: Interpretationen

Karl Härter (Frankfurt am Main): Fazit aus rechtshistorischer Sicht: Kirchenregiment und Religionspolicey als Element frühneuzeitlicher Staatlichkeit
Irene Dingel (Mainz): Fazit aus kirchen- und theologiehistorischer Sicht: Kirchenregiment und Ekklesiologie in den Theologien des frühen konfessionellen Zeitalters
Heinrich Richard Schmidt (Bern): Fazit aus gesellschaftsgeschichtlicher Sicht: Die Institutionalisierung der konfessionellen Kirchen in Europa – ein Vergleich

Schlussdiskussion


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