Im Rahmen des Projekts „Mythos Kreuzzüge. Die Konstruktion der Nation und Europas im Geschichtsdiskurs zwischen 1780 und 1918“ fand am 16. und 17. Februar 2011 am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig ein Workshop zum Thema „European Receptions of the Crusades in the Nineteenth Century. Franco-German Perspectives” statt. Während des Workshops haben Mitarbeiter/innen aus diesem und anderen Projekten zur Konstruktion und Rezeption von Kreuzzugshelden- und damit verbundenen Feindbildern ihre Ergebnisse präsentiert, die von Experten auf den Gebieten der Kreuzzugshistoriographie, der europäischen Geschichte sowie der Nationalismusforschung kommentiert wurden. Im Zentrum der Diskussion standen unter anderem folgende Leitfragen: Inwieweit unterscheiden sich französische und deutsche Rezeptionen und Repräsentationen der Kreuzzüge? Sind sie wechselseitig verflochten und wenn ja, in welcher Weise? Was sagen die Kreuzzugsnarrative über die damit verbundenen Geschichtsdeutungen und über historisch begründete Feindbilder aus? Welche gesellschaftlichen Faktoren beeinflussten die Rezeption der Kreuzzüge im 19. Jahrhundert maßgeblich und aus welchen Quellen speiste sich das kulturelle Wissen um die Kreuzzüge?
Nach der Begrüßung und Einführung durch die Direktorin des Instituts, Simone Lässig, die die zentralen Ziele und Fragestellungen des Projektes skizzierte, sowie einer Einführung durch die Arbeitsbereichsleiterin Susanne Kröhnert-Othman erläuterte Projektmitarbeiter Matthias Schwerendt das Anliegen des Workshops.
Der erste Block „European perspectives“ begann mit dem Vortrag von MATTHIAS SCHWERENDT (Braunschweig) zum Thema „The Crusades as a Master Narrative of the European Memory Culture“. Schwerendt markierte Napoleons Ägyptenexpedition als Wendepunkt in der Kreuzzugsbewertung im langen 19. Jahrhundert. Die sich entwickelnde Neokreuzzugsideologie der verschiedenen europäischen Staaten habe sich zunächst in einem geschichtstheologischen Eifer etabliert. Insbesondere durch den Einfluss des Historismus sei jedoch eine Abkehr von diesen überwiegend theologisch geprägten Interpretationen erfolgt. Die christliche Idee der Kreuzzüge habe sich sukzessive in ein koloniales Konzept gewandelt und sei zugleich dem Konzept der Zivilisation untergeordnet worden. Diese Entwicklung in deutschen und französischen historischen und literarischen Werken sei jedoch in den untersuchten Geschichtsschulbüchern nicht gleichermaßen wieder zu finden. Dort sei – neben der nationalen und imperialen – eine religiös aufgeladene Kreuzzugssemantik noch für längere Zeit fortgeschrieben worden. Insgesamt könne aber sowohl für die Schulbücher als auch für die wissenschaftliche Literatur konstatiert werden, dass Kreuzzugsnarrative für kollektive Identitätskonstruktionen im 19. Jahrhundert – laizistisch oder religiös – im Rahmen der Entstehung moderner europäischer Nationalstaaten immens an Bedeutung gewonnen haben.
JONATHAN PHILLIPS (London) sprach in seinem öffentlichen Abendvortrag über die Repräsentation und Rezeption Saladins vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Dabei zeigte er die Entwicklung einer glorifizierenden Darstellung Saladins vom 13. Jahrhundert bis in die heutige Zeit auf und hob besonders hervor, dass er sowohl in den arabischen Schriften als auch in Werken europäischer Autoren als herausragender Held dargestellt wurde.
Im zweiten Block „Franco-German perspectives“ präsentierte INES GUHE (Braunschweig) Ergebnisse ihrer vergleichenden Untersuchung von französischen und deutschen Geschichtsschulbüchern. Vorstellungen von Europa seien in den Kreuzzugsnarrativen der französischen Schulbücher von zentraler Bedeutung, wenn es um die Abgrenzung der geeinten Christenheit von dem (im politischen und religiösen Sinne) gespaltenen Feind im Orient ginge. Überdies diente die Einordnung in einen europäischen Rahmen aber insbesondere dem Ziel, der französischen Nation eine führende Position unter allen christlichen Völkern Europas zuzuschreiben. Dieses nationale Narrativ sei in beiden der im 19. Jahrhundert konkurrierenden Geschichtsbilder der französischen Nation erkennbar. Katholisches und laizistisches Geschichtsbild stünden sich gegenüber, vermittelten jedoch beide „messianische Ideen“ Frankreichs: als Missionar bzw. als „Zivilisationsbringer“ in Europa und der ganzen Welt. Im nationalen Vergleich falle auf, dass in Deutschland eher der „Reichsmythos“ den zentralen Rahmen bilde, in dem die Kreuzzüge national angeeignet worden seien. Während also in den französischen Schulbüchern Frankreich durch die Kreuzzüge zur grande nation des mittelalterlichen Europa geworden sei, erscheine die Vereinigung der europäischen Christenheit unter den Kreuzzügen in deutschen Schulbüchern weniger geeignet, um nationale Größe herauszustellen. Vielmehr seien dafür der Kontext der Werdung des Reichs und der Ruhm der deutschen Kaiser relevant.
Der Kommentar von STEFAN BERGER (Manchester) bezog sich gleichermaßen auf die Vorträge von Matthias Schwerendt und von Ines Guhe. Berger stellte die Kreuzzüge als ein Beispiel des Mediävalismus bzw. als eine Anwendungsmöglichkeit des Mittelalters in den modernen europäischen Staaten heraus. Außerdem stellte er die Existenz einer europäischen Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert infrage und ging auf die enge Verbindung zwischen religiösen und nationalen Meistererzählungen ein. Auch die anschließende Diskussion drehte sich um verschiedene Vorstellungen von Nation und Europa, wobei darauf hingewiesen wurde, dass unterschiedliche räumliche Formen von Identität häufig schwer zu trennen und im Gegenteil stark miteinander verschränkt seien.
Der anschließende dritte Block fokussierte auf die „Representation of ‚the Other’ in Crusade Historiography“. Ines Guhe und Matthias Schwerendt diskutierten in ihrem Vortrag die unterschiedlichen Feindbilder in Kreuzzugsnarrativen wissenschaftlicher Literatur und in Schulbüchern. Die Bilder dieses „außereuropäischen Anderen“ gingen auf unterschiedliche Traditionen des Mittelalters, der frühen Neuzeit oder der Aufklärung zurück und präsentierten einen gefährlichen, gewalttätigen, schwachen und feigen, aber teilweise auch kulturell höher stehenden Feind im Orient. Im Vergleich von deutschen Schulbüchern und wissenschaftlichen Werken falle eine deutliche Dichotomie auf: In ersteren tauchten noch vermehrt Zuschreibungen der Kategorie „Barbaren des Orients“ auf, denen man in einem „heiligen Krieg“ gegenübertreten müsse. Dahingegen lasse sich in den wissenschaftlichen Werken eine eher gegenläufige Tendenz entdecken. Ebenso fänden sich in französischen Schulbüchern Deutungen, die als eine Kritik am Bild des „barbarischen Orients“ gelesen werden müssten.
Auch KRISTIN SKOTTKI (Rostock) stellte in ihrem Vortrag Feindbilder in den Mittelpunkt, allerdings konzentrierte sie sich dabei auf die Verquickung der Konzepte von Mediävalismus, Orientalismus und Okzidentalismus. Skottki beklagte einen noch heute häufig auftretenden „ahistorischen“ Ansatz; Historiker/innen vernachlässigten es oft, ihre Forschung als Produkt der heutigen Zeit und als eine Antwort auf die lange Tradition des wissenschaftlichen Diskurses zu historisieren. Kreuzzugsgeschichtsschreibung sei dafür ein gutes Beispiel, wie die Rekonstruktion der Erfindung des „mittelalterlichen Anderen“ in der modernen wissenschaftlichen Kreuzzugshistoriographie zeige. Wie die Konstruktion des „orientalischen Anderen“, die unter anderem durch Huntingtons Thesen neu unterfüttert und somit im aktuellen Forschungsdiskurs bewahrt worden sei, so entspringe auch die Konstruktion des „mittelalterlichen Anderen“ in der modernen Forschung partiell dem Bild, das frühere Historiker (insbesondere die des 19. und 20. Jahrhunderts) sich bereits von diesem „Anderen“ gemacht hätten.
Jonathan Phillips unterstrich in seinem Kommentar zu den zwei Vorträgen des dritten Blocks die Bedeutung der Kontexte von Kolonialismus, Romantik und insbesondere der Begeisterung für das mittelalterliche Rittertum in der adligen Gesellschaft, die bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückzuverfolgen sei. In beiden Vorträgen sei deutlich geworden, dass es nie nur ein Motiv für die Kreuzzüge gegeben habe, es also nicht immer lediglich der religiöse Glaube und der Kampf gegen den „religiösen Anderen“ war, der die Kreuzfahrer motivierte. Genauso problematisch sei die Kategorie der „Kreuzfahrer“; der Begriff bezeichne keinesfalls eine homogene, von gemeinsamen Zielen getragene Gruppe.
In der Abschlussdiskussion gingen die Teilnehmer/innen nochmals auf die zu Beginn des Workshops gestellten Leitfragen und hier vor allem auf die Verschiebung von Kreuzzugsnarrativen und -diskursen sowie die damit verbundenen Identitäten ein. Die Teilnehmer diskutierten die Frage nach einer Zäsur in der Kreuzzugsdarstellung insbesondere zur Zeit der Aufklärung und kamen zu dem Schluss, hier eher das Konzept der Flexibilität anzuwenden: Die Kreuzzugs- und Heldenkonzepte müssten als sehr flexibel angesehen werden, und wenn auch der Kreuzzugsdiskurs während der Aufklärung vorwiegend negativ konnotiert war, so habe es dennoch auch zu dieser Zeit positive, glorifizierende Darstellungen der Kreuzzüge gegeben. Auch im langen 19. Jahrhundert seien Kreuzzugsdarstellungen omnipräsent und – je nach historischem oder wissenschaftlichem Rahmen (Aufklärung, Romantik, Historismus etc.) – auch außerhalb ihres originären religiösen Kontexts flexibel einsetzbar gewesen. In diesem Zusammenhang kam die Frage auf, ob diese Flexibilität mit dem Konzept der „Nation“, das bereits in einer früheren Diskussion als das prominenteste Konzept des 19. Jahrhunderts herausgestellt wurde, vereinbar sei. Berger betonte daraufhin, dass es zwar nationalisierte Narrative gewesen seien, diese an sich aber keine rein nationalen Unternehmungen darstellten, da sie auch „den Anderen“ beschrieben. Abschließend wurde die Frage diskutiert, inwiefern die Kreuzzüge als kulturelles Wissen angeeignet wurden. Auch wenn es einige Hinweise auf derartige Bestrebungen auf deutscher Seite gebe (beispielsweise den Auftrag Bismarcks an den Historiker Heinrich Prutz, die Knochen Barbarossas aufzufinden), so seien die Kreuzzüge in Frankreich doch in viel stärkerem Maße zum kulturellen Erbe des 19. Jahrhunderts geworden als dies in Deutschland der Fall gewesen sei.
Insgesamt hat der Workshop, der in kleinem Kreis intensive Arbeit und Diskussion ermöglichte, gezeigt, wie wesentlich der Topos „Kreuzzüge“ im langen 19. Jahrhundert für die Vermittlung von Bildern der europäischen Nationen war. Dieser Erfolgszug der Kreuzzugsnarrative, der sich nicht nur in der Geschichtswissenschaft, in Schulbüchern und historischen Romanen niederschlug, ist in erster Linie auf die Flexibilität dieser Erzählungen zurückzuführen. Intention und Weltanschauung der Autoren sowie der aktuelle politische Kontext spielten eine wichtige Rolle für die Ausformung verschiedener Kreuzzugsnarrative und der darüber vermittelten Bilder der Nation und Europas. Gleichzeitig hat der Workshop gezeigt, wie persistent der Kreuzzugsdiskurs und insbesondere die über ihn vermittelten Feindbilder waren und immer noch sind, was nicht zuletzt auf eine unreflektierte Übernahme der historisch konstruierten Bilder des „Anderen“ zurückzuführen ist.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung
Simone Lässig, Susanne Kröhnert-Othman, Matthias Schwerendt
Block I: European Perspectives
Matthias Schwerendt: The Crusades as a Master Narrative of the European Memory Culture
Kommentar: Stefan Berger
Öffentlicher Abendvortrag
Jonathan Phillips: The Reputation of Saladin – from the Medieval Age to the Twenty-first
Century
Block II: Franco-German Perspectives
Ines Guhe: Myths of the Crusades in Germany and France in Comparison
Kommentar: Stefan Berger
Block III: The Representation of ‘the Other’ in Crusade Historiography
Matthias Schwerendt / Ines Guhe: Describing the Enemy. Images of Islam in Narratives of the Crusades
Kristin Skottki: The Other at Home? About the Entanglement of Mediaevalism, Orientalism and Occidentalism in Modern Crusade Historiography
Kommentar: Jonathan Phillips
Abschlussdiskussion