„Desperately Seeking the Audience“. Geschichte und Soziologie des unbekannten Publikums

„Desperately Seeking the Audience“. Geschichte und Soziologie des unbekannten Publikums

Organisatoren
Klaus Nathaus, Bielefeld Graduate School in History and Sociology; Tobias Werron, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.04.2011 - 09.04.2011
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Von
Klaus Nathaus, Bielefeld Graduate School in History and Sociology; Tobias Werron, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld

Der Workshop nahm ein Problem zum Ausgangspunkt, mit dem sich Unternehmen, Parteien, Prediger, Künstler, Journalisten und Wissenschaftler üblicherweise konfrontiert sehen: Als „Anbieter“, die mit ihren Produkten, Nachrichten, Deutungen, Werken und Thesen überzeugen wollen, müssen sie mit den Erwartungen von „Nachfragern“ umgehen, die ihnen als „die Leute da draußen“ mitsamt ihren Vorlieben und Bedürfnissen größtenteils unbekannt sind. Auch wenn eine systematische Markt- und Meinungsforschung angetreten ist, um diesen Informationsmangel und die daraus resultierende Unsicherheit zu kompensieren, sind doch Fehlschläge in der Adressierung des Publikums gang und gäbe. Ja, es scheint so, dass die Publikumsforschung das Unbekanntheitsproblem im selben Zug perpetuiert, in dem sie Daten zu seiner Lösung erhebt.

Geschichtswissenschaft und Soziologie haben die Unbekanntheit des Publikums und die damit verbundenen Folgeprobleme teilweise und für bestimmte soziale Bereiche in den Blick genommen. In der wirtschafts- und der mediensoziologischen Forschung spielt der Sachverhalt eine zentrale Rolle; auch gibt es historiographische Studien zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) im Allgemeinen und zur Geschichte der Demoskopie im Besonderen. Aber diese vereinzelten Arbeiten haben es bislang noch nicht vermocht, das Bewusstsein von der prinzipiellen Unbekanntheit des Publikums und den daraus resultierenden Folgen in der breiteren Forschung beider Disziplinen zu verankern. Vor diesem Hintergrund ging es den Veranstaltern darum, SoziologInnen und HistorikerInnen, die themenrelevante empirische Vorhaben verfolgen, zusammenbringen und die Ergiebigkeit der Problemstellung auszuloten. Leitfragen des Treffens zielten auf Periodisierungen des unbekannten Publikums, auf Bedingungen seines Wandels sowie die sozialtheoretische Bestimmung der Publikumsfigur.

Den Diskussionsrahmen der Tagung skizzierten zwei Vertreter beider Fächer, die sich unterschiedlichen Schwerpunkten der Medien- und Publikumsgeschichte zuwandten. Der Historiker JORIS VAN EIJNATTEN (Utrecht) gab einen Überblick über die Begriffs- und Theoriegeschichte des Publikums, indem er sie in fünf Diskursstränge unterteilte: „Medien“, „Diskurs“, „Praxis“, „Struktur“ und „Imagination“. Demgegenüber richtete der Soziologe DOMINIK SCHRAGE (Dresden) den Blick auf die „infrastrukturellen Bedingungen“ des Publikums und stellte vielfältige kulturhistorische Bezüge her, die vom „zentrierten Massenpublikum“ des antiken Amphitheaters bis zum „verdateten Publikum“ der Gegenwart reichten. Einige der von Schrage und van Eijnatten angesprochenen Probleme und Motive tauchten im Lauf der Tagung immer wieder auf. Als ein wiederkehrendes Motiv erwies sich Schrages Hinweis auf die Abwesenheit des Medienpublikums, die wohl die zentrale infrastrukturelle Bedingung seiner Unbekanntheit ist und zahlreiche Formen des Umgangs bis hin zur heutigen „Verdatung“ (systematischen Erforschung) erst verständlich macht.

Der zentrale Befund des Workshops ist, dass die Unbekanntheit des Publikums nicht allein als Problem gesehen werden sollte, das den störungsfreien Erwartungsabgleich zwischen Anbietern und Empfängern erschwert. Deutlich wurde vielmehr das produktive Moment des unbekannten Publikums, das darin besteht, dass die prinzipielle Anonymität „der Leute“ konkurrierende Deutungen nach sich zieht, die wiederum neue Möglichkeiten des Umgangs mit Publikumserwartungen eröffnen. Besonders die historischen Vorträge von BERNHARD FULDA (Cambridge) zur Produktion von „politischer Ignoranz“ in der US-Amerikanischen Meinungsforschung und das dadurch bedingte Verschwinden der „informed American public“ bis zu den 1960ern, von ANJA KRUKE (Bonn) zum gescheiterten Versuch der Konstituierung eines europäischen Publikums durch das „Eurobarometer“ und KLAUS NATHAUS (Bielefeld) zu unterschiedlichen Publikums-Leitvorstellungen in der amerikanischen, britischen und deutschen Popmusik-Produktion, aber auch das Referat der Soziologin ISABEL KUSCHE (Osnabrück) zum Klientelismus und der Wählerbeobachtung in der Politik machten deutlich, dass „die Öffentlichkeit“, „die Bürger“, „Musikhörer“ und „Wähler“ Konstruktionen darstellen, auf die sich konkurrierende Ansprüche richten und um deren Gültigkeit unabschließbar gerungen wird. Bestimmtes Publikumswissen wird von bestimmten Akteuren herangezogen, um Autorität zu begründen und sich im Konkurrenzkampf zu behaupten; andere Wissensbestände werden hingegen ausgeblendet oder zurückgewiesen, wenn sie den eigenen Zwecken entgegenstehen.

Die Einsicht in die Vermitteltheit von Publikumswissen durch standortgebundene Akteure impliziert, und dies ist eine weitere Erkenntnis des Treffens, eine Warnung vor Determinismen, welche die Durchsetzung bestimmter Publikumskonzepte direkt und ausschließlich auf Medienentwicklungen oder sich selbst erzeugende Diskurse zurückführen. Denn Publikumswissen bleibt für Handelnde in gewissem Grade disponibel; die Konstruiertheit des Publikums ist Akteuren häufig bewusst. Dies wurde unter anderem deutlich in dem Beitrag von JAN-HENDRIK PASSOTH (Bielefeld), der mit Blick auf neue Infrastrukturen der Erforschung von Musiknutzern im Internet zeigte, dass Anbieter mitunter dazu übergehen, ihr Publikum wieder „unbekannter“ zu machen, indem sie gezielt Daten ausblenden oder Logarithmen schreiben, in denen der Zufall eingebaut ist. Auf diese Weise gewinnen sie eine Informationsbasis für die Schaffung von neuer, noch nicht publikumserprobter Musik. PATRICK MERZIGER (Berlin) beschrieb mit der Publikumsforschung im Nationalsozialismus in gewisser Weise das Gegenbeispiel. In Ablehnung abstrahierender Markt- und Meinungsforschung betrachteten die NS-Bevölkerungsexperten jede Äußerung eines „Volksgenossen“ als spontanen, gleichermaßen relevanten Ausdruck des „Volkes“. Nachdem sie die „Volksgenossen“ aufgefordert hatten, über alle Dinge, die ihnen auf dem Herzen lagen, Eingaben zu schicken, versanken die Meinungsforscher in einer Fülle von Zuschriften, die ohne eine Systematisierung zu Herrschaftszwecken letztlich ungeeignet waren.

Dort, wo objektive Daten des Publikums fehlen, dienen andere, funktional äquivalente Bezugsgrößen der Orientierung, ja bisweilen scheint sogar das Verbleiben in der Unbekanntheit selbst den Einfluss des Publikums zu begründen. VOLKER BARTH (Köln) und MALTE ZIERENBERG (Berlin) stellten in ihren Vorträgen zur frühen Geschichte weltweit operierender Nachrichten- bzw. Bildagenturen klar, dass diese Vermittler von Informationsgütern kaum explizite Überlegungen über die möglichen Präferenzen ihres globalen Publikum anstellten. Bei ihrer Arbeit orientierten sich die Informationshändler vor allem daran, was sich als professionelle Standards herausbildete, etwa die Auffassung über ein „gutes Foto“ oder eine „objektive Nachricht“. Bei näherem Hinsehen sind solche Normen aber wiederum verwoben mit Annahmen über Publika, die entsprechende Standards entweder wertschätzen oder die man mit bestimmten Angeboten erziehen will. Vor dem Hintergrund solcher globaler Infrastrukturen fragte TOBIAS WERRON (Bielefeld) nach den Voraussetzungen und Effekten nationaler und globaler Publikumsvorstellungen seit dem mittleren 19. Jahrhundert und vertrat die These, dass die für uns heute selbstverständliche Vorstellung, dass die Welt aus Nationen und Nationalstaaten besteht, auf Publikumsprojektionen beruht, die schon aufgrund ihrer Unschärfe und Abstraktheit auf die grundsätzliche Unbekanntheit dieser Publika angewiesen sind: „die deutschen Zeitungsleser“ oder „die Weltgemeinschaft“ sind nur vorstellbar, wenn man von individuellen Besonderheiten der Rezipienten gerade absieht. Auch hier zeigte sich, dass die Unbekanntheit des Publikums „produktiv“ werden und soziale Strukturbildung nach sich ziehen kann.

Das Publikum ist, um einen letzten wichtigen Punkt der Tagung zu nennen, nicht nur für Anbieter eine unbekannte Bezugsgröße, sondern auch für Individuen auf der Nachfrageseite – denen freilich ebenfalls Kategorien und Vermutungswissen zur Verfügung stehen, um sich als Teil eines Publikums zu verstehen und zu verhalten. Einzelne rechnen sich selbst bestimmten Publika zu und verhalten sich häufig in entsprechend konformer Weise. SILKE FÜRST (Münster) umriss diesen Aspekt und zeigte damit, dass das Unbekanntheitsproblem auch bei der Erforschung leibhaftiger Publika als selbstreflexives Moment mitbedacht werden muss.

Vorträge und Diskussion stellten die Ergiebigkeit der Problemstellung „unbekanntes Publikum“ vielfach unter Beweis. Zur intendierten Anschlussfähigkeit an die breite Forschung beider Fachrichtungen sei betont, dass damit selbstverständlich nicht suggeriert werden soll, dass das Publikum gänzlich unbekannt sei. Es gibt durchaus belastbares Wissen über Wähler, Konsumenten und Religionsanhänger. Der Tagung ging es jedoch nicht um den Wahrheitsgehalt dieses Wissens. Vielmehr hat sie gezeigt, dass es produktiv sein kann, von der Unabschließbarkeit des Publikumswissens auszugehen und die gesellschaftlichen Implikationen der daraus resultierenden Ungewissheit in den Blick zu nehmen. Diese Sichtweise spricht gegen die gängigen Narrative vom „manipulierten“ oder „widerständigen“ Publikum, die eine Art direkter Interaktionsbeziehung zwischen Anbietern und Nachfragern voraussetzen, und für eine Forschungsperspektive, die langfristigen Prozessen der Formation und des Wandels der Rollen von Anbietern und Rezipienten in unterschiedlichen Feldern nachspürt. Diese Problemperspektive lässt den Weg zum leibhaftigen Publikum mitsamt der sozialen Praxis der aktiven Rezeption, die derzeit im Vordergrund der historischen wie soziologischen Forschung steht, offen, gibt ihr aber einen neuen Orientierungsrahmen: Wer vom Problem des unbekannten Publikums ausgeht, wird sich die Beziehung zwischen Anbietern und Nachfragern wesentlich indirekter und ergebnisoffener vorstellen, weil er/sie die Interaktionsunterstellung aufgibt und stattdessen die Ungewissheit der Zurechnung und Selbstzuschreibung bei der Analyse mitlaufen lässt.

Konferenzübersicht:

„Desperately Seeking the Audience“. Geschichte und Soziologie des unbekannten Publikums

I. Die soziale Figur des Publikums: Theoretische Perspektiven und historische Entwicklungslinien

Historische und soziologische Perspektiven auf das Publikum

Joris van Eijnatten (Utrecht): Identifying Historical Audiences: Five Perspectives

Dominik Schrage (Dresden): Die infrastrukturelle Konstruktion des Publikums. Historisch-soziologische Perspektiven

II. Ausdifferenzierung des Publikums im Zeitalter globaler Massenkommunikation (1850-1920)

Globale Kommunikation, nationale Publika? Medienentwicklung und Publikumsdifferenzierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Volker Barth (Köln): Globale Agenturen und nationales Publikum: Herstellungsprozesse und Auswahlkriterien von Nachrichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Tobias Werron (Bielefeld): Nationale Publika, globale Publika. Publikumsprojektionen und Nationalstaatsformation

Kommentar: Klaus Nathaus (Bielefeld)

III. Publika im 20. Jahrhundert: Gesucht und gefunden?

Im „Dialog“ mit dem Publikum: Techniken der Publikumsforschung und Rückwirkungen auf Publika

Patrick Merziger (Berlin): Publikumsforschung und Propaganda im Nationalsozialismus

Silke Fürst (Münster): "Was Millionen zu Tränen rührt" - Formen, Funktionen und Wirkungen von Spiegelbildern des Medienpublikums

Kommentar: Hendrik Vollmer (Bielefeld)

Die Politik und ihre Publika

Bernhard Fulda (Cambridge): Politische Ignoranz: Meinungs- und Wahlforschung und ihre Publika

Isabel Kusche (Osnabrück): Vom Klientel zur Zielgruppe? Die Beobachtung von Publikumssegmenten in der Politik

Kommentar: Jörg Requate (Bielefeld)

Publika zwischen dem Globalen und dem Nationalen

Anja Kruke (Bonn): Ein europäisches Publikum? Eurobarometer, empirische Sozialforschung und die Europäische Kommission, 1962-1979

Malte Zierenberg (Berlin): Transatlantische Publika. Bildagenturen und die Entstehung einer "westlichen" Sehgemeinschaft seit der Zwischenkriegszeit

Kommentar: Daniel Siemens (Bielefeld)

Medienpublika und Kulturproduktion

Klaus Nathaus (Bielefeld): „Giving the people what they want“: Publikumswissen und die Produktion von Popmusik von den 1950ern bis zu den 1980ern

Jan-Hendrik Passoth (Bielefeld): "Der berechnete Hörer." Zur Neuverrechnung von Leistungs- und Publikumsbeziehungen

Kommentar: Tilmann Sutter (Bielefeld)


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