Technology Fiction: Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne

Technology Fiction: Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne

Organisatoren
SFB 804 Transzendenz und Gemeinsinn, Teilprojekt M: „Das Fortschrittsversprechen von Technik und die Altruismusbehauptung der Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne (ca. 1880-1970)“
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.06.2011 - 18.06.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Sylvia Wölfel, Lehrstuhl für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte, TU Dresden; Anke Woschech, SFB 804 Transzendenz und Gemeinsinn, TU Dresden

Folgt man der Berichterstattung in der deutschen Medienlandschaft über den nunmehr erneut beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie, dann bekommt man es mit der Angst – der German Angst – zu tun. Die Deutschen, so ein beliebtes und gern wiederholtes Argument, seien ein Volk der Technikkritiker, die mit irrationalen Emotionen auf die Sicherheitsrisiken von Technik reagierten und gegenüber technischen Neuerungen generell feindselig eingestellt seien. Zum Auftakt des Workshops „Technology Fiction: Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne“ wies THOMAS HÄNSEROTH (Dresden) in einleitenden Bemerkungen dagegen auf die wechselseitige Verschränkung von Technikkritik und Technikfaszination in der Technokratischen Hochmoderne hin. Während Phänomene des Technikpessimismus bisher vergleichsweise intensiv erforscht würden, müssten Spielarten des Technikoptimismus und der Faszination neuer Technik künftig stärkere Beachtung finden. Breite Kreise der Bevölkerung teilten in dieser Epoche (ca. 1880-1970) demnach ein robustes Zukunftsvertrauen in die Lösungskompetenz von Technik auch für soziale und kulturelle Problemlagen. Aus dem technischen Wandel resultierende Hoffnungsüberschüsse und Erwartungen fanden, zusammen mit dem Versprechen einer besseren, durch Technik geheilten Welt, ihren Ausdruck in technischen Visionen und Utopien.

In der anschließenden Keynote-Präsentation betonte ADELHEID VOSKUHL (Harvard) das Unbehagen der Ingenieure angesichts einer ambivalenten Moderne sowie die Mehrdeutigkeit von Technik im Spannungsfeld von Heilsversprechen und Beschwörungen des Untergangs in der Weimarer Republik. Dabei zielte sie auf eine genauere Bestimmung der gesellschaftlichen und politischen Selbstverortung von Ingenieuren und fragte nach den intellektuellen Ressourcen dieser Zeit. Sie verwies dazu auf die Kulturtechnik des Philosophierens, mit der Ingenieure wie Anton von Rieppel (1852-1926) versuchten, Technik in den intellektuellen Welten von Philosophen und Sozialtheoretikern zu verankern. Dem gegenüber stellte sie Protagonisten der Konservativen Revolution, die nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls versuchten, das moderne industrielle Zeitalter in ein Verhältnis zum bürgerlichen Erbe des 18. und 19. Jahrhunderts zu setzen. Am Beispiel von Ernst Jüngers Essay „Der Arbeiter“ von 1932 erläuterte sie, wie Technik weniger für eine Verheißung von Fortschritt als für eine Prophezeiung von Untergang stand, die das Ende der bürgerlichen Moderne und den Aufstieg des anti-demokratischen, anti-bürgerlichen Arbeiterstaates einläutete. Gerade die Bedeutung von Jüngers Essay und die Figur des Arbeiters wurden in der anschließenden Diskussion noch einmal aufgegriffen. Wie repräsentativ ist Jüngers Technikdeutung und an welche realen sozialhistorischen Figuren schließt ein derart radikal gedachter „neuer Mensch“ an? Ebenso intensiv wurde die Breite des Phänomens philosophierender Ingenieure diskutiert: Sind diese in nennenswerter Zahl auch außerhalb des elitären Verbandes Deutscher Diplom-Ingenieure (VDDI) auffindbar?

In der folgenden ersten Sektion des Workshops waren drei Beiträge zu mobilen Zukünften versammelt. FABIAN KRÖGER (Berlin/Paris) stellte die in den 1930er-Jahren entstehende Technikutopie des unfallfreien, sich selbst steuernden Automobils vor und wies auf eine bemerkenswerte Kontinuität dieses Zukunftsversprechens hin: Das automatische Fahren sei seit 60 Jahren immer nur 20 Jahre entfernt. Kröger betonte insbesondere die Bedeutung der Bildsprache für die Analyse von Brüchen und Kontinuitäten in der Darstellung des automatischen Fahrens in der populären Kultur der USA zwischen 1930 und 1970. Debattiert wurde daran anschließend die Funktion solcher Bilderwelten, der historische Kontext der Bildproduktion und darin transportierte Geschlechterzuschreibungen und Familienstrukturen. PHILIPP HERTZOG (Darmstadt/Paris) widmete sich deutsch-französischen Eisenbahningenieuren in den 1960er-Jahren und ihren jeweiligen Visionen von Hochgeschwindigkeitsbahnen und -strecken. Diese endeten überwiegend in nicht realisierten Planungen, können aber auch als Wegbereiter späterer Neubaustrecken interpretiert werden. Nachfragen richteten sich hier insbesondere auf mögliche deutsch-französische Unterschiede der Ingenieurkulturen sowie auf das große Interesse (nicht nur) der politischen Führungsebene in Frankreich an nationalen, technischen Großprojekten. Abschließend erläuterte DANIEL BRANDAU (Berlin) anhand früher Raumfahrtvorstellungen in Deutschland Machbarkeitsvisionen als kulturelle Produkte und Ressourcen gesellschaftlicher Selbstvergewisserung. Das visuelle Programm des Fritz Lang-Films Frau im Mond (1929) kann nach Brandau beispielsweise als eine Darstellung technischer und sozialer Plausibilität verstanden werden. Der Rückgriff auf etablierte Bildwelten, in diesem Fall auf Konfigurationen, die aus der Luftschifffahrt bekannt waren, ermöglichte ein innovatives Weiterdenken bestimmter Elemente des Zukünftigen. Diskutiert wurde anschließend die Position öffentlich wirksamer Ingenieur-Visionäre, die zwischen Bedürfnissen nach Plausibilität und Zukunftsfähigkeit oszillierte. Damit verbunden war die Frage nach einem möglicherweise grundsätzlich konservativen Charakter technischer Utopien, der visionäre Technik in den jeweiligen sozialen und kulturellen Kontexten erst als machbar erscheinen ließe.

In der Sektion zu sozialistischen Technikutopien widmete sich UWE FRAUNHOLZ (Dresden) Automatisierungsvisionen in der DDR. Mit dem Projekt einer „komplexen, sozialistischen Automatisierung“ strebten deren Wissenschafts- und Wirtschaftsplaner eine für kapitalistische Gesellschaften scheinbar undenkbare Systemlösung zur Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Produktivität an. Für die Beschreibung dieses Prozesses nahm die Rede von der "Wissenschaftlich-technischen Revolution" (WTR) eine zentrale Rolle ein und avancierte zu einem Schlüsselbegriff im Systemwettstreit, den die DDR auf dem Gebiet der elektronischen Steuerungssysteme jedoch spätestens mit dem Übergang von der NC- zur CNC-Technologie verloren geben musste. Anhand dieses Beispiels wurde anschließend die Frage nach einer etwaigen Interdependenz von technischer Innovation und politisch-ideologischer Argumentation diskutiert. Den Kunststoff als (vermeintlichen) Garanten für Wohlstand, Komfort und „sozialistische Demokratie“ nahm KATJA BÖHME (Eisenhüttenstadt) in den Blick. Unter Hinzuziehung von Produktionskontext sowie Material- und Gestaltungsfragen erläuterte sie, wo die DDR die an das moderne Material geknüpften Innovationsversprechen der 1960er-Jahre einzulösen vermochte und an welchen Stellen spätestens in den 1980er-Jahren die diskursiven Verheißungen ins Leere liefen. Böhme machte als zentrale Gründe des Scheiterns die zunehmend mangelhafte Qualität wie auch mangelnde Diversität des Materials aus. Inwieweit die Kunststoffeuphorie der 1960er-Jahre als systemübergreifendes Zeitgeistphänomen zu sehen ist und worin also die Besonderheit der sozialistischen Argumentationsweise lag, wurde in der anschließenden Diskussion besprochen.

In einer Energievisionen gewidmeten Sektion untersuchte DETLEV FRITSCHE (Dresden) die im Deutschen Kaiserreich mit der Elektrifizierung verbundenen Hoffnungsüberschüsse anhand der Verbreitung des Elektromotors. Die sich dabei abzeichnende Tendenz zu zentraler Erzeugung und dezentralem Verbrauch elektrischer Energie wurde von den unterschiedlichsten sozialen Visionen begleitet, die je nach politisch-weltanschaulicher Couleur von konservativen Zielen wie der Rettung des Handwerks bis hin zu revolutionären Bestrebungen, welche die Emanzipation der Arbeiterklasse erhofften, reichten. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach weiteren Verbindungen von technischen Innovationen und sozialen Visionen am Beispiel der zeitlichen Koinzidenz von Elektrifizierung und dem aufkommenden Leitbild der Kleinfamilie erörtert. ALEXANDER GALL (München) stellte das Ende der 1920er-Jahre vom Architekten Herman Sörgel entwickelte Atlantropa-Projekt vor. Mit dessen Idee, durch die Absenkung des Mittelmeeres die Energieversorgung Europas umfassend und langfristig zu sichern, verbanden sich energietechnische und geopolitische Visionen zu einer großtechnischen Utopie. Trotz seiner Maßlosigkeit vermochte Atlantropa die Zeitgenossen über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren zu faszinieren, wobei die Professionalisierung der modernen Massenpresse in den 1920er-Jahren, die das Projekt als Sensation nutzte, um die Aufmerksamkeit potentieller Leser zu gewinnen, eine wichtige Rolle spielte. In der anschließenden Diskussion wurde herausgestellt, dass die im Allgemeinen in Diktaturen beobachtbare Affinität zu gigantomanischen Großprojekten für Atlantropa im Nationalsozialismus aufgrund der geopolitischen Stoßrichtung (gen Süden statt gen Osten) und einer pazifistischen Grundausrichtung nicht galt. Die Sektion schloss mit einem von RALF PULLA (Dresden) geführten Rundgang durch die anlässlich des Workshops eröffnete studentische Ausstellung „Ein Funken Wahrheit – Energievisionen in der technischen Hochmoderne“, die bis Oktober 2012 in der Zweigstelle DrePunct der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) zu besichtigen ist.

In der Sektion zu Medien der Popularisierung präsentierte RALF BÜLOW (Berlin) das eindrucksvolle Bildprogramm des Grafikers und Malers Klaus Bürgle zu Stadt und Verkehr im "Neuen Universum" der 1950er- und 1960er-Jahre. Bülow beschrieb Bürgles futuristische Illustrationen als deckungsgleich mit der bundesdeutschen Wissenschafts- und Technikgläubigkeit jener Zeit und unterstrich die charakteristische Mischung aus Technikrealitäten und visionären Elementen in seinem Bildprogramm, die auf bereits angesprochene mögliche Plausibilisierungsstrategien verwies. Technik-Fiktionen im frühen deutschen Tonfilm widmete sich ANKE WOSCHECH (Dresden) am Beispiel von F.P. 1 antwortet nicht (1932). Dieser Film feierte den zivilen Luftverkehr als pazifistisches Projekt zur Verknüpfung von Kontinenten und verwies dabei sowohl auf traditionelle Mobilitätsutopien wie auch auf zeitgenössische Technik. Diese Negation des Utopischen konnte das Vertrauen in die Machbarkeit des visionären Programms verstärken, wobei der Optimismus von Maschinensinfonien und der Glaube an die Realisierbarkeit technischer Großprojekte in Zeiten der Weltwirtschaftskrise allerdings bemerkenswert realitätsfern schien, wie anschließend bemerkt wurde. ARNO GÖRGEN (Ulm) setzte sich anschließend mit Dystopien von Medizin und Wissenschaft im populärkulturellen Medium des Computerspiels auseinander. Er wies dabei einerseits auf eine zunehmende narrative Tradierung technischer Zukunftsvisionen, andererseits auf ein Unbehagen an der Technikgläubigkeit der Moderne in der Entwicklung von Computerspielen hin. Das inhaltlich komplex aufgebaute Retro-Science-Fiction-Spiel „Bioshock“ stand im Mittelpunkt der Analyse. „Bioshock“ bietet neben der Kritik an der objektivistischen Philosophie der amerikanischen Bestseller-Autorin Ayn Rand (1905-1982) eine düstere Dystopie der biomedizinischen Entgrenzung durch Technik und Pharmaindustrie. Im historischen Setting des Spiels werden gegenwärtige Zustände und Ängste vor zukünftigen Techniken verhandelt sowie mögliche Fehlentwicklungen derselben kritisch hinterfragt. Dies aufgreifend wurde im Anschluss an den Vortrag die Funktion historisierender und futuristischer Elemente für den gegenwärtigen politischen und biomedizinischen Diskurs sowie für den soziokulturellen Diskurs auf Ebene der Spielästhetik und der kulturellen Kontexte von Spielern debattiert.

Die intensive Abschlussdiskussion (mit Kommentaren von Thomas Hänseroth, Uwe Fraunholz, Sylvia Wölfel, Katharina Neumeister und Hans-Georg Lippert) fokussierte auf die in den einzelnen Beiträgen aufscheinende Problematik der vielfältigen und dabei durchaus inkongruenten Verwendungsweisen der zentralen Begriffe des Workshops – technische Utopie respective technische Vision. Neben einigen systematisierenden Vorschlägen, die eine jeweilige Orientierung an (über-)zeitliche, gesellschaftsverändernde oder auch pragmatisch-diskursive Perspektiven anboten (eine technische Utopie ist das, was von den historischen Akteuren als eine solche bezeichnet wird) triumphierte letztendlich mit einem Plädoyer für den Mut zu konstruktiv-destruktiven Arbeitsdefinitionen der oft bemühte Konsens im Dissens. Es bleibt zu hoffen, dass die geschichtswissenschaftliche Begriffsarbeit in diesem Bereich weiter geht.

Konferenzübersicht:

Thomas Hänseroth: Begrüßung und Eröffnung

Adelheid Voskuhl: Ambivalenz im Versprechen: Utopie und Dystopie in der Technikphilosophie der Weimarer Republik

Mobile Zukünfte

Fabian Kröger: Fahrerlos und unfallfrei. Eine frühe automobile Technikutopie und ihre populärkulturelle Bildgeschichte

Philipp Hertzog: Geschwindigkeitsversprechen – Visionen der Verkehrsplanung in Technik und Politik

Daniel Brandau: Machbarkeitsvisionen als Ressource gesellschaftlicher Selbstvergewisserung? Frühe Raumfahrtvorstellungen in Deutschland, 1920-1960

Sozialistische Technikutopien

Uwe Fraunholz: Automatisierungsvisionen in der DDR

Katja Böhme: Kunststoffe in der DDR: Utopie im Alltag zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Energievisionen

Detlev Fritsche: Demokratisierung durch Zentralisierung? Elektrifizierung als soziale Vision im Deutschen Kaiserreich

Alexander Gall: Wasserkraft und Weltgestaltung. Das Atlantropa-Projekt Herman Sörgels als technische Universallösung für die Probleme Europas

Ralf Pulla: Energievisionen ausstellen: Ein Rundgang über die studentische Ausstellung „Ein Funken Wahrheit – Energievisionen in der technokratischen Hochmoderne“

Medien der Popularisierung

Ralf Bülow: Klaus Bürgle – Stadt und Verkehr im Neuen Universum

Anke Woschech: Technik-Fiktionen im frühen deutschen Tonfilm

Arno Görgen: Dystopien von Medizin und Wissenschaft: Retro-Science-Fiction und die Kritik an der Technikgläubigkeit der Moderne im populärkulturellen Medium des Computerspiels

Abschlussdiskussion: Technische Visionen und Utopien zwischen Transzendenz und Gemeinsinn, mit Kommentaren von Thomas Hänseroth, Uwe Fraunholz, Sylvia Wölfel, Katharina Neumeister, Hans-Georg Lippert


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