Selbstverständnis der Pflege im Wandel / Soins infirmiers: Une identité en mutation / Changing Professional Identity in Nursing

Selbstverständnis der Pflege im Wandel / Soins infirmiers: Une identité en mutation / Changing Professional Identity in Nursing

Organisatoren
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften; Schweizerische Gesellschaft für Gesundheits- und Pflegegeschichte
Ort
Basel
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.09.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Niklaus Ingold, Medizinhistorisches Institut und Museum, Universität Zürich

Verschiedene Bestrebungen sind in Gang, um der Geschichte der Pflegeberufe mehr Beachtung zu verschaffen und sie als einen vielschichtigen Forschungsgegenstand zu etablieren. Beispielsweise hat die Robert Bosch Stiftung 2004 das Förderprogramm „Beiträge zur Geschichte der Pflege“ gestartet, das unter anderem einen stärkeren Einbezug der Pflegegeschichte in die Ausbildung künftiger Pflegekräfte ermöglichen soll. Dieses Ziel verfolgt auch die 2009 gegründete Schweizerische Gesellschaft für Gesundheits- und Pflegegeschichte (GPG-HSS). Um Forschenden Gelegenheit zu Austausch und Vernetzung zu bieten, hat die GPG-HSS zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften (SGGMN) die Tagung „Selbstverständnis der Pflege im Wandel“ organisiert. Sabina Roth (Zürich), Co-Präsidentin der GPG-HSS, und Eberhard Wolff (Zürich und Basel), Vorstandsmitglied der SGGMN, skizzierten in zwei Begrüßungsreden die Entwicklung der historischen Forschung zur Krankenpflege und formulierten die gemeinsame Stoßrichtung der einzelnen Tagungsbeiträge: Sie würden nach den verschiedenen Einflusssphären fragen, welche die Formierung der Pflegeberufe und die wechselnden beruflichen Identitäten der Pflegenden im 19. und 20. Jahrhundert prägten.

Das Eröffnungsreferat griff das Tagungsthema von den Problemen her auf, die der Entstehung eines gemeinsamen beruflichen Selbstverständnisses der Pflegenden im Deutschen Reich Anfang des 20. Jahrhunderts entgegenstanden. SYLVELYN HÄHNER-ROMBACH (Stuttgart) zeichnete das Bild eines stark aufgespaltenen Berufsfeldes, in dem religiöse Gruppierungen, Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung oder gewerkschaftlich organisierte Wärterinnen und Wärter unterschiedliche und teilweise unvereinbare Interessen verfolgten. Neben dieser Aufsplitterung nannte Hähner-Rombach die konfessionelle Tradition, welche die Durchsetzung von Ausbildungsstandards erschwerte, und die Feminisierung der Pflegetätigkeit, welche Krankenpflege nicht als Beruf, sondern als Teil der weiblichen Geschlechterrolle erscheinen ließ, als weitere Hindernisse. Die Einordnung der Pflegetätigkeit als Hilfsheilberuf und die damit verbundene Unterstellung unter die Ärzteschaft bezeichnete Hähner-Rombach als Kollateralschaden der ärztlichen Agitation gegen nicht approbierte Heiler. Diese Problemlage verglich die Vortragende mit der Situation in den USA, wo die Krankenpflege früher als in Deutschland Eingang in das Hochschulwesen fand.

KAREN NOLTE (Würzburg) veranschaulichte die von Hähner-Rombach angesprochenen Unterschiede unter den Pflegenden im Deutschen Reich. Mit Agnes Karll (1867-1927) stellte sie eine Krankenschwester vor, die vom Roten Kreuz ausgebildet worden war und ein naturwissenschaftlich-medizinisches Verständnis der Krankenpflege teilte. Karll war Mitbegründerin der 1903 gegründeten Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands. Nolte dienten Briefe als Quellen, die Karll in den Jahren vor ihrem Engagement für den Berufsverband an ihre Mutter Ida Karll geschrieben hatte. An diesen Dokumenten zeigte Nolte, dass Karll ihr Handeln aufgrund ihres naturwissenschaftlich-medizinischen Verständnisses der Krankenpflege nach ärztlichen Weisungen ausrichtete. Karll äußerte sich ihrer Mutter gegenüber zwar immer wieder kritisch zu ärztlichen Anweisungen, übernahm die Rolle der Anwältin der Patientinnen und Patienten und stellte die Autorität ihrer Vorgesetzten zum Beispiel durch antisemitische Stereotypen in Frage. Letztlich war die Anerkennung ihrer Leistung durch Ärzte aber doch entscheidend für ihr Selbstwertgefühl. Dieser Abhängigkeit von Ärzten stellte Nolte die relative Unabhängig von Kaiserswerthern Diakonissinnen gegenüber, die sich in Briefen an das Mutterhaus über den von Ärzten unabhängigen Kompetenzbereich der Seelenpflege definierten.

Auch im Beitrag von JOËLLE DROUX (Genf) war die von Hähner-Rombach angesprochene Spaltung der Pflegenden wichtig. Droux betonte den Einfluss verschiedener transnationaler Netzwerke auf die berufliche Identität von Pflegenden in der Schweiz. Sie argumentierte, dass die Schweizer Krankenpflegeverbände Anfang des 20. Jahrhunderts eine Mischung aus den Identitätsangeboten der konfessionellen Mutterhausverbände und der Rotkreuzbewegung vertreten hätten: persönliche Aufopferung und absolute Hingabe verbunden mit einem Ethos nationaler Pflicht und geschlechtsspezifischer Kompetenz. In der Zwischenkriegszeit standen diese Werte laut Droux im Widerspruch zu den Standards des International Council of Nurses sowie nationaler und internationaler Arbeitsnormen. Dem International Council of Nurses gehörte unter anderem die von Agnes Karll mitbegründete Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands an. Die Organisation wollte das naturwissenschaftlich-medizinische Verständnis der Krankenpflege fördern. Der Einfluss des ICN sowie amerikanischer Stiftungen war gemäß Droux entscheidend für die Durchsetzung neuer Ausbildungsrichtlinien nach dem Zweiten Weltkrieg.

FLURIN CONDRAU (Zürich) schlug einen Zugang vor, der die Pflegenden über die klinischen Szenarien, in die sie involviert waren, in den Blick nimmt. Er ging auf Praktiken zur Infektionskontrolle in britischen Spitälern zwischen 1930 und 1960 ein und zeigte, wie sich die Rollenzuschreibung an Pflegende mit dem Aufkommen von Antibiotika und entlang der mikrobiologischen Erforschung von Spitalinfektionen veränderte. Zu den neuen Kontrollstrategien gehörte die sogenannte shotgun therapy, durch welche Kliniker postoperative Komplikationen mit Hilfe von Antibiotika ohne Rücksichtnahme auf längerfristige Folgen zu vermeiden suchten. Um die Verbreitung krankheitserregender Mikroorganismen in Krankenhäusern nachzuvollziehen, setzten Mikrobiologen die neue Technik des phage typing ein. Sie begannen Spitalinfektionen auf eine Art und Weise zu Konzeptualisieren, welche die Rolle von healthy carriers hervorhob. In diesem Zusammenhang, so argumentierte Condrau, habe sich die Rolle der Pflegenden fundamental gewandelt: Sie wurden vom Aushängeschild der Spitalhygiene zu Hauptverdächtigen für die Übertragung krankheitserregender Mikroorganismen innerhalb der Spitäler des National Health Services.

SABINA ROTH (Zürich) näherte sich der beruflichen Identität von Pflegenden über die Ausbildung an. Anhand des Experimentierprogramms Integrierte Krankenpflege (IKP) zeichnete Roth das angestrebte Persönlichkeitsprofil von Pflegenden nach. Die Integrierte Krankenpflege wurde 1973 von der Schweizerischen Pflegerinnenschule gestartet und von der Krankenpflegeschule Zürich (KPZ) bis 1999 gelehrt. Roth fasste das Experimentierprogramm Pflege als einen Problemlösungs- und Beziehungsprozess. Dieses Verständnis machte die „Beziehungsfähigkeit“ zu einem wichtigen Persönlichkeitsmerkmal von Pflegenden. Neben der selbständigen Anwendung ihres fachlich-pflegerischen Könnens mussten sie in der Lage sein, positive Beziehungen zu Kranken, aber auch zu Mitarbeitenden aufzubauen. Als Voraussetzung dafür galt laut Roth Verständnis für sich selber, das durch eine besondere Reflexionskultur gefördert werden sollte. Damit sei das Selbst der Berufsperson zum Gegenstand beruflicher Gespräche und Qualifikationen geworden.

ANNE MARIE RAFFERTY (London) erforscht die Rollen und Identitäten, welche britische Krankenschwestern im Zusammenhang mit kolonialer Herrschaft innehatten. Zwischen 1896 und 1966 schickte die Colonial Nursing Association (ab 1940 hieß sie Overseas Nursing Association) 8450 Krankenschwestern aus Großbritannien in Überseegebiete mit britischer Bevölkerung. Die jungen Frauen sollten den britischen Handelsreisenden und Besatzern das Überleben in der als „feindlich“ gedachten Umgebung der Überseegebiete erleichtern. Rafferty beschrieb Abenteuerlust, die Möglichkeit, aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen, das Streben nach Status und Unabhängigkeit sowie Heiratsaussichten als Motive für die Krankenschwestern, sich von der Colonial Nursing Association nach Übersee vermitteln zu lassen. Anhand von Propagandamaterial ging sie auf die Identität ein, welche die Colonial Nursing Association für diese jungen Frauen konstruierte. Sie wurden als weibliches Pendant zum männlichen Entdecker oder als Touristinnen beschrieben. Diese Vorstellungen verbreitete das Generalsekretariat zum Beispiel durch die Veröffentlichung zensierter Briefe, in denen Krankenschwestern ihre Erlebnisse schilderten.

Drei Kurzinterventionen von SABINE BRAUNSCHWEIG (Basel), RENÉ SCHWENDIMANN (Basel) und HUBERT STEINKE (Bern) beendeten die Tagung. Braunschweig und Schwendimann schlugen den Bogen in die Gegenwart, indem sie auf die heutigen Arbeitsbedingungen von Pflegenden beziehungsweise auf das gegenwärtige Ausbildungsangebot eingingen. Steinke machte in einem Kommentar den Vorschlag, in die Rekonstruktion der Rollen von Pflegenden das Programm des practical turn stärker einzubeziehen.

Die Tagung bot spannende Einblicke in die laufende Forschung zur Geschichte der Gesundheitsberufe im 19. und 20. Jahrhundert. Die Referate brachten unterschiedliche Gesichtspunkte auf, unter denen die beruflichen Identitäten von Pflegenden betrachtet werden können. Zu einem Gesamtbild lassen sich die Beiträge jedoch nicht verdichten. Das in den Vorträgen und Diskussionen wiederholt auftauchende Thema war die Bedeutung der Vernetzung der Pflegenden auf nationaler, transnationaler und internationaler Ebene. Zudem machten die Referate die Abhängigkeit der beruflichen Identitäten von Pflegenden von anderen Akteuren des Gesundheitswesens und gesellschaftlichen Entwicklungen deutlich. Wünschenswert wäre eine ausführliche Schlussdiskussion gewesen, um zum Beispiel Anstöße zur Weiterentwicklung des Tagungsthemas zu geben.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Sabina Roth (Zürich), Eberhard Wolff (Zürich/Basel)

Eröffnungsreferat

Sylvelyn Hähner-Rombach (Stuttgart): „Berufskampf der Krankenpflegerin“: Probleme der Ausbildung eines beruflichen Selbstverständnisses der Pflege im Deutschen Reich Anfang des 20. Jahrhunderts

Vormittag

Karen Nolte (Würzburg): Ärzte und Krankenschwestern um 1900 – Darstellung und Reflexion eines schwierigen Verhältnisses in den Briefen Agnes Karlls (1867-1927)

Joëlle Droux (Genf): From transnational impulse to local implementation: shifting professional identities in Swiss nursing, 1900-1950

Nachmittag

Flurin Condrau (Zürich): The blame game: nurses, healthy carriers and the control of staph 80/81 infections in British hospitals 1930-1960

Sabina Roth (Zürich): Pflege braucht Persönlichkeit. Zur Arbeit an sich selbst in der Berufsbildung der 1970er und frühen 1980er Jahre

Gugenheim-Schnurr-Lecture 2011

Anne Marie Rafferty (London): Marriage, migration and the multiple identities oft he British colonial nurse

Kurzinterventionen

Sabine Braunschweig (Basel)

René Schwendimann (Basel)

Hubert Steinke (Bern)


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