Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens

Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung. Zur Formation musikbezogenen Wissens

Organisatoren
Strukturiertes Promotionsprogramm des Landes Niedersachsen "Erinnerung – Wahrnehmung – Bedeutung. Musikwissenschaft als Geisteswissenschaft"
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2011 - 05.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Christine Hoppe, Musikwissenschaftliches Seminar, Georg-August-Universität Göttingen

Es gibt keine objektive Musikgeschichtsschreibung. Sie basiert auf einer konstruktiv hervorgebrachten Erinnerung an eine Vergangenheit, von der wir nur wenig wissen. Musikgeschichte ist stets als das Produkt einer bestimmten, durch jeweils individuelle, soziale und kommunikative Wahrnehmung geprägte, Gegenwart zu betrachten. Deutlich wird dies z.B. an einer weitgehenden Exterritorialität populärer Musik in unterschiedlichsten, auch konkurrierenden Musikgeschichten. Aber welche Konstruktionsprozesse, -praktiken und -mechanismen entscheiden über die Entstehung und den Wandel musikhistorischen Wissens, wenn es doch nicht die eine, objektive Musikgeschichte gibt, andererseits die ›Geschichten‹, die wir schreiben, dennoch nicht beliebig erscheinen, sondern die Quellen in all ihrer Offenheit einen doch nicht beliebigen Rahmen geben? Und: Wie kann die (Musik-)Wissenschaft ihren gesellschaftlich relevanten Aufgaben in der Wissensvermittlung nachkommen und gerecht werden, ohne sich auf objektive Fakten stützen zu können?

Die von den acht Stipendiatinnen und Stipendiaten des Strukturierten Promotionsprogramms »Erinnerung – Wahrnehmung – Bedeutung. Musikwissenschaft als Geisteswissenschaft» konzipierte und organisierte Internationale Tagung »Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung: Zur Formation musikbezogenen Wissens«, die vom 03. bis 05. November an der Georg-August-Universität Göttingen stattfand, stellte sich eben diesen Fragen, die aus der einfachen, wenig diskutierbar erscheinenden Ausgangsüberlegung »Es gibt keine objektive Musikgeschichtsschreibung« ein äußerst komplexes Untersuchungsfeld werden lassen.

Dass die acht seit 2009 vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur mit Georg-Lichtenberg-Stipendien geförderten Stipendiatinnen und Stipendiaten mit dem von ihnen formulierten Thema, das an die Fragestellung des Promotionsprogramms anknüpft, ein gutes Gespür für eine ebenso aktuelle wie vielschichtige Fragestellung der gegenwärtigen Musikwissenschaft, über die allerhand Austauschbedarf zu bestehen scheint, bewiesen, davon zeugten neben der in diesem Rahmen ungewöhnlich breiten internationalen Resonanz auch die für eine Fachtagung hohe Anzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die nicht aktiv in den Ablauf der Tagung eingebunden waren, die jedoch in den die einzelnen Vorträge abschließenden Diskussionen sowie in den beiden die Tagung umrahmenden Podiumsdiskussionen eine stets angeregte Austauschfläche erfreulich konstruktiv ergänzten.

Im Fokus standen – nach einer theoretischen Lokalisierung des Arbeitsfeldes – einerseits die Strategien, mit denen man einer offenkundig nicht zu leugnenden Vielfalt von Abhängigkeitsfaktoren beim Schreiben von Musikgeschichte zu begegnen versuchen kann, an allererster Stelle hier die Notwendigkeit des Bewusstmachens der Konstruiertheit von Musikgeschichte, aber auch die ausdrückliche Betonung einer Pluralität der Perspektiven, die auch von den jeweiligen Fragestellungen der Forschenden bestimmt werden. Daneben ging es ganz konkret um das Aufspüren von Möglichkeiten, diese konstruktiven Momente der Wissensproduktion und -formation sowie die verschiedenen Perspektiven stärker hervorzuheben, sich der Prozesshaftigkeit des Schreibens von Musikgeschichte bewusster zu werden und zu versuchen, Theorien und Methoden aus anderen Fächern für die Musikwissenschaft fruchtbar zu machen, unterschiedliche Facetten des Grundgedankens, die in thematisch überschriebenen Panels summiert erschienen.

Im eröffnenden Panel war es an ALASTAIR WILLIAMS (Keele) das weitere Arbeitsfeld theoretisch zu umreißen: Neben der von ihm erwarteten Skizzierung der disziplinären Wenden der Musikwissenschaft vom Objektivität anzweifelnden Poststrukturalismus bis zur Betonung pluraler Perspektiven sowie einem fortschreitenden Einbezug soziologischer und rezeptionsästhetischer Ansätze heute stellte er in einem zweiten, über diese Gedanken hinausgehenden Teil anhand von Kompositionen von Wolfgang Rihm und Helmut Lachemann ergänzend vor, dass auch das Komponieren selbst eine Form kritischer Praxis geworden ist, die versucht, eine Antwort auf die Vergangenheit beizutragen. In seinem in absentia vorgelesenen Beitrag stellte sich ALEXANDER REHDING (Cambrigde) der Frage, wie die Konstruktion von Musikgeschichtschreibung funktioniert, an einem bis zu den Anfängen der Musikgeschichtsschreibung zurückreichenden Beispiel: Er führte anhand der – nicht immer als solche gekennzeichneten – Spekulationen über ›die‹ altägyptische Musik, deren Rekonstruktion durch eine quasi faktenfreie Dokumentationslage im Bereich des Hypothetischen zu belassen wäre, eindrücklich vor, wie historische Nachweise erbracht werden und wie aus tatsächlichem Unwissen vermeintliches Wissen konstruiert wird. JAMES GARRATT (Manchester), ebenfalls in absentia, legte Wert auf die Unterscheidung zwischen einer ›historischen‹ Vergangenheit, die die geschichtliche Vergangenheit als autonomes Gebilde ansieht, und einer ›praktischen‹ Vergangenheit, also einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die vor allem an einer gegenwartsbezogenen Geschichtsschreibung orientiert ist.

Aus der den ersten Tag abschließenden Podiumsdiskussion – leider durch den unglücklichen Umstand der kurzfristige Abwesenheit zweier Referenten offenkundig um einigen Diskussionsstoff gebracht – ging dessen ungeachtet bereits ein zentraler Gedanke hervor, der, ob in ursprünglicher oder variierter Form, die ganze Tagung durchziehen sollte: Wir haben es beim Schreiben von Musikgeschichte mit einem Dreischritt zu tun, der von den Quellen zu den – nicht beliebigen – Fakten führt, die schließlich zu – perspektiven- und fragenabhängigen – Sätzen bzw. Geschichten formuliert erscheinen.

Die beiden ersten Vorträge am Samstagvormittag widmeten sich der Frage, welche Bedeutung der musikalischen Analyse bei der Geschichtsschreibung beigemessen werden kann oder sollte. TOBIAS JANZ (Hamburg) betonte in seinem Beitrag stark die durch einen unterschiedlichen Erkenntniswillen hervorgerufenen Differenzen zwischen Historischer Musikwissenschaft und musikalischer Analyse und stellte die quasi selbstverständliche Annahme, dass durch Analyse musikgeschichtlich relevante Zusammenhänge zu gewinnen sind, in Frage, erscheint doch auch die musikalische Analyse als eine Methode, die durch selbstgesetzte Normen eine quasi willkürliche Abgrenzung, z.B. zur trivialen oder populären Musik, nach sich zieht. SIGNE ROTTER-BROMAN (Kiel) stellte im Anschluss dar, dass sich verschiedene Ebenen des Verhältnisses zwischen musikalischer Analyse und disziplinärer master narratives ausmachen lassen, die stark von dem jeweiligen Erzähler, aber auch vom Erkenntnisziel der Erzählungen abhängen. Fokus, Methode und auch die selektierende Einbettung der Ergebnisse der Analyse in einen Text sind Zeugnis dieser je unterschiedlichen Verhältnisse.

Auch die Verfolgung bestimmter ideologischer, philosophischer und politischer Vorannahmen und Einstellungen kann bei der Konstruktion von Musikgeschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, das erläuterte GOLAN GUR (Berlin) anhand einer beispielhaften Untersuchung des Zusammenspiels historischer Vorstellungen und ästhetischer Ideologien in Arnold Schönbergs und Theodor W. Adornos Auseinandersetzungen mit der Zwölftonmusik. MARIO DUNKEL (Dortmund) lokalisierte im Fall der Jazzhistoriografie, in der unterschiedliche, teilweise bis heute sich haltende, konkurrierende Narrative zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte kursieren, die Bedingungen dafür vor allem in den jeweiligen ideologischen Positionen der Schreiber sowie in ihren soziohistorischen Kontexten.

Auf der Suche nach Möglichkeiten, die Pluralität der Perspektiven zu betonen, plädierte HARTMUT MÖLLER (Rostock) in seinem Vortrag für die Herausstellung eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«: Was, wenn bereits die vermeintlichen Anfänge der europäischen Musikgeschichte, die Anfänge der Mehrstimmigkeit als fraglich erscheinen? Ein Ausweg wäre hier ein dreidimensionales Denken, das im Dreischritt Quelle – Fakten – Sätze/Geschichten den Fokus aus einer Musikgeschichte vereinheitlichen Perspektive heraus auf das Zulassen und Darstellen mehrerer Perspektiven legt.

Stark an den Funktionsweisen der Biografieschreibung orientiert, legte erst JULIANE RIEPE (Halle) am Beispiel des einem steten Wandel ausgesetzten Händel-Bildes dar, welch unterschiedliche, teilweise gar widersprüchliche Attribute ein und derselbe Gegenstand auf der Suche nach der jeweiligen ›Wahrheit‹ einer Zeit bekommen kann. Auch hier wurde wieder deutlich, dass diese ›Wahrheit‹ als nur ein Blick, nur eine Deutung neben vielen anderen anzusehen ist. Gleichzeitig offenbarte der Blick auf die unterschiedlichsten, auch in ihrer Stärke und Dauerhaftigkeit sich unterscheidenden Händelbilder, dass diese Bilder stets als eine einer bestimmten Ideologie verpflichteten Konstruktionen funktionieren. Im Anschluss fokussierte SIMON OBERT (Basel) auf die ›Wanderanekdote‹ in auf die Biografie zentrierten Pophistoriografien, die als Mittel zur Kanonisierung von Wissen eingesetzt erscheint und das Spannungsfeld zwischen Individualität und Typisierung beschreibt. Dabei steht die definitorische Singularität des Anekdotischen einem mehrfach wiederkehrenden Auftreten eigentlich diametral entgegen, soll doch das Besondere im individuellen Schaffensprozess eines Künstlers hervorgehoben werden.

Ein zentraler Aspekt war immer wieder die Vermittlung des Wissens über Musikgeschichte durch Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler. So kristallisierte FRANK HENTSCHEL (Köln) anhand seiner Betrachtungen von Modulbeschreibungen zu so grundständigen universitären Überblicksveranstaltungen im Fach Musikwissenschaft wie ›Musikgeschichte im Überblick‹ heraus, dass bereits hier die Tendenz zum ganzheitlichen Denken verankert zu liegen scheint wie in keiner anderen Überblicksveranstaltung vergleichbar geschichtlich angelegter Fächer, davon zeugen sich immer noch haltende Konstruktionen wie der der Fortschrittsideologie ebenso wie die Verwendung von stark abgrenzenden Begriffen wie dem des Abendlandes. Dass die Aufbereitung von Musikgeschichte stark mit dem jeweiligen Medium, durch das sie vermittelt wird, zusammenhängt, davon berichteten anhand der Gattung Konzertführer und Konzertprogramm CHRISTIAN THORAU (Potsdam) und ANSELMA BREER (Frankfurt / Main).

Im letzten Panel beschäftigten sich PHILINE LAUTENSCHLÄGER (BERLIN) und ANDREAS DOMANN (Köln) mit der Frage, wie sich bestimmte Wandel im Denken auf den Wissenstransfer auswirken, wobei Philine Lautenschläger sich am Beispiel der Epoche Barock die Abkehr von der Ideenschichte nach 1945 vornahm, Andreas Domann sich der Musikhistoriografie unter dem Paradigma des Marxismus widmete, hier mit der zentralen Fragestellung nach dem Spannungsverhältnis zwischen Musikwissenschaft im ehemaligen »Westen« und »Osten«.

»Es gibt keine objektive Musikgeschichtsschreibung.« Die Einblicke in die unterschiedlichsten Facetten machten deutlich, dass, zumindest im Kreise der Anwesenden, Konsens über diese Ausgangsüberlegung zu bestehen scheint. Sie verdeutlichten aber auch, dass das Bewusstmachen, das Zulassen der daraus resultierenden Mehrdimensionalität und das Aufzeigen des Konstruktionsprozesses selbst eine Annäherung an Objektivität darstellen können.

Konferenzübersicht:

mapping the field
(Chair: Mathias Maschat)

Alastair Williams (Keele): Constructing Meaning and Subjectivity in Music: Theories and Practices.

Alexander Rehding (Cambridge, Ms., in absentia): Die ägyptische Spieldose.

James Garratt (Manchester, in absentia): Composing Useful Histories: Music Historiography and the Practical Past.

Podiumsdiskussion mit Alastair Williams und Frank Hentschel
Moderation: Ina Knoth, Karina Seefeld

embedding analysis
(Chair: Ina Knoth)

Tobias Janz (Hamburg): Zur Konstruktivität historischen Wissens in der musikalischen Analyse.

Signe Rotter-Broman (Kiel): Zur Funktion musikhistorischer Master narratives für musikalische Analyse.

investigating ideologies
(Chair: Sylvia Freydank)

Golan Gur (Berlin): Deconstructing Musical Modernism: Narratives and Aesthetic Ideology.

Mario Dunkel (Dortmund): Ideological Implications of Early American Jazz Historiography (1936-1956).

narrating histories
(Chair: Karina Seefeldt)

Hartmut Möller (Rostock): Vom karolingischen Quartorganum zu Schönbergs Quartenakkorden. Suche nach Auswegen aus einem musikhistoriografischen Dilemma. Gleichzeitig: Plädoyer für eine ökologische Musikgeschichtsschreibung »3D«

Dörte Schmidt (Berlin): Narrative des Exils. Biografik zwischen Konstruktion und historischer Wirklichkeit. (ausgefallen)

grounding biographies
(Chair: Sandra Danielczyk)

Juliane Riepe (Halle): Varianten und Konstanten des Händel-Bildes vom 18. bis ins 21. Jahrhundert oder Il trionfo del tempo e dell’inganno über das, was wir gerne für historische Wahrheit halten würden.

Simon Obert (Basel): Verschlossene Türen und andere poetische Auswege: Die Künstleranekdote in der Pophistoriografie.

mediating musical knowledge
(Chair: Christoph Dennerlein)

Frank Hentschel (Köln): Modularisierte Musikgeschichte.

Christian Thorau (Potsdam) und Anselma Breer (Frankfurt/Main): Führer durch symphonische Räume – Zur Popularisierung musikhistorischen Wissens in Konzert und Oper.

revising historiographies
(Chair: Lisbeth Surcke)

Philine Lautenschläger (Berlin): Musikgeschichte im Umbruch. Die Abkehr von der Ideengeschichte nach 1945 am Beispiel von Epochendarstellungen der Barockmusik.

Andreas Domann (Gießen): Musikhistoriografie unter dem Paradigma des Marxismus. Ein Relikt der Vergangenheit?

Abschluss-Podium mit Andreas Domann, Tobias Janz, Simon Obert und Christian Thorau. Moderation: Christoph Dennerlein, Lilli Mittner, Lisbeth Surcke


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts