Mehr als ein Jahrzehnt ist seit dem Beginn der Debatte um eine ‚neue‘ Politikgeschichte vergangen.1 Maßgebliche Beiträge leistete nicht zuletzt der Bielefelder Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, dessen dritte und letzte Förderphase im Sommer 2012 endet.2 Aus diesem Grund fand im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) im Dezember 2011 eine international besetzte Abschlusstagung statt, die sowohl Bilanz zog als auch Anschlussmöglichkeiten an gegenwärtige nationale wie internationale Forschungstrends auslotete.
In ihrem gemeinsamen Einleitungsvortrag rekapitulierten INGRID GILCHER-HOLTEY und WILLIBALD STEINMETZ (beide Bielefeld) die Prämissen des Bielefelder Ansatzes. Im Einklang mit anderen Entwürfen einer erweiterten Politikgeschichte sei das Spektrum der Untersuchungsgegenstände erfolgreich ausgedehnt worden. So sei es heute weitgehend Konsens, zusätzlich zu ‚klassischen‘ Themen, etwa konkretem Entscheidungshandeln politischer Akteure, auch die visuellen, rhetorischen und performativen Dimensionen politischer Prozesse, mithin Präsentationen und Repräsentationen des Politischen zu betrachten. Spezifisch für die Bielefelder Perspektive sei indes die darüber hinausgehende Historisierung des Politischen selbst, verstanden als kommunikativ konstituierter und historisch variabler Raum. Dieser Blickwinkel ermögliche, in einer epochenübergreifenden Langzeitperspektive die sich verschiebenden Grenzen des politischen Raums sowie Prozesse der Politisierung und Depolitisierung zu erfassen. Speziell die Frage, ob die Moderne eine grundsätzliche Tendenz zur Politisierung immer weiterer Sachverhalte kennzeichnet oder es nicht vielmehr Konjunkturen der Politisierung und Depolitisierung gab, bleibe ein spannendes, noch nicht abschließend zu beantwortendes Forschungsthema.
Die Diskussionen der ersten Sektion kreisten um das Spannungsverhältnis von gewaltsamem Handeln und politischer Kommunikation. Während FREIA ANDERS (Bielefeld) an Beispielen aus der westdeutschen Autonomenszene der 1970er- und frühen 1980er-Jahre aufzeigte, mit welchen Strategien Gewaltanwendung in Konflikten mit der Staatsmacht zu legitimieren versucht wurde, widmete sich ALAIN DEWERPE (Paris) dem Polizeieinsatz gegen Anti-Algerienkriegs-Demonstranten an der Pariser Metrostation Charonne vom 8. Februar 1962, bei dem neun Protestierende durch Polizeigewalt umkamen. Er ordnete die Aktion in das komplexe Geflecht konkurrierender Motive und Handlungsstrategien sämtlicher beteiligter Akteure ein, um so den politischen Gehalt des Ereignisses aufzuzeigen. Zugleich betrachtete er das institutionell-administrative Gefüge und die staatlichen Rechtfertigungsstrategien, die ein derartiges Ausmaß staatlicher Gewaltanwendung erst ermöglichten. Damit, so HEINZ-GERHARD HAUPT (Bielefeld) in seinem Kommentar, verweise der Beitrag auf einen zentralen Aspekt der Erforschung von Gewalt im politischen Raum: Gewaltausübung erlange ihren politischen Charakter gerade aus der Notwendigkeit, den Gewalteinsatz zu legitimieren. Darüber hinaus ergäbe sich das eminent Politische der Gewalt aus den Zielen und Konstellationen der Gewaltausübung. Indem beide Vorträge Situationen fokussierten, in denen die Frage nach Formen und Grenzen legitimer Gewalt verhandelt wurde, zeigten sie, dass Gewalt eben keinesfalls (wie in der bekannten These Hannah Arendts) zwangsläufig das Ende der Politik markiere, sondern Element des Politischen sein könne.
Die einleitend als besonderes Kennzeichen des Bielefelder Programms ausgewiesene Historisierung der Grenzen des politischen zu anderen Räumen stand im Mittelpunkt der zweiten Sektion. Die drei Beiträge thematisierten jeweils die historischen Grenzen von Politik und Recht, Politik und Konsum sowie Politik und Religion und führten ganz allgemein eine Bedingung deutlich vor Augen: Der Bezug auf Akteure, Semantiken und Institutionen der bereits als soziales Teilsystem etablierten Politik scheint eine der forschungspragmatischen Voraussetzungen für die Untersuchung von Prozessen zu sein, die über diesen Raum hinausgreifen, ihn kommunikativ ausweiten, begrenzen oder verdichten. In seinem rechtshistorisch-systematischen Beitrag argumentierte CHRISTOPH GUSY (Bielefeld), dass sich der Raum politischer Kommunikation in der Moderne zwar gegen das souveräne Recht des Monarchen herausgebildet habe, seither aber Gesetze sowohl die politische Kommunikation regulierten als auch ihren Hauptgegenstand bildeten. Die Grenzen zwischen Politik und Recht sah Gusy in diesem interdependenten Strukturwandel „porös“ werden, anders als etwa die Abgrenzung der Wissenschaft gegenüber der Politik oder die Grenzen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebungsverfahren. Gusy schloss daraus auf die Möglichkeit zeitgleicher Politisierungs- und Entpolitisierungsprozesse. Eingewandt wurde gegen diese Argumentation, dass die enge Bindung des Politischen an Recht und Gesetz für die Historisierung von Protestbewegungen wenig Anschlussmöglichkeit biete. KIRSTEN BÖNKER (Bielefeld) stellte einen Beitrag über das Verhältnis von Politik, Konsum und Geldpraktiken in der Sowjetunion zur Diskussion. Seit den frühen 1950er-Jahren seien die antikapitalistischen Vorbehalte gegenüber Geld aufgegeben und durch eine massenmedial verbreitete sozialistische Sinngebung ersetzt worden. Geld sei so zu einem Medium geworden, das konsumbasierte Individualisierung im gesellschaftlichen Alltag und Entpolitisierungsstrategien des Regimes eng miteinander verknüpfte. Sowjetische Geld- und Konsumpraktiken, so Bönker, trugen deshalb in der späten Sowjetunion eher zur Stabilisierung des Regimes als zu seiner Erosion bei. In der Diskussion wurde auf das Paradox hingewiesen, dass in westlichen Gesellschaften etwa zur gleichen Zeit Individualisierung durch Konsumpraktiken mit politischem Aufbruch verbunden war. Der Bestimmung des Politischen in der frühen Neuzeit widmete MATTHIAS POHLIG (Münster) einen Vortrag, der nicht von einem bereits ausgebildeten Feld der Politik ausging, sondern seine Heterogenese in vielfältigen Bezügen fokussierte – vor allem aber im Verhältnis zur Religion. Ausgehend von einem Text des kaiserlichen Kanzlers Melchior Khlesl aus dem Jahr 1613 zeigte Pohlig, dass Politik und Religion im 16. und 17. Jahrhundert zwar eng miteinander verwoben, aber keineswegs identisch waren. In der Diskussion wurde sein Plädoyer durchaus positiv aufgenommen, nicht von fixen und abgeschlossenen, sondern fließenden und im Wandel befindlichen Einheiten auszugehen, und sich zur Kartierung der komplexen Beziehungsgeflechte zwischen ihnen auch semantikhistorischer Ansätze zu bedienen. Dass sich mit dieser positivistischen Wendung auch überraschende und durchaus anschlussfähige Perspektiven gewinnen lassen, so Pohlig unter Verweis auf die Soziologie Bruno Latours, zeige sich beispielsweise, wenn man die zeitgenössische Überzeugung, Gott sei ein politischer Akteur, nicht vorschnell beiseite schiebe, sondern auf ihre wirklichkeitsbildenden Effekte prüfe.
Der Vortrag von PAOLO POMBENI (Bologna) in der dritten Sektion zur Problematik der politischen Führung behandelte die Ideengeschichte des Verhältnisses von politischen Führungsfiguren und demokratisch verfassten Öffentlichkeiten im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgehend von den Betrachtungen und Beobachtungen, die Journalisten, Soziologen und politische Wissenschaftler über zeitgenössische Staatslenker zu Papier brachten, skizzierte Pombeni den Wandel der Charakterisierungen und Anforderungen an Politiker, von Napoléon III. über William Gladstone bis zu Charles de Gaulle. In der Diskussion wurde eingewandt, dass sich die Ethik des „richtigen“ Gebrauchs politischer Macht mindestens bis auf die Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit zurückverfolgen lasse und somit über eine längere Tradition verfüge. Auch Vorstellungen von zivilgesellschaftlicher Selbstführung der Bürger jenseits der „Großen Männer“ seien unberücksichtigt geblieben.
Die Beiträge und Diskussionen der vierten Sektion beleuchteten die mitunter vernachlässigten visuellen Dimensionen politischer Kommunikation. BETTINA BRANDT (Bielefeld) plädierte – in Anlehnung an W.J.T. Mitchells These von der ‚visuellen Konstruktion des Sozialen‘3 – dafür, die ästhetischen und performativen Dimensionen von Visualisierungen in ihrer Wirkmächtigkeit für politische Prozesse anzuerkennen und auf diese Weise die jeweiligen Grenzen des Politischen zu erschließen. EVELINE BOUWERS (Bielefeld) verdeutlichte anhand von Postkarten, Karikaturen und Liedtexten aus der Zeit des Konflikts zwischen Katholiken und Republikanern in der Bretagne (1906-1912) die semiotischen und semantischen Elemente politisch begründeter Gewalt. Neben den physischen Gewaltakten sei für die Auseinandersetzung die kulturelle Konstruktion einer gewaltbereiten katholischen Gemeinschaft entscheidend gewesen, deren Einheit auf visuell vermittelten Motiven gegründet habe. Die Debatte warf insbesondere die Fragen auf, inwieweit Visualisierungen mit dem SFB-Konzept von Kommunikation zu erfassen seien und ob die Politikgeschichte künftig unabdingbar auch Bilder berücksichtigen müsse. PETER GEIMER (Berlin) bezweifelte, dass Visualisierungen mit einem – nicht völlig konturlosen – Kommunikationsbegriff zu fassen seien, da Kommunikationsmodelle stets auf die konkrete Vermittlung einer Nachricht oder Botschaft abzielten, die bei Bildern nicht per se gegeben sei. Dieser Auffassung entgegengestellt wurde, dass der SFB nicht jegliche Visualisierungen als Kommunikation betrachte, sondern umgekehrt Bilder dann interessierten, wenn sie Teil politischer Kommunikation seien. Dieses Argument korrespondierte mit der Einschätzung, dass die Politikgeschichte zukünftig immer seltener umhin kommen werde, das Zusammenspiel von sprachlichen und visuellen Faktoren einzubeziehen, weil sie sonst einen wichtigen Aspekt der Konstruktion sozialer und politischer Realitäten ausblende.
Erträge, Probleme und Entwicklungsmöglichkeiten der ‚neuen‘ Politikgeschichte zu bündeln und zuzuspitzen war das Ziel des abschließenden Roundtables. Zu Beginn kritisierte THOMAS MERGEL (Berlin) zwei Kernelemente des SFB: Zum einen würden durch die Historisierung des Politischen – im Unterschied zu Ansätzen, die bekannte politikgeschichtliche Themen mit neuen Methoden untersuchten – die Untersuchungsgegenstände so weit entgrenzt, dass nahezu alles ‚politisch‘ werden könne. Der (heuristische) Mehrwert einer solchen Perspektive leuchte nicht unmittelbar ein. Zum anderen erscheine der Kommunikationsbegriff des SFB problematisch, da dieser nicht trennscharf formuliert werde und die für Kommunikationsprozesse typische relationale Struktur nicht konzeptionell erfasse. Gerade dieser Einwand wurde in der Debatte weitgehend geteilt. Obgleich im SFB durchaus Theorieansätze herangezogen würden, die wie beispielsweise Bourdieu, Luhmann und Foucault mit relationalen Kommunikationsmodellen arbeiteten, bleibe – so Willibald Steinmetz – der nicht vollends ausbuchstabierte Kommunikationsbegriff eine Achillesferse. Mit Blick auf die künftige Agenda der Politikgeschichte forderte Mergel verstärkt mediengeschichtliche Forschungen, die im SFB eine überraschend untergeordnete Rolle spielten, genauso wie eine Verbindung von Politik- und Körpergeschichte sowie die Untersuchung politischer Mentalitäten. HENK TE VELDE (Leiden) betrachtete den Methodenpluralismus als größten Gewinn der politikgeschichtlichen Debatten der vergangenen Jahre. Im internationalen Vergleich konstatierte er dabei noch immer sehr verschiedene Ansätze, die zu kombinieren sich lohne: Während methodische Innovationen in Großbritannien aus der dort weiterhin starken Sozialgeschichte und in Frankreich aus der Kultur- und Intellektuellengeschichte rührten, seien ihre Quellen in Deutschland die ‚neue‘ Politikgeschichte sowie neuere Forschungen zum Parlamentarismus. Begrüßenswert sei eine neuerdings verstärkt zu beobachtende (Re-)Integration wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Aspekte in die Politikgeschichte. Diese Sicht teilte LUISE SCHORN-SCHÜTTE (Frankfurt am Main); sie sah alte Frontstellungen zwischen Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte ebenso als überwunden an, wie sie im interdisziplinären Austausch mit anderen Fächern, vor allem der Politikwissenschaft, Potenziale erkannte, um das Methodenarsenal auch künftig gewinnbringend weiterzuentwickeln. FRANK TRENTMANN (London) beschritt einen anderen Pfad. Der größte Gewinn der vergangenen Jahre bestehe gerade in den Reflexionen über die Frage, was und welcher Gestalt ‚das Politische‘ sei. Ebenfalls ertragreich sei die verstärkte Konzentration auf Kommunikationsprozesse, einhergehend mit der expliziten Analyse von Semantiken und Visualisierungen. An diese Untersuchungen der Konstitutionsbedingungen des Politischen gelte es anzuknüpfen; hierzu böte besonders der sich in den Geisteswissenschaften abzeichnende, in der Geschichtswissenschaft bislang wenig rezipierte ‚material turn‘ vielfältige Chancen. Er ermögliche, den Aspekt der materiellen Basis politischer Settings produktiv in die gegenwärtigen Analysen der Formation des Politischen zu integrieren. Zum Beispiel könne epochenübergreifend gefragt werden, wie Menschen über das Verhältnis von Menschlichem zu Nicht-Menschlichem gedacht hätten; dabei sei an der Schwelle zur Moderne ein Bruch zu vermuten, der einen beachtlichen Einfluss auf die jeweilige konzeptionelle Gestalt des Politischen gehabt habe. In arbeitspraktischer und theoretischer Hinsicht seien nicht nur ganz neue interdisziplinäre Synergiepotenziale zu wecken, sondern es ließe sich auch an konkrete Theorieentwürfe anknüpfen, etwa die sozialwissenschaftlichen Modelle Bruno Latours.
Fazit: Eine insgesamt gelungene Tagung, die das Potenzial und die Fruchtbarkeit des Bielefelder Ansatzes der historischen Politikforschung durchaus unter Beweis stellte und darüber hinaus schlaglichtartig neue Möglichkeiten erkennen ließ.
Konferenzübersicht:
Ingrid Gilcher-Holtey / Willibald Steinmetz (Bielefeld): Welcome and Introduction
Section I: Violence – Pre-Political, Anti-Political, or Political?
Chair: Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld)
Freia Anders (Bielefeld): The Limits of the Legitimate: The Quarrel over “Violence” between Autonomous Groups and the Authorities
Alain Dewerpe (Paris): Is State Murder a Political Event? Some Reflexions from the 8 February 1962 Massacre at the Charonne Metro, Paris
Comment: Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld)
Section II: Boundary Disputes: The Political and Other Spheres
Chair: Alexander M. Semyonov (St. Petersburg)
Christoph Gusy (Bielefeld): The Laws – Basis and Object of Political Communication
Kirsten Bönker (Bielefeld): ”Money, Money, Money”: Contested Boundaries? Money, Consumption, and Politics in the Late Soviet Union
Matthias Pohlig (Münster): Internal and External Boundaries: Early Modern Politics Revisited
Comment: Willibald Steinmetz (Bielefeld)
Section III: The Politics of Leadership
Chair: Michael Freeden (Oxford)
Paolo Pombeni (Bologna): The Word of a Leader: The Problem of How to Shape the Public Space in 19th and 20th Century European Politics
Comment: Thomas Mergel (Berlin)
Section IV: Visual Dimensions of Political Communication
Chair: Pasi Ihalainen, Jyväskylä
Eveline Bouwers (Bielefeld): The Culture of Religious Violence in Post-Separation France: The Case of Brittany, 1906-1912
Bettina Brandt (Bielefeld): Writing Political History after the “Iconic Turn”
Comment: Peter Geimer (Berlin)
Section V: Roundtable: The ”New” Political History – and beyond?
Chair: Willibald Steinmetz (Bielefeld)
Participants: Thomas Mergel (Berlin), Henk te Velde (Leiden), Luise Schorn-Schütte (Frankfurt am Main), Frank Trentmann (London)
Anmerkungen:
1 Als wichtigste Impulse für die Debatte sei verwiesen auf die einschlägigen Aufsätze von: Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 9-24.
2 Ute Frevert, Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: dies. / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte (= Historische Politikforschung, 1), Frankfurt am Main 2005, S. 7-26.
3 William J. Thomas Mitchell, What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, London 2005, S. 345.