August Boeckh in Berlin. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik (1811–1867)

August Boeckh in Berlin. Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik (1811–1867)

Organisatoren
Anne Baillot; Christiane Hackel; Colin King; Thomas Poiss; August-Boeckh-Antikezentrum
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.11.2011 - 18.11.2011
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Von
Julia Doborosky, Berlin

Die Tagung widmete sich der wissenschaftlichen Arbeit des Philologen, seinen Erkenntnissen und Impulsen auf den Gebieten der Hermeneutik, Klassischen Philologie, Wissenschaftsgeschichte und Historischen Geographie. Zwölf Vorträge näherten sich der Person Boeckhs als Wissenschaftler sowie seinem umfangreichen, aber bislang wenig erforschten Nachlass.

Mit der Einrichtung eines philologischen Seminars an der Berliner Universität und seinen langjährigen Vorlesungen über "Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften" setzte Boeckh wichtige Akzente in der Berliner Gelehrtenwelt und erlangte über die Stadt hinaus den Ruf eines herausragenden Philologen. Durch seine Tätigkeit an der Berliner Akademie der Wissenschaften, an welcher er als Sekretär fungierte, übte er sowohl auf den geisteswissenschaftlichen wie auch auf den wissenschaftspolitischen Betrieb Einfluss aus.

Im Eröffnungsvortrag ging ANNE BAILLOT (Berlin) auf die Ergebnisse der Erschließung der in Berlin erhaltenen Handschriften Boeckhs ein. Dabei identifizierte sie drei Baustellen: 1) die Verfeinerung der Korrespondenz-Erschließung, 2) die Rekonstruktion der Boeckhschen Bibliothek, die den Beständen der Humboldt-Universitätsbibliothek einverleibt wurde, 3) die Neu-Edition von Boeckhs Encyklopädie nach der Handschrift. Dabei unterstrich sie die Notwendigkeit einer digitalen Erfassung der Arbeitsergebnisse in diesen drei Feldern.

Der Beitrag von SABINE SEIFERT (Berlin) behandelte die Gründung von Boeckhs erfolgreichem philologischen Seminar an der Berliner Universität 1812, für den bislang nicht ausgewertete Archivmaterialien herangezogen wurden. Durch den Vergleich der Statuten des Seminars mit einem bisher nicht veröffentlichten Vorentwurf von Boeckh selbst sowie durch die Untersuchung der Jahresberichte zeigten sich die Freiheiten, die er sich als Direktor des Seminars nehmen konnte, aber auch die Kompromisse, die er gegenüber dem vorgesetzten Kultusministerium eingehen musste. Zudem lassen sich politische Stellungnahmen ablesen, wenn Boeckh zum Beispiel während der Befreiungskriege Seminaristen, die sich freiwillig zu den Waffen meldeten, mit Prämien unterstützte.

Der Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und August Boeckh stand im Mittelpunkt des Vortrags von ROMY WERTHER (Berlin). Anhand dieser Korrespondenz wurden die ähnlichen wissenschaftlichen Herangehensweisen, ihre wissenschaftspolitischen Kooperationen sowie die gegenseitige Inspiration zu eigenen Forschungen beleuchtet. Während Humboldt sich von Boeckh im Bereich der antiken Kultur beraten ließ (Fragen der Geographie über Astronomie bis hin zum Gartenbau), profitierte Boeckh vom politischen Einfluss des Naturwissenschaftlers und Weltreisenden, der die Gunst des Königs genoss. Der freundschaftlich-kollegiale Kontakt endete mit dem Tod Humboldts, und in seiner Eloge auf diesen "Mentor der Wissenschaften" wird noch einmal deutlich, wie groß das Verständnis und die Wertschätzung Boeckhs für seinen Mitstreiter an der Akademie der Wissenschaften war.

In ihrem Beitrag stellte JUTTA WEBER (Berlin) die Boeckh-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin-PK vor, dabei deren enge Verquickung mit anderen Nachlässen unterstreichend. Sie setzte sich für eine Bearbeitung dieser Bestände als ein Ganzes ein, anhand derer sich die Berliner Intellektuellennetzwerke am Anfang des 19. Jahrhunderts rekonstruieren lassen. Auch sie betonte die Bedeutung einer digitalen Erfassung in Zusammenarbeit zwischen bestandshabenden Institutionen und Wissenschaftlern.

CHRISTIANE HACKEL (Berlin) berichtete über den derzeitigen Stand und die anvisierte Fertigstellung des Projektes der historisch-kritischen Neuedition von Boeckhs Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, das 1987 von Klaus Grotsch begonnen wurde, aber bisher nicht beendet werden konnte. Dabei stellte sie insbesondere den Mehrwert heraus, den die neue Edition gegenüber der von Ernst Bratuscheck besorgten, 1877 erschienen Edition haben wird. Die Teilnehmer/innen der Tagung waren sich darin einig, dass eine solche historisch-kritische Edition für die Forschung nach wie vor ein Desiderat darstellt und begrüßten die beabsichtigte Fertigstellung. Die nachfolgende Diskussion entzündete sich vor allem an der Frage der Gestaltung des Sachkommentars und der Möglichkeit einer zur klassischen Printedition parallel zu veranstaltenden digitalen Edition.

WILFRIED NIPPEL (Berlin) begann mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung von Boeckhs "Staatshaushaltung der Athener" und fragte zunächst nach Boeckhs Anstoß und Vorbildern für diese 1817 erschienene Darstellung des athenischen Finanzsystems. Diese sei von Boeckh eigentlich als Vorstudie zu der von ihm beabsichtigten, aber nie ausgeführten Gesamtdarstellung des griechischen Lebens konzipiert worden. Daran anschließend wurde die Rezeption dieses Werkes bis hin zu Karl Marx und Friedrich Engels sehr anschaulich nachgezeichnet. Zuletzt thematisierte der Vortrag Boeckhs Wirken an der Akademie der Wissenschaften und seinen Einfluß auf eine Umstrukturierung dieser Institution von einem Debattierklub hin zur Arbeit mit groß angelegten Forschungsprojekten, wie es das von ihm initiierte Projekt zur Sammlung aller griechischen Inschriften war. Für solche Fragestellungen, wie die in diesem Vortrag aufgeworfene Frage danach, was Boeckh tatsächlich rezipiert habe, ohne dass er es vielleicht explizit benenne, könnte dann tatsächlich die im Vortrag von Anne Baillot anvisierte Rekonstruktion von Boeckhs Bibliothek sowie die in der Encyklopädie-Neuedition vorgesehene Gesamtbibliographie hilfreich sein.

AXEL HORSTMANN (Hannover) widmete sich Boeckhs beständigem Plädoyer für freie Wissenschaft und Lehre. Der Einfluss von Aristoteles und Platon auf Boeckhs Vorstellung von Freiheit und Selbstzweck der Wissenschaft wurde thematisiert sowie die sich daraus ergebenden Probleme diskutiert. Nicht selten zeigte sich Boeckhs Vorgehen als Gratwanderung zwischen staatsloyaler Haltung und dennoch heftigen Reaktionen bei Angriffen auf die Wissenschaft. Des Weiteren wurde auf die unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe "Bildung" und "Wissenschaft" hingewiesen, deren semantische Entwicklung zu Boeckhs Lebzeiten für eine angemessene Bewertung der diskutierten Aspekte berücksichtigt werden müsse.

Der Vortrag von SOTERA FORNARO (Sassari) widmete sich den Vorgängern Boeckhs auf dem Gebiet der philologischen Propädeutik, indem er das Genre der "Einleitung in das Studium der Antike", dem auch Boeckhs Encyklopädie zuzurechnen ist, problematisierte. Ausgehend vom Begründer der Altertumswissenschaft Christian Gottlob Heyne (1729–1812) spannte Fornaro einen Bogen über Friedrich Creuzer (1771–1858) und Friedrich August Wolf (1759–1824), der für sich reklamierte, als erster eine „Encyklopädie“-Vorlesung auf dem Gebiet der Philologie gehalten zu haben, bis hin zu Boeckh. Dieser führte die komplementären Auffassungen des Faches von Heyne und Wolf zusammen. Deshalb und auch aufgrund eines Wandels des Wissenschaftsbegriffes nahm daraufhin das Genre der philologischen Fachenzyklopädie eine neue Gestalt an.

THOMAS POISS (Berlin) behandelte in seinem Beitrag die Untersuchungen Boeckhs zu Pindar, die im Rahmen seiner geplanten, doch nie geschriebenen griechischen Kulturgeschichte "Hellen" stehen. Boeckh klärte die Metrik der Gedichte und berührte mit der dadurch ausgelösten Textausgabe (1811–1821), die Textüberlieferung, antike Kommentare, lateinische Übersetzung und interpretierenden Kommentar umfasst, Fragen der Hermeneutik im Sinne Schleiermachers: Jedes Detail sei im Horizont der griechischen Welt und der Textgeschichte zu rekonstruieren. In theoretischer Kühnheit und praktischer Durchführung gebe es bis heute kaum Vergleichbares zu Boeckhs Pindar. Messe man Boeckhs Interpretationen zur 1. und 2. Pythie mit denen seines philologischen Kontrahenten Gottfried Hermann, so bewähre sich Boeckhs Methode am ersten Gedicht, beim zweiten verrenne sich aber die hermeneutische Rekonstruktion in Zirkelschlüsse.

Boeckhs Behandlung der historischen Geographie wurde im Vortrag von KLAUS GEUS (Berlin) thematisiert. In der „Encyklopädie“ hatte Boeckh der Geographie den Rang einer Grundlagenwissenschaft für die Altertumskunde zuerkannt. Entgegen den Auffassungen seiner Vorgänger teilte Boeckh die historische Geographie in die zwei Teilbereiche historische Landeskunde ("Geographie der Alten") und historische Geographie ("Geographie der alten Welt"). Aufgrund dieser Trennung, die von anderen Wissenschaftlern Bestätigung erfuhr, betrachtete sich Boeckh als Neuerer der historischen Geographie. Seine Kritik an antiken Geographen war jedoch mitunter teilweise unberechtigt und einzelne Fehlinterpretationen zogen sich viele Jahre durch seine „Encyklopädie“-Vorlesung. Dies lag vermutlich daran, so Geus, dass Boeckh mehr an der politischen Geographie als an der physischen interessiert war.

Der Beitrag COLIN KINGs (Berlin) behandelte unter anderem eine noch ungelöste Streitfrage der Wissenschaftsgeschichte der Antike betreffs der Deutung von Platons Timaios 40. Es bestand insbesondere die Frage, ob Platon den Pythagoreer Timaios die Rotation der Erde auf ihrer Achse annehmen lässt oder nicht. Boeckh hatte dies in einer frühen Schrift verneint, doch von Otto Friedrich Gruppe (1804–1876) wurde die Frage neu gestellt vor dem Hintergrund der sensationellen These, dass Platon der Urheber des heliozentrischen Modells des Kosmos gewesen sei. Hauptgegenstand des Vortrags bildeten Boeckhs Replik in einem Sendschreiben an Alexander von Humboldt sowie die Auseinandersetzungen um diese Frage in der englischsprachigen philosophiehistorischen Literatur nach Boeckh.

DENIS THOUARD (Berlin/Paris) hatte für seinen Vortrag die Bedeutung der Schleiermacherschen Ethik für Boeckhs Philologie-Konzeption herausgearbeitet. Während meist Schleiermachers Hermeneutik als Vorstufe von Boeckhs eigener Hermeneutik angesehen werde, wurden beide Ansätze als grundlegend verschieden bewertet und der Einfluss von Schleiermachers Ethik auf Boeckh betont. Beide Wissenschaftler hatten jedoch andere Ansprüche an ihre Konzeption der Hermeneutik: Bei Schleiermacher galt sie lediglich als Hilfsmittel für die Philosophie, Boeckh hingegen wollte mit ihr die Altertumswissenschaft als Disziplin philosophisch begründen. Skepsis wurde vom Auditorium dahingehend geäußert, ob dies Boeckh tatsächlich gelungen ist.

Ihren Abschluss fand die Tagung mit Kommentaren von GLENN MOST (Pisa) und JÜRGEN PAUL SCHWINDT (Heidelberg), die auch die gesamte Tagung, die durch ein sehr kollegiales und konstruktives Arbeitsklima bestimmt war, mit wichtigen Hinweisen und konstruktiven Fragen bereichert hatten. Most charakterisierte Boeckh als bedeutende symptomatische Übergangsfigur hinsichtlich der im 19. Jahrhundert stattfindenden Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und Spezialisierung der Philologie und betonte unter anderem noch einmal die in verschiedenen Beiträgen sichtbar gewordene Zwischenstellung Boeckhs als eines Protagonisten, der verschiedene Entwicklungen in Gang gebracht, diese aber aufgrund seiner Verhaftung in älteren Konzepten gleichzeitig auch gehemmt habe. Schwindt stellte noch einmal die Boeckhsche Encyklopädie in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und hob die nach wie vor von dieser ausgehende Faszination sowie ihr Potenzial für die Forschung hervor.

Wie so oft konnten leider nicht sämtliche durch die Vortragenden und das Plenum aufgeworfenen Fragen diskutiert werden, doch die angesprochenen Themen inspirierten alle Teilnehmer/innen zu einem konstrutiven Austausch über das Tagungsgeschehen hinaus. Besonders hervorzuheben ist meiner Ansicht nach das Interesse an einer detaillierteren Erschließung und Erforschung des Boeckhschen Nachlasses mit der Notwendigkeit, diesen einem möglichst breiten Publikum von Forschenden und Interessierten zugänglich zu machen. Wie wichtig hierbei auch das elektronische Medium, sprich die Digitalisierung von Nachlässen und anderen Archivbeständen ist, wurde nicht nur ausdrücklich im Rahmen der Tagung thematisiert, sondern auch implizit verdeutlicht.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch Aloys Winterling, geschäftsführender Direktor des August-Boeckh-Antikezentrums

Anne Baillot: Handschriftliches und Digitales von August Boeckh

Sabine Seifert: Das Philologische Seminar

Romy Werther: "Sie sind meine angenehmste Hülfe" – Der Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und August Böckh

Jutta Weber: Die Boeckh-Bestände der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Christiane Hackel: Zum Projekt der historisch-kritischen Edition der Boeckhschen Encyklopädie

Wilfried Nippel: Boeckhs Beitrag zur Alten Geschichte

Axel Horstmann: "Freie" Wissenschaft und politisch-gesellschaftliche Praxis aus Sicht August Boeckhs

Sotera Fornaro: Die "Einleitung in das Studium der Antike" von Heyne bis Boeckh

Thomas Poiss: Boeckh und Pindar

Klaus Geus: Boeckh und die (Historische) Geographie

Colin Guthrie King: "Erkenntnis des Erkannten": Boeckh als Wissens- und Wissenschaftshistoriker

Denis Thouard: Boeckh und die Hermeneutik

Abschlusskommentar: Glenn Most und Jürgen Paul Schwindt


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