Diesseits und jenseits des Holocaust. Aus der Geschichte lernen in Gedenkstätten

Diesseits und jenseits des Holocaust. Aus der Geschichte lernen in Gedenkstätten

Organisatoren
Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW); Verein GEDENKDIENST
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
15.09.2011 - 17.09.2011
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Von
Till Hilmar, Verein GEDENKDIENST, Wien

Welche Rolle haben Gedenkstätten in der Vermittlung eines für die globale Gesellschaft relevanten und handlungsleitenden Wissens über die Zeit des Nationalsozialismus?

Um diese Frage aus gedächtnistheoretischem und gedenkstättenpädagogischem Blickwinkel zu diskutieren, luden die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Verein GEDENKDIENST zu einer Fachtagung mit dem Titel „Diesseits und Jenseits des Holocaust. Aus der Geschichte lernen in Gedenkstätten“ nach Wien. Ähnlich wie in Friedländers Probing the Limits of Representation stand bei der Eröffnung die Annahme im Raum, dass wir es beim Holocaust mit einem Ereignis zu tun haben, das einer globalen Herangehensweise bedarf. Unklarheit herrscht allerdings nach wie vor darüber, wie diese „Universalisierung“ genau aussehen soll. Friedländer schrieb dazu schon im Jahr 1992, dass man den Holocaust als einzigartiges Ereignis verstehen mag oder nicht, dies jedoch entscheide nicht über die grundsätzliche Möglichkeit, universell gültige Aussagen darüber zu treffen. Jedoch benötige keine universelle Botschaft die Referenz zum eigentümlichen Bedeutungsüberschuss des Holocaust.1

Die Tagung bot einerseits einen Einblick in den state of the art der Gedenkstättenarbeit, also in die konkreten Herausforderungen der Vermittlungsarbeit am Ort, und war andererseits eine Kontroverse um den Universalisierungsanspruch. Über diesen Anspruch gelangen wir zur Diskussion der vier pädagogisch-didaktischen Ansätze der Holocaust Education, der Menschenrechtserziehung, der Genozidprävention und der negativen Erinnerung.2 Hier vermischen sich gewissermaßen historiografische Perspektiven mit dem Wunsch nach einem auf Nähe zu den Adressat/innen hinwirkenden pädagogisch-praktischen Handwerkszeug, und diese Spannung begleitete auch die gesamte Tagung. Sollen wir den Holocaust also universal und gleichzeitig in seiner Einzigartigkeit vermitteln? Können wir eine adressatenspezifische Bildungsarbeit für die Migrationsgesellschaft beanspruchen und doch mit dem Instrumentarium nationaler Vergangenheitsaufarbeitung vorgehen?

Das erste Panel „KZ-Gedenkstätten zwischen Geschichte und Gedächtnis“ eröffnete DAN DINER (Jerusalem/Leipzig) in einem digitalen Live-Vortrag mit der Position, dass der Vergleich des Holocaust mit den Verbrechen des Stalinismus durchaus legitim und sogar notwendig sei, sofern er die fundamentalen Unterschiede in der Art des Tötens beider Regime aufzeige: systematisch, tendenziell global und auf jeden Fall umfassend im Nationalsozialismus, im Stalinismus in erster Linie willkürlich. Universalisierung von Auschwitz heiße hier also, gerade die Besonderheit weltweit verstehbar zu machen. THOMAS LUTZ (Berlin) hielt die Angewiesenheit der Gedenkstättenarbeit auf ihren konkreten Referenzrahmen, auf Ort und Geschichte also, hoch. BERTRAND PERZ (Wien) stellte in seinem Vortrag über Mauthausen die historisch bedingte Vielschichtigkeit eines Gedenkortes näher vor. THOMAS SANDKÜHLER (Berlin) wendete die Frage des gesellschaftlichen Gedächtnisses hin zur zeitgeschichtlichen Forschung und ergründete hierin das Verhältnis zwischen Geschichte und Geschichtsdidaktik.

Das zweite Panel stieg unter dem Titel „Gegenwartsbezug und Orientierungen von Geschichtsvermittlung“ bereits direkt dort ein, wo sich die Geschichtsvermittlung an Gedenkstätten vermeintlich hinbegeben sollte. WERNER DREIER (Bregenz) wies in seinem Vortrag über Holocaust Education in Österreich auf eine Paradoxie des Gegenwartsbezugs hin: Viele Lehrer/innen unterrichteten im gegenwartsorientierten moralischen Schlussfolgern über die Vergangenheit oftmals auf Kosten der geschichtswissenschaftlichen Genauigkeit. In eine andere Richtung verlagerte DIRK MOSES (Florenz) die Frage nach den Orientierungen der Geschichtsvermittlung. Er argumentierte, dass es jüdische Denker aus der Zeit wie Raphael Lemkin oder Simon Wiesenthal waren, die einen generischen, also kategorischen Begriff des Genozids einführten. Dieser ziele auf Ähnlichkeiten, er solle mit historischen Bezügen zu anderen Massenverbrechen dabei helfen, ein Ereignis beschreiben zu können. In der anschließenden Diskussion wurde geschickt gekontert: Den Begriff des Genozids in einer österreichischen Schulklasse für den Holocaust anzuwenden, käme einem Weißwaschen der Vergangenheit gleich. Moses' Plädoyer jedoch, hier das Verhältnis zwischen Partikularem und Universellem neu zu denken, wurde im weiteren Verlauf der Tagung nicht weiter aufgegriffen. ANJA MIHR (Utrecht) wies in ihrem Beitrag auf die Eigenständigkeit der Menschenrechtserziehung und ihre Entwicklung als zivilgesellschaftliche Bewegung hin. Mihr stellte eine „Testfrage“ für all jene Programme der Holocaust Education, die sich die Menschenrechte auf die Fahnen schreiben: Inwiefern können sie zu einer aktiven sozialen Veränderung in der Gesellschaft beitragen, Menschenrechte schützen und Handeln ermöglichen? ASTRID MESSERSCHMIDT (Karlsruhe) wendete das Thema der Orientierungen von Geschichtsvermittlung hin zu den Bedingungen des Lernens. Als wesentlichen Kontext „für uns alle“ stellte sie den Begriff der Migrationsgesellschaft mit ihren diversifizierten Geschichtsbezügen heraus.

Das folgende Panel „Pädagogische Konzepte und Praxisformen“ rückte die spezifische Kommunikationssituation, mit der wir in der pädagogischen Praxis umgehen wollen und müssen, sowie die Rolle der Gedenkstättenpädagog/innen in den Vordergrund. YARIV LAPID (Mauthausen) leitete mit der Bemerkung ein, dass die Verwirrung dem Feld der Gedenkstättenarbeit anzumerken sei. Nach wie vor sei man versucht, angemessene Kategorien für die Vielzahl an unterschiedlichen Referenzrahmen – der historischen Akteure und der heutige Adressat/innen und Pädagog/innen – zu finden. MATTHIAS HEYL (Ravensbrück) thematisierte das „dünne Eis“, auf dem sich die Gedenkstättenpädagogik bewege, da in Bezug auf diese Geschichte sowohl Nähe als auch Distanz zu ihrem „pathologischen Kern“ schwer fallen müsse. Die Subjektperspektiven damals und heute gelte es von ihrem jeweiligen Klischee weitestgehend zu befreien, so sei es wichtig, die Vor- und Nachgeschichte von Häftlingen zu thematisieren. ALICJA BIAŁECKA (Oświęcim) gab einen Überblick über die verschiedenen Bedeutungen des Ortes Auschwitz heute. Hier trat insbesondere das Spannungsfeld des Ortes als universelles Symbol und als spezifischer Bezugspunkt von Gruppenidentitäten zutage. Mit einem Beitrag zur litauischen Erinnerung spannte RUTA PUISYTE (Vilnius) den Bogen wieder zurück zum Thema Geschichte und Gedächtnis. Am zweiten Tag der Konferenz wurde also die Skepsis des gedenkstättenpädagogischen Felds gegenüber den Ansätzen der Menschenrechtserziehung und der Genozidprävention deutlich. Die Ansätze von Lapid und Heyl zeigten eindrücklich, dass eine intelligente Gedenkstättenpädagogik nicht auf das latest update durch neue Betätigungsfelder angewiesen ist. Und wie Lutz betonte, ist die Mehrheit der Besucher/innen nur kurz vor Ort. Hier wurde allerdings versäumt zu diskutieren, inwiefern mehrtägige Programme Anknüpfungspunkte für gegenwartsbezogene Konzepte eröffnen. Denn es gilt zwar als allgemein anerkannt, dass Besucher/innen einiges von dem, was sie am Ort selbst erleben und erfahren – und vor allem auch die Modi der Aneignung des Ortes – in Form von Erwartungen dorthin mitbringen. Wie aber wirken sich beispielsweise gegenwartsbezogene Konzepte der Vorbereitung eines Besuchs auf diesen selbst aus?

Im letzten Panel „Holocaust zwischen Globalisierung und Gedächtniskonkurrenz“ wurde erneut die ‚Opferkonkurrenz‘ im Gedächtnis aufgeworfen. GÜNTER MORSCH (Sachsenhausen) eröffnete mit der These, dass Orte einer „zweifachen Vergangenheit“ die Zukunft der Debatte um Erinnerungskultur in Europa bestimmen werden. Er skizzierte die Vereinnahmungsstrategie des Erinnerungsortes Sachsenhausen seitens der Verbände der Opfer kommunistischer Verbrechen und den zweifelhaften Hintergrund der Forderung nach ‚gemeinsamem Gedenken‘. NORA STERNFELD (Wien) plädierte dafür, den Gegenwartsbezug nicht auf dem Papier, sondern in der Interaktion mit Adressat/innen der Bildungsprogramme zu entwerfen – denn es gehe darum, auch unerwartete Bezüge aufnehmen zu können. Der vieldiskutierte Beitrag zeigte, wie stark das Bedürfnis nach konzeptuellen und theoretischen Hinweisen für eine Arbeit ist, die die Distanz zwischen den VermittlerInnen und den AdressatInnen zu überbrücken in der Lage ist – eine Distanz, die von vielen mehr als Globalisierungs- denn als Generationenproblematik identifiziert wird. GILAD MARGALIT (Haifa) beleuchtete mit seinem Beitrag einige Aspekte des Umgangs mit der Shoah in der israelischen Mediengesellschaft. HEIDEMARIE UHL (Wien) ging in ihrem Abschlussvortrag insbesondere auf einen Aspekt der Universalisierung ein, nämlich die Semiotik der Viktimisierung: Der Holocaust lasse sich als Zeichensprache einsetzen, die der jeweiligen eigenen Leidensgeschichte eine herausstehende Bedeutung verleihe. Sie warnte vor solchen Tendenzen und regte für die Bildungsarbeit das Konzept des „negativen Erinnerns“ als Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der jeweils eigenen Gesellschaft – Antisemitismus, Rassismus und Geschichtspolitik – als sinnvollen Weg an.

Dem Anliegen, potentielle Konzepte der Gedenkstättenarbeit und ihre gedächtnistheoretische Fundierung zu konstrastieren, wurde die Tagung in ganz anregender Weise gerecht. Eine Spannung bleibt aufrecht zwischen dem in den meisten Vorträgen geäußerten und begründeten Willen, der „Konkretheit“ des Gegenstands – vor allem im Medium Ort – Rechnung zu tragen, und trotzdem der Realität der heutigen Migrationsgesellschaft in der Bildungsarbeit gerecht zu werden. In Zukunft wird man sich noch eingehender mit der Frage beschäftigen müssen, was jeweils unter der Abstraktion vom historischen Ort zu verstehen ist: Unter welchen Bedingungen, mit welcher Zielsetzung wird sie jeweils vorgenommen?

Konferenzübersicht:

Sektion 1: KZ-Gedenkstätten zwischen Geschichte und Gedächtnis

Dan Diner (Leipzig/Jerusalem): Über die Not des Vergleichs. Über Holocaust, Genozid und andere Massenverbrechen

Thomas Lutz (Berlin): Lernen aus der Geschichte in Gedenkstätten

Bertrand Perz (Wien): Die Transformation der Orte: Die Entwicklung der KZ-Gedenkstätten – Mauthausen im internationalen Kontext

Thomas Sandkühler (Berlin): Gedenkstättenpädagogik im Spannungsfeld von Geschichte und Gedächtnis

Sektion 2: Gegenwartsbezug und Orientierungen von Geschichtsvermittlung

Werner Dreier (Bregenz): Holocaust Education – Über den Holocaust lernen. Anmerkungen aus österreichischer Perspektive

Dirk Moses (Florenz): Holocaust and Genocide

Anja Mihr (Utrecht): Holocaust Education is not a global Human Rights Education concept

Astrid Messerschmidt (Karlsruhe): Migrationsgesellschaftliche Beziehungen zum Nationalsozialismus – instrumentalisierungskritische Perspektiven für die Bildungsarbeit in Gedenkstätten

Sektion 3: Pädagogische Konzepte und Praxisformen

Matthias Heyl (Ravensbrück): »Auf der schiefen Ebene gibt es kein Halten« – von der schwierigen Balance gedenkstättenpädagogischer Arbeit an den Orten nationalsozialistischer Massenverbrechen am Beispiel Ravensbrück

Yariv Lapid (Mauthausen): »Was hat es mit mir zu tun?« Das Vermittlungskonzept an der Gedenkstätte Mauthausen

Alicja Białecka (Oświęcim): Remembrance, Awareness, Responsibility – Educational Philosophy of the Auschwitz-Birkenau State Museum

Ruta Puisyte (Vilnius): Past, present and future of the Holocaust memorial sites in Lithuania

Sektion 4: Der Holocaust zwischen Globalisierung und Gedächtnis-Konkurrenz

Günter Morsch (Sachsenhausen): Opferkonkurrenz? Gedenken und Erinnern an Orten zweifacher Vergangenheit in Deutschland

Nora Sternfeld (Wien): Gedenkstätten als Kontaktzonen. Erfahrungen eines Wiener Projekts.

Gilad Margalit (Haifa): Das Gedächtnis der Shoah in Israel: Die Praxis des main stream, Kritik, alternative Konzepte

Heidemarie Uhl (Wien): Holocaust-Erinnerung zwischen Globalisierung und negativem Gedenken

Anmerkungen:
1 Saul Friedländer, Introduction, in: Ders., Probing the Limits of Representation. Nazism and the “Final Solution”, Cambridge/London 1992, S. 1-21, hier: S. 19.
2 Vgl. zu diesem Ansatz die Texte von Volkhard Knigge, insbesondere: Volkhard Knigge, Statt eines Nachworts: Abschied von der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen Erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002.


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