Wie schreibt man eine intellektuelle Biographie aus dem Archiv?

Wie schreibt man eine intellektuelle Biographie aus dem Archiv?

Organisatoren
Martin Mulsow, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt; Ulrich Raulff, Deutsches Literaturarchiv Marbach
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2012 - 24.02.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne-Simone Rous, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt

Die Eigenheiten der archivbasierten Biographie waren Thema einer vom Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach veranstalteten Tagung. Der Bogen spannte sich von Einblicken in laufende Projekte über die Erfahrungen erfolgreicher Biographen bis zu einer praxisorientierten Methodendiskussion. Die Zusammenstellung der sechs Beiträge zu Personen des 18. bis 20. Jahrhunderts reichte über disziplinäre Grenzen hinweg und bot eine farbige, abwechslungsreiche und anregende Tagung. Es kristallisierte sich als Kernfrage heraus, welche Erwartungen der biographische Ansatz erfüllen kann und was er heutzutage leisten muss. Auch die Wechselwirkung von Quellenlage, Forschungsstand und öffentlichem Bild des historischen Subjekts wurde immer wieder thematisiert.

MARTIN MULSOW und ASAPH BEN-TOV (beide Gotha) berichteten von der Erforschung des Helmstedter Orientalistik-Professors Hermann von der Hardt (1660-1746). Dieser als Vorläufer der historisch-kritischen Bibelexegese bekannte Wissenschaftler war in seiner Exzentrik ein schillernder Vertreter des barocken Gelehrten, ein deviantes Genie. Seine Beschäftigung mit Akronymen, Emblemen, Jubiläen, Sprachakrobatik und Symbolik überstieg das gewöhnliche Maß. Die Biographen müssen sich somit der Frage stellen, ob bei von der Hardt Begabung oder Zwanghaftigkeit vorlag. Die Inspiration durch jüdische Praktiken und barocke Zahlenspielereien erklären kaum die intensive Beschäftigung mit Enigmata besonders nach seiner Zwangsemeritierung. Martin Mulsow wagte sich an eine psychiatrische Deutung und fand bei dem Gelehrten durch Zeitzeugenberichte und Tagebuchaufzeichnungen mehrere Indizien, die für das Asperger-Syndrom sprechen. Im Anschluss wurde die Pathologisierung als Methodenproblem der Biographie ebenso diskutiert wie die Herausforderungen, eine beschriebene Person aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

So wäre Gottfried Wilhelm Leibniz, wie NORA GÄDEKE (Hannover) vom Leibnizarchiv herausstellte, über die Edition aller seiner Papiere wenig erfreut gewesen, die er als Ablage hinterließ und die den Biographen nun als Überrest bzw. Leibniz‘ „Festplatte“ überliefert wurden. Allerdings gelingt durch diesen unfreiwilligen Nachlass den Editoren nun die Einordnung des letzten Universalgelehrten in das soziale Netz seiner Zeit und ermöglicht einen von der wissenschaftlichen Leistung unverstellten Blick auf den Menschen Leibnitz. Gädeke gab aufschlussreiche Beispiele dafür, wie die Katalogisierung und Kontextualisierung eine Rekonstruktion der Datierung und der doppelbödigen Texte ermöglicht und dass eine bislang unbekannte Reise des Wissenschaftlers nach Wien im Frühsommer 1701 erst bei der Edition des Briefwechsels entdeckt wurde. Gleichfalls wurde deutlich, wie Leibniz sein interkonfessionelles und internationales Netzwerk nutzte, um seine Quellensammlung zu erweitern und dass der Austausch auch als Camouflage politischer Interessen genutzt wurde.

Der Golo-Mann-Biograph TILMANN LAHME (Göttingen) stellte vor dem Hintergrund seiner Beratertätigkeit für den Suhrkamp-Verlag neun Thesen zum Genre der Biographie auf und nahm gleich die „intellektuelle Biographie“ als Etikettenschwindel aufs Korn. Lahme diagnostizierte, dass es für das Sachbuch kaum geeignete Autoren gäbe, da Wissenschaftler den leserfreundlichen Schreibstil und Journalisten die nötige Archivrecherche vermissen ließen. Er plädierte für eine „ausgeruhte“ Biographie von Autoren, die sich dem Individuum mit Interesse aber ohne wirtschaftliche Abhängigkeit annähern und den erschlagenden Erwartungen standhalten könnten. Auch tauge die Biographie nicht zur Qualifikationsschrift, da sie Mut zu unkonventionellen Erzählformen und wissenschaftlicher Innovation brauche. Der populärwissenschaftlichen Biographie komme mithin eine Brückenfunktion zwischen Universitäten und Bürgertum zu.

Gleichermaßen Kritik am Buchmarkt übte JENS MALTE FISCHER (München), der die Orientierung an Gedenktagen hoher Persönlichkeiten als „Jubilitis“ bezeichnete. Für Biographien seien vielmehr Empathie und Sympathie die Voraussetzung. Die Quellenfülle, der er z.B. bei Karl Kraus gegenüberstand, mache eine Auswahl erforderlich, die Leben und Werk, soweit möglich, gleichberechtigt behandle. Oft entspräche das Bild der Öffentlichkeit nicht der Realität, die der Biograph mit einer differenzierten Darstellung widergeben sollte. So müsse die Vorstellung von Wien um 1900 gründlich revidiert werden. Aus seiner Erfahrung mit Gustav Mahler und Karl Kraus heraus empfahl er, das Privatleben dem Leser nur „in homöopathischen Dosen“ zu verabreichen.

Die Rückwirkung biographischen Wissens auf die Lesart eines Werkes erläuterte WOLFGANG MATZ (München) am Beispiel einer „literarischen Flaschenpost“. Wenn ein kurzes Gedicht ohne Wissen über den Autor zu interpretieren wäre, käme eine andere Auslegung zustande, als wenn der Autor Goethe bekannt wäre. Zugleich warf Matz die Frage auf, inwieweit die äußeren Bedingungen tatsächlich in das künstlerische Werk einfließen würden und warnte vor einer Überinterpretation aus der ex-post-Perspektive. Vielmehr müsse dem Rezipienten die Rolle als Katalysator zufallen, der die Verzahnung von Leben und Werk ebenso leisten könne wie eine eigene Bewertung der Person. Voraussetzung sei, dass der Biograph die Inhalte in einen sauberen Zusammenhang gebracht habe. Die diffizile Quelleneinordnung bearbeiteter oder originaler Tagebücher als literarisches Werk oder Lebenszeugnisse führe oft zu einer folgenreichen Verwechslung der Genres. Die von ihm angesprochene nötige Diskretion des Biographen gegenüber intimen Details wurde angesichts des verbreiteten Voyeurismus und der Forderung nach größtmöglicher Nahaufnahme des Subjekts von den Tagungsteilnehmern eingehend diskutiert.

Im abschließenden Vortrag legte GUIDO NASCHERT (Gotha) den Widerspruch zwischen Forschungslage und idealer Biographie offen. Der von ihm bearbeitete „junge Schlegel“ sei geistesgeschichtlich bislang überhaupt nicht erforscht worden, so dass Naschert seine Studien ohne biographische Tradition und Edition leisten müsse. Er arbeitete heraus, dass Schlegel im Kontext des Zeitgeistes besser als Enthusiast denn als Ironiker zu fassen wäre. Mit Hinblick auf die Lebensgeschichte des Philosophen seien die Kompromissstrategien der Familie in seiner Auseinandersetzung mit der Radikalaufklärung wieder auffindbar. Auch würden Schlegels Techniken der Ideenfindung und sein problemlagenorientiertes Denken durch den biographischen Zugang transparenter.

Die Konferenz warb für die Möglichkeiten des Genres der Biographie, machte aber auch deutlich, welchen Herausforderungen sich moderne Biographen stellen müssen. Die verschiedenen vorgestellten Forschungskulturen ließen einen weiten Blick auf das Themenfeld zu, auch wenn die Untiefen der Archivrecherche nur selten angesprochen wurden. Eine vertiefende Tagung zu den besonders diskutierten Aspekten wie der Psychologisierung oder der Ethik des Biographen wäre wünschenswert. Inwieweit die Anregungen Früchte tragen werden, wird sich bei dem Interesse an dem von Tilmann Lahme erwähnten neuen Golo-Mann-Preis für unterhaltende Geschichtsschreibung zeigen.

Konferenzübersicht:

Martin Mulsow / Asaph Ben-Tov (Gotha): Barocker Geist oder Verrückter? Ein Helmstedter Theologe als Liebhaber von Akronymen, Rätseln und Geheimschriften

Nora Gädeke (Hannover): Große Erzählung und ungeleerter Papierkorb. Gottfried Wilhelm Leibniz zwischen Hofdienst und Gelehrtenrepublik im Lichte der Quellen

Tilmann Lahme (Göttingen): Im Gegenlicht. Anmerkungen zur Biographie

Jens Malte Fischer (München): „Wien, Wien, nur Du allein“. Erfahrungen beim biographischen Schreiben über Gustav Mahler und Karl Kraus

Wolfgang Matz (München): Gespannte Verhältnisse. Literatur, Literaturwissenschaft und Biographie

Guido Naschert (Gotha): Konstellationsforschung und intellektuelle Biographie. Überlegungen zu ihrer Komplementarität am Beispiel Friedrich Schlegel