Gefühlsräume – Raumgefühle. Zur Verschränkung von emotionalen Praktiken und Topografien der Moderne

Gefühlsräume – Raumgefühle. Zur Verschränkung von emotionalen Praktiken und Topografien der Moderne

Organizer(s)
Rainer Herrn, DFG-Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“; Benno Gammerl, Forschungsbereich Geschichte der Gefühle, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
10.01.2013 - 11.01.2013
Conf. Website
By
Benno Gammerl, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin; Rainer Herrn, Institut für Geschichte der Medizin, Charité, Berlin

Die emotionshistorische Forschung hat bisher häufig mit der Bourdieu’schen Begrifflichkeit der emotionalen Praxis operiert und danach gefragt, wie sich historische Aktricen und Akteure Gefühlsmuster habituell aneigneten oder wie ihnen diese eingeprägt wurden. Dabei geriet der transitorische Zusammenhang zwischen Emotionen und den Räumen, in denen sie sich ereigneten und ereignen, sowie generell die Raumgebundenheit von Gefühlen ein wenig aus dem Blick. Deswegen luden Rainer Herrn von der DFG-Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ und Benno Gammerl vom Forschungsbereich Geschichte der Gefühle des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin Forscher_innen zu einem Workshop ein, um an historischen und aktuellen Beispielen aus soziologischer, ethnologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive folgende Fragen zu diskutieren: Wie interagieren Raumstrukturen und -vorstellungen mit emotionalen Mustern und Praktiken? Welche Konvergenzen, Ambivalenzen und Widersprüche bringt dieses Wechselspiel hervor und auf welche Weise lassen sich die dabei entstehenden Dynamiken analytisch wie empirisch fruchtbar machen?

In den Präsentationen und den lebhaften Debatten kristallisierten sich vier besonders spannende Fragenkomplexe heraus, die wir hier eingehender erörtern möchten: Erstens, welche Raumkonzepte eignen sich besonders für eine Analyse der Interaktionen zwischen Räumlichkeit und Emotionalität? Zweitens, verfestigen oder destabilisieren Raumgefühle und Gefühlsräume soziale Asymmetrien und Hierarchien? Drittens, erweist sich die empirische Konzentration auf konkrete Praktiken als förderlich? Und viertens, wie können wir uns wissenschaftlich mit Gefühlen auseinandersetzen, ohne deren begrifflich nicht eindeutig fassbare Dimensionen auszublenden?

Zunächst also zu den Raumbegriffen. Der Workshop selbst folgte einer raumtypologischen Gliederung, die mit Arenen, Rändern, Refugien und Passagen emotional gefärbte Situationen ins Zentrum stellte. Andere räumliche Differenzierungen, die ebenfalls mit spezifischen Gefühlsregistern verknüpft sein können, fanden dagegen nur wenig Beachtung. Das gilt zum einen für die Differenz zwischen Stadt und Land. Vermutlich wegen der Fokussierung des Workshops auf die Moderne beschäftigten sich die Papiere vornehmlich mit urbanen Phänomenen. Das gilt zum anderen auch für die Unterscheidung von öffentlichen und privaten Sphären, deren Nicht-Thematisierung HABBO KNOCH (Göttingen) in seinem Kommentar ansprach. Eingehendere Überlegungen zum Raumbegriff präsentierte JAN HUTTA (Berlin), der ambivalente Geborgenheitsvorstellungen in ihrer Historizität untersuchte und dabei ein zwischen subjektiven und relationalen Dimensionen changierendes und damit den Emotionen nicht unähnliches Raumkonzept skizzierte. INGO LANDWEHR (Berlin) betonte dagegen stärker die Bedeutung medialer Inszenierungen bei der Verknüpfung von Räumen und Gefühlen, indem er die filmische Umwertung des Fußgängertunnels von einer verkehrstechnischen Sicherheitslösung zum klaustrophobischen Bedrohungsszenario nachzeichnete. Einige Beiträge setzten sich auch explizit mit raumtheoretischen Ansätzen auseinander. Das von BENNO GAMMERL und RAINER HERRN (beide Berlin) in ihrer Einführung vorgeschlagene Modell Henri Lefebvres, der die Raumproduktion analytisch in alltäglich-praktische, planerisch-repräsentative und symbolisch-imaginative Dimensionen unterteilt, wurde dabei in verschiedene Richtungen ergänzt. Während JULIA WEBER (Berlin) in ihrem Kommentar die Vorzüge des stärker praxeologischen Raumkonzepts Michel de Certeaus hervorhob, brachte MARIE-THERESE MODES (Kassel) in ihrer Studie zur Wahrnehmung behinderter Hotelangestellter durch Hotelgäste Gernot Böhmes phänomenologischen Atmosphärenbegriff ins Spiel. Dieses Konzept verknüpft Emotionalität und Räumlichkeit aufs engste miteinander, allerdings kann seine relative Unbestimmtheit auch Probleme bereiten. Letztlich blieb die Frage offen, mit welchem Raumbegriff sich die Wechselwirkungen zwischen Räumlichkeit und Emotionalität am besten erhellen ließen.

Zweitens, zum Verhältnis zwischen Räumen, Gefühlen und sozialen Ungleichheiten. Die politische Qualität von Gefühlsräumen und deren Potential, Machtstrukturen zu de/stabilisieren, betonte CHRISTINA LUTTER (Wien) in ihrem Kommentar. GABRIELE DIETZE (Berlin) beschrieb in diesem Sinn die „affektive Topologie“ der Berliner Expressionisten als ein räumliches Netzwerk, das sich zwischen lyrischen Raumimaginationen, unterschiedlichen Schreiborten, Kaffeehausbohème und Dichterlesungssälen entfaltete und eine avantgardistische Verunsicherung dominanter Männlichkeitsmuster ermöglichte. BEATE BINDER (Berlin) betonte in ihren Anmerkungen dazu, dass auch die Stadt selbst, also das expressionistische Berlin, als Koproduzentin sich wandelnder Interaktionsräume aktiv an dieser Verunsicherung etablierter Geschlechtermodelle beteiligt war. STEFAN WELLGRAF (Berlin) hob dagegen stärker hervor, dass Gefühlsräume in ambivalenter Weise bestehende Strukturen nicht nur unterwandern, sondern auch festigen können. Anhand zweier prekärer Orte, dem Jobcenter und der Hauptschule, zeigte er, wie bereits deren Räumlichkeiten Chancenlosigkeit und soziale Ausgrenzung hervorbringen. Gleichzeitig, so Wellgraf, ermögliche eine Ghetto-Rhetorik ihren Protagonisten auch einen Gestus affirmativer Affektivität, der zumindest imaginäre Handlungspotentiale freisetze. Als ähnlich zwiespältig beschrieb CHRISTIANE REINECKE (Hamburg) das Verhältnis zwischen Stadträndern und „Randgruppen“. Anhand des Märkischen Viertels im Norden Berlins untersuchte sie, wie vor allem wissenschaftliche, politische und publizistische Akteure aus dem linksliberalen Spektrum die Hochhaussiedlung zu einem Ort sozialer Deklassierung stilisierten. Dadurch wollten sie die Ängste der Bewohner_innen in gesellschaftliches Engagement umwandeln, blendeten aber letztlich die Vielfalt der vorhandenen soziale und emotionalen Lagen aus, die von Monotonie über Protest gegen Mieterhöhungen bis zu nachbarschaftlicher Solidarität reichten.

Drittens, zur Konzentration auf konkrete Räume und Handlungen. Mit ihrem Vorschlag, sich bei der Untersuchung von Gefühlsräumen und Raumgefühlen zunächst auf anschauliche und praktische Phänomene jenseits diskursiver Zuschreibungen zu konzentrieren, lösten die Veranstalter eine spannende Debatte aus. Ist die Fokussierung auf konkrete Praktiken hilfreich bei der Erschließung neuer Forschungsperspektiven, oder verbirgt sich dahinter ein irrführender Konkretionsfetisch? JOACHIM HÄBERLEN (Berlin) betonte in seinen Ausführungen zur emotionalen Kälte des Urbanen in den 1970er- und 1980er-Jahren die analytische Untrennbarkeit von Diskursen und Praktiken. Einerseits sei die Neue Linke an der diskursiven Herstellung der betonierten Stadt als gefühlskaltem Raum beteiligt gewesen, andererseits habe sie gleichzeitig mit vielfältigen Praktiken – von Straßenprotesten über die Schaffung kommunikativer Zwischenräume bis zur Gründung von Landkommunen – versucht, diese Kälte durch aktives Handeln zu überwinden. JOSEPH BEN PRESTEL (Berlin) zeigte in seinem Vergleich städtebaulicher Modernisierungsschübe um 1900 in Kairo und Berlin ebenfalls, wie eng und wie widersprüchlich diskursive Ordnungen und praktische Nutzungen ineinander greifen können. In Berlin führte die Auflösung eines Quartiers mit lebhafter weiblicher Prostitution beispielsweise dazu, dass die Sexarbeiterinnen auf die bürgerliche Flaniermeile der Friedrichstraße auswichen und so die Polizei vor die schier unlösbare Aufgabe stellten, zwischen der respektablen Praxis des Flanierens und der verwerflichen des auf-den-Strich-Gehens zu unterscheiden. Uneindeutigkeiten und fließende Übergänge betonte auch KLARA LÖFFLER (Wien) in ihrer Untersuchung von neuen Räumen der Dienstleistungsarbeit zwischen öffentlicher Zurschaustellung und privater Unsichtbarkeit. Obwohl der neoliberale Diskurs – so könnte man vereinfachend sagen – Transparenz propagiert, wird der Schreibtisch in der Praxis dennoch häufig schon kurz nach der Eröffnung eines Büros wieder vom Schaufenster weg- in die dunklere „Geborgenheit“ des hinteren Ladenlokals geschoben.

Damit schließlich, viertens, zur Frage nach den nicht eindeutig fassbaren Dimensionen des Emotionalen. Wie können wir es vermeiden, Gefühle und Affekte um ihr jenseits der sprachlichen Eindeutigkeit liegendes Potential zu verkürzen, nur um sie wissenschaftlich handhabbar zu machen? Welche Rolle spielen dabei Körper, Dinge und andere Phänomene, die die Grenzen der Intelligibilität markieren können? Einen kurzen Blick auf diese Zwischensphäre des Unbestimmten warf SYLKE KIRSCHNICK (Berlin) in ihren Überlegungen zu Zirkusgefühlen. Ihre Interpretation von Franz Kafkas Erzählung „Auf der Galerie“ unterschied zwischen dem inneren erlebten Raum und dem äußeren Erlebnisraum, die durch das Weinen des Protagonisten miteinander vermittelt, jedoch nicht zur Deckung gebracht würden. Diese Inkongruenz zerreiße, so Kirschnick, die Figur des Zirkusbesuchers, der dadurch ebenso im Unklaren über seine Gefühle bleibe wie die Lesenden. Diesen Gedankengang führte BEATRICE MICHAELIS (Gießen) im Kommentar – das Zirkus-Motiv aufgreifend – weiter, indem sie darauf verwies, dass Gefühle permanent zwischen Domestizierung und Ausbruch, zwischen Humanisierung und Dehumanisierung oszillierten. In eine ähnliche Richtung verwies schließlich auch SABINE FASTERT (Berlin) in ihrer Untersuchung des Ekstatischen beim Expressionisten Ludwig Meidner. Im barocken Kirchenraum wie in der modernen Großstadt habe dieser etwas Pathetisches, fast besinnungslos Ekstatisches entdeckt und aufgesogen, das er allerdings lediglich im leidenschaftslosen Zustand künstlerisch fassen und beschreiben konnte. Unter Umständen könnte sich diese seltsame Mischung aus haltlosem Pathos und kühler Distanz auch bei der weiteren Untersuchung von Gefühlsräumen und Raumgefühlen als fruchtbar erweisen.

Konferenzübersicht

Arenen

Sylke Kirschnick (Berlin): Gefühlszirkus und Zirkusgefühle

Stefan Wellgraf (Berlin): Negativ aufgeladene Gefühlsräume: Hauptschulen und „Jobcenter“

Beatrice Michaelis (Gießen): Kommentar

Ränder

Sabine Fastert (Berlin): „Was ras‘ ich verrückt heerstraßenlang?“ Emotionale Räume, Pathos und Kreativität bei Ludwig Meidner

Marie-Therese Modes (Kassel): Atmosphären im Kontext von Raumwahrnehmungsprozessen

Christiane Reinecke (Hamburg): Der Lange Jammer oder: Menschen am Stadtrand. Zum Ruf der Hochhaussiedlung als Ort der Vereinzelung um 1970

Christina Lutter (Wien): Kommentar

Refugien

Joachim Häberlen (Berlin): „Die Kalte Haut der Stadt.“ Stadt- und Landgefühle im Diskurs der Neuen Linken in den 1970er und 1980er Jahren

Jan Hutta (Berlin): Geborgenheit zwischen Biedermeier und technokulturellen Fabelwesen: Gefühlsraum-Kartographie mit einem transitorischen Konzept

Gabriele Dietze (Berlin): Expressionismus als Raumkomplex und Gefühlskultur

Beate Binder (Berlin): Anmerkungen zum Beitrag von Gabriele Dietze

Julia Weber (Berlin): Kommentar

Passagen

Klara Löffler (Wien): Im Schaufenster. Dienstleistung unter Beobachtung

Ingo Landwehr (Berlin): „... das Risiko einer nachhaltigen Angsterzeugung ...“ Eine medientopologische Erschließung des Fußgängertunnels

Joseph Prestel (Berlin): Neue Straßen - neue emotionale Praktiken? Berlin und Kairo, 1870-1900

Habbo Knoch (Göttingen): Kommentar


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