Einige wenige Wissenschaftshistoriker und historisch interessierte Fachwissenschaftler haben bislang Pionierarbeit bei der Erforschung von Gottfried Wilhelm Leibniz’ medizinischem, naturwissenschaftlichem und technischem Engagement geleistet. Dabei standen seine Rechenmaschine und die gescheiterten Projekte im Harzer Bergbau im Vordergrund. Seit Kurzem lässt sich aber auch in der Philosophie ein verstärktes Interesse an Leibniz’ Beschäftigung mit den empirischen Wissenschaften ausmachen. Noch immer ist zwar ein Großteil der diesbezüglichen Aufzeichnungen von Leibniz nicht veröffentlicht. Allerdings ist die Edition der Korrespondenz durch die Akademieausgabe bis zum einschneidenden Jahr 1700 – dem Gründungsjahr der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften – kurz vor dem Abschluss. Zu Ehren des in diesem Jahr ausscheidenden langjährigen Editors des naturwissenschaftlich-technischen Briefwechsels, James G. O’Hara, veranstaltete die Leibniz-Forschungsstelle Hannover daher am 11./12. April 2013 eine Tagung zum Thema „Der Philosoph im U-Boot. Angewandte Wissenschaft und Technik im Kontext von Gottfried Wilhelm Leibniz“. Der Titel weist zum einen metaphorisch auf die noch unerschlossenen Tiefen des Leibniz-Nachlasses hin, zum anderen hebt er hervor, dass es im Workshop aus wissenschafts- und kulturhistorischer Sicht um die Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis, um die Bedingungen von empirischer Naturforschung und um die Verortung von Leibniz in seiner von Fortschrittsoptimismus und Projektemacherei geprägten Zeit ging.
In den zwei Eingangsvorträgen wurde aus der Perspektive der Technik- bzw. der Leibnizforschung in die Thematik eingeführt. MARCUS POPPLOW (Heidelberg/Salzburg) beschrieb zunächst den sich in der Technikgeschichtsschreibung vollziehenden Wandel weg von den Dichotomien Theorie/Praxis sowie Wissenschaft/Technik, die insbesondere für die Frühe Neuzeit nicht mehr als adäquat angesehen würden. So wurde die praktische technische Erfahrung in der Frühen Neuzeit schriftlich fixiert und im Zusammenhang mit tradiertem Wissen reflektiert und damit „verwissenschaftlicht“. Popplow skizzierte einen konzeptuellen Rahmen, um den Erfolg von Naturforschung und Technik in der Frühen Neuzeit im Vergleich zum Mittelalter und zu anderen hochentwickelten Kulturen wie zum Beispiel China zu erklären. Die in der Frühen Neuzeit entstehende „Innovationskultur“ umfasse Objekte wie zum Beispiel wissenschaftliche Instrumente, Medien wie technische Zeichnungen oder wissenschaftliche Zeitschriften, Institutionen wie die Akademien oder das Patentrecht, Praktiken der Wissensgenerierung, Normen und Werte, darunter die Begeisterung für das Neue. Ein Beispiel für die aktive Förderung dieser Kultur seien Leibniz‘ Akademieprojekte, die auch die zentrale Rolle der Höfe illustrierten.
JAMES G. O’HARA (Hannover) stellte Leibniz anhand seines naturwissenschaftlich-technischen Briefwechsels als Gegner einer dogmatischen Naturlehre, wie sie vor allem in der Nachfolge René Descartes’ betrieben wurde, vor. Leibniz konfrontierte sie mit Mathematik und empirischer Naturforschung. Außerdem wies O’Hara nach, dass Leibniz im Streben nach dem (mutmaßlich) Unmöglichen wie zum Beispiel nach der Transmutation der Metalle in der Chemie, einem Allheilmittel in der Medizin oder der Quadratur des Kreises in der Mathematik zwar die Gefahr des Scheiterns bis zum finanziellen Ruin, aber auch einen notwendigen Ansporn für Innovationen sah – ein Aspekt, der während der Tagung durch zahlreiche weitere Beispiele belegt wurde: Wunderwaffen, Perpetuum mobile, ewiges Licht usw. Zudem konstatierte O’Hara die häufig ungleiche Rollenverteilung in Leibniz’ Korrespondenzen mit führenden Chemikern, Naturphilosophen und Medizinern seiner Zeit. Während seine Korrespondenten über ihre Ergebnisse und Projekte berichteten, ließ Leibniz sich informieren und kommentierte.
Im ersten Teil der Tagung zu Medizin und Militär stellte BRIGITTE LOHFF (Hannover) Leibniz’ Ideen zu „Public Health“, die er zum Teil schon 1671 ausgearbeitet hatte, vor. Demnach sei es nur über die Vernunft möglich, das Gut der Gesundheit zu schützen. Fürsten, Ärzte und der Einzelne hätten dazu ihren Beitrag zu leisten. Leibniz’ Vorschläge umfassten das Sammeln von Daten, das Vermessen der Körperfunktionen, Studien zur Wirksamkeit von Arzneimitteln und Diäten sowie das Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Sie hatten sowohl die Kontrolle einer maßvollen Lebensweise des Einzelnen – Leibniz empfahl das Führen eines „Beichtbüchleins“ – als auch die Verbesserung des medizinischen Wissens zum Ziel. Denn Leibniz’ Misstrauen gegenüber der Heilkunst seiner Zeit war tief. Für ihn verursachten Ärzte ähnlich viele Tote wie Generäle. Lohff hob die Modernität und Singularität von Leibniz’ damals zum großen Teil unveröffentlicht gebliebenen Ideen hervor. Nur noch Bernardino Ramazzini habe in seiner Arbeitsmedizin über die allgemeine Gesundheit nachgedacht. In der Diskussion wurde nach einer möglichen ökonomischen Motivation hinter Leibniz’ Vorschlägen gefragt in Analogie zum Interesse der Kameralisten des 18. Jahrhunderts an öffentlicher Gesundheitsfürsorge.
MICHAEL KEMPE (Hannover/Konstanz) gab einen ersten Überblick über das etwa 200 Blatt umfassende Konvolut zu Militaria in Leibniz‘ Nachlass, das bislang kaum beachtet worden sei. Dabei kam ihm Leibniz‘ ordnender Zugang zu Wissen zugute: Die „scientia militaris“ umfasste für Leibniz eine „politica militaris“, „jurisprudentia militaris“, „oeconomia militaris“, „medicina militaris“, „mathematica militaris“ und „mechanica militaris“. Unter diesen Stichworten beschäftigte sich Leibniz mit so disparaten Themen wie der Ausbildung und medizinischen Versorgung von Soldaten, der Technik von Schnellfeuerwaffen und dem Festungsbau. Ein Studium der Militaria helfe auch, Leibniz‘ frühe Ideen zur Heranziehung einer Elitetruppe einzuordnen, die heute wie eine negative Utopie anmuten und in der Forschung häufig als Jugendsünde von Leibniz gewertet würden. Gegen diese Interpretation spreche, dass Leibniz auch im spanischen Erbfolgekrieg die Aufstellung von Elitetruppen empfahl. Insgesamt plädierte Kempe für eine analytische und nicht normative Sicht auf das frühneuzeitliche Interesse am Militärwesen. Auch in der Diskussion wurde die Notwendigkeit zur historischen Kontextualisierung und Differenzierung hervorgehoben und festgestellt, dass eine unvoreingenommene Herangehensweise durch die Instrumentalisierung von Leibniz‘ Militaria im Dritten Reich erschwert werde.
Von der theoretischen Auseinandersetzung mit Maschinen handelte der Vortrag von HARTMUT HECHT (Berlin), der Leibniz’ frühe Studien zum Perpetuum mobile und ihre grundlegende Rolle bei der Entwicklung seines Kraftbegriffs vorstellte. Während Caspar Schott die Möglichkeit eines Perpetuum mobile verneint hatte, da immer ein Teil des Impetus in den Teilen einer Maschine verloren ginge, entwarf Leibniz in den 1670er Jahren Maschinen ohne Bewegungsverlust. Erst allmählich kam er zu einem präziseren Verständnis, bei dem er zwischen idealem und realem Perpetuum mobile unterschied und letzteres wegen der Reibungsverluste für unmöglich hielt. Hecht zeigte, dass Leibniz’ Beschäftigung mit Maschinen nicht nur seine Dynamik, sondern allgemeiner seine Metaphysik prägte, indem Leibniz zum Beispiel Monaden mit Automaten verglich.
Am zweiten Tag ging es um Optik und Licht. CHARLOTTE WAHL (Hannover) untersuchte anhand von Leibniz’ Zusammenarbeit mit dem Phosphorentdecker Heinrich Brand, den Leibniz an den Hannoveraner Hof holte, seinen Zugang zur Chemie. Obwohl der Kontakt zu Brand sich nach einer finanziellen Auseinandersetzung schnell verlor und Leibniz die Entdeckung, da sie angeblich zufällig und nicht nach Überlegung erfolgt war, als symptomatisch für die Methodenarmut der Chemie ansah, verteidigte er Brand ein Leben lang gegen Versuche von Johann Kunckel, Brand den Entdeckerruhm streitig zu machen. Allerdings hatte Kunckels Taktik, sich als rationalen Chemiker zu stilisieren und Brand als ungebildeten Alchemiker zu diffamieren, mehr Erfolg. Vom Phosphor selbst war Leibniz schließlich enttäuscht, da er keine Anwendungen hervorgebracht und sich auch nicht als das ewige Licht erwiesen hatte. Leibniz nutzte jedoch diese und weitere Leuchtphänomene, um bei Hof für seine Projekte und seine Sozietät der Wissenschaften zu werben.
FOKKO JAN DIJKSTERHUIS (Twente) illustrierte das Zusammenspiel von Technologie, Mathematik und Naturphilosophie an der Entwicklung und dem Einsatz immer besserer und größerer Brenngläser und -spiegel, die er als „Teilchenbeschleuniger der Frühen Neuzeit“ charakterisierte. Während Ehrenfried Walther von Tschirnhaus Gläser und Spiegel perfektionierte und damit große Anerkennung auch bei Hof erhielt, wurde seine damit einhergehende mathematische Behandlung der Brennlinien, die an neueste geometrische Entwicklungen anknüpfte, unter anderem von Leibniz und Christiaan Huygens kritisiert. Tschirnhaus, der Chemiker Wilhelm Homberg von der Académie des sciences und der Linsenmacher Nicolaas Hartsoeker nutzten Brenngläser für Experimente zur Transmutation der Metalle und zur Natur des Lichts. Leibniz stand mit allen Protagonisten im Briefkontakt und setzte sich mit ihren Thesen und Experimenten auseinander. Er stand dem Einsatz von Artefakten zur Naturerkenntnis grundsätzlich positiv gegenüber, wie Dijksterhuis zeigte.
Im Laufe der Tagung wurden viele übergreifende Fragen aufgeworfen, die zu weiteren Untersuchungen anregen. So ging es um die Rolle des Scheiterns bei Innovationsprozessen. Viele von Leibniz’ Projekten gingen über die Idee nicht hinaus wegen mangelnder Finanzierung oder dem Desinteresse seiner Dienstherren. Diese Gründe waren auch ausschlaggebend dafür, dass die Berliner Sozietät der Wissenschaften lange ein Schattendasein im Vergleich zum Londoner und Pariser Pendant fristete. Differenzen mit Praktikern spielten eine Rolle bei Leibniz’ gescheiterten Phosphor- und Bergbauprojekten. Die Konstruktion der Rechenmaschine wiederum verlangte eine Präzision, die technisch damals wohl nicht erreicht werden konnte. Zudem standen Leibniz oft nur schlecht ausgebildete Handwerker zur Verfügung. Der Einfluss der Rahmenbedingungen auf die Entwicklung von Technik und Naturforschung wurde an vielen Stellen der Tagung thematisiert. So versuchte Leibniz – oft vergeblich – europäische Höfe für seine Projekte zu begeistern. Teilweise finanzierte er sie selbst. Hartsoeker konnte seine offenbar zweckfreien Untersuchungen zur Natur des Lichts am Pfälzer Hof ausüben, während Homberg die ganze Infrastruktur der Académie des sciences zur Verfügung stand.
Das Verhältnis von Metaphysik und Empirie bei Leibniz wurde in mehreren Vorträgen diskutiert. Auf einer Skala von Descartes und seinen Nachfolgern bis Robert Boyle, der das Aufstellen von Hypothesen skeptisch beurteilte, wurde Leibniz bilanzierend dem Mittelfeld zugeordnet: Wie sein Mentor und Korrespondent Christiaan Huygens trat er für „experientia cum ratione“ ein; im Experiment zu überprüfende Vermutungen spielten für ihn eine zentrale Rolle bei der Naturerforschung. Die Frage, ob Leibniz’ Metaphysik seine Interpretation empirischer Ergebnisse festlegte und ihm damit den Zugang zu vielversprechenden und vielleicht sogar erfolgreicheren alternativen Ansätzen verbaute oder ob sie ihm im Gegenteil neue Ansätze lieferte, musste offenbleiben und lässt sich wohl nicht eindeutig beantworten, wie seine Dynamik und seine Kritik an Newtons Gravitationstheorie zeigen.
Auch die Frage nach der (Nicht-)Verbreitung technischen Wissens in Leibniz’ Korrespondenz lohnt weiter verfolgt zu werden. Während seine mathematischen Briefwechsel ein Ort des Austauschs und der Innovation waren, diente technisches Wissen Leibniz offenbar vor allem zur Weiterleitung an Höfe oder Akademien und wurde ihm oft wegen eben dieser Kontakte zugeführt, so die auf der Tagung vorgebrachte vorläufige These.
Konferenzübersicht
Georg Ruppelt (Hannover): Begrüßung und Einführung
Marcus Popplow (Heidelberg/Salzburg): Frühneuzeitliche Innovationskulturen als Rahmenbedingungen der technischen Projekte von Leibniz
James G. O’Hara (Hannover): Science Not Metaphysical. Die Bedeutung von Leibniz’ Korrespondenz für die Geschichte der Naturwissenschaften, Medizin und Technik
Brigitte Lohff (Hannover): „... und dass einer der größten Erfolge der wahren Sittlichkeit oder Politik die Herstellung einer besseren Medizin sein wird“. Leibniz’ Vorschläge zur Verbesserung der medizinischen Versorgung
Michael Kempe (Hannover/Konstanz): Dr. Leibniz, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Militärtechnik in Europa um 1700
Hartmut Hecht (Berlin): Von der Statik zur Dynamik. Eine Spurensuche in Pariser Manuskripten
Charlotte Wahl (Hannover): „Im tunckeln ist ein blinder so guth als ein sehender“. Zu Leibniz’ Beschäftigung mit Leuchtstoffen
Fokko Jan Dijksterhuis (Twente): Foci of Interests. Optical Pursuits amongst Huygens, Leibniz, and Tschirnhaus 1680-1710