Das Polizeigeschichtliche Kolloquium fand 2013 bereits zum 24. Mal statt, tagte in diesem Jahr im Polizeimuseum der Niedersächsischen Polizeiakademie in Nienburg/Weser und wurde von Dirk Göttting, Alf Lüdtke, Herbert Reinke und Gerhard Sälter organisiert, alle ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der Polizeigeschichte. Den inhaltlichen Rahmen bildeten zwei Themengebiete: Es ging um Risiko als Kriterium polizeilichen Handelns und um biographische Ansätze als Annäherung an Polizeigeschichte.
Nach Grußworten von Johannes-Jürgen Kaul, dem Direktor der Polizeiakademie, skizzierte ALF LÜDTKE (Erfurt) am Donnerstagnachmittag zunächst die Geschichte des Kolloquiums. Es wurde 1990 auf dem Bochumer Historikertag gegründet, tagt seitdem jährlich Anfang Juli und wird im Rotationsverfahren organisiert. Das Kolloquium ist nicht nur für verschiedene Fachwissenschaften, sondern auch für Polizeipraktiker offen. Ein wichtiges Anliegen der Veranstaltung ist es, neue Forschungsthemen, Methoden und Entwicklungen einer sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichteten weit gefassten Polizeiforschung zu bündeln. Anschließend präsentierte HERBERT REINKE (Berlin) einige prägnante Überlegungen zum Verhältnis von Polizei und Risiko und integrierte hierbei in internationaler Perspektive neuere Ansätze polizeilicher Tätigkeit (zum Beispiel risk-based-policing‘), die vor allem präventiv ausgerichtet sind. Diese Konzepte knüpften oft unausgesprochen an alte Konzepte an, wie sie unter anderem vom ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA) Horst Herold in den 1970er-Jahren propagiert wurden. Grundsätzlich jedoch sei das heute intensiv diskutierte proaktive Handeln der Polizei eigentlich schon im 18. Jahrhundert der Anlass zur Entstehung der Policey gewesen, als sie vom Bürgertum in staatliche Hände übertragen werden sollte. Als letzter Vortragender der Einführungssektion widmete sich GERHARD SÄLTER (Berlin/Marburg) dem breiten Spektrum biografischer Ansätze (wie Berufsbiografien, kontextualisierte Biografien, Gruppenbiografien). Wie er überzeugend darlegte, müssen sich all diese Ansätze dem Problem stellen, dass es sich um sozial-kulturelle ex post- Konstruktionen handelt, die sich im Spannungsfeld von (nachträglichen) Bedeutungszuschreibungen, Individualität und gesellschaftlichen Strukturen bewegen.
Die Tagungssektion „Risiko, ein Kriterium polizeilichen Handelns?“ begann mit einem Vortrag von HANNES MANGOLD (Zürich). Seine methodisch sehr reflektierten wissensgeschichtlichen Ausführungen wandten sich gegen die immer noch weit verbreitete These, erst Horst Herold habe die elektronische Datenverarbeitung im Bundeskriminalamt vorangetrieben. Vielmehr hatten schon seit den 1960er-Jahren, also unter Paul Dickkopf, die Überlastung der alten Karteikartensysteme, eine als stark steigend eingestufte Kriminalität sowie die (wiederentdeckte) hohe Tätermobilität diese Entwicklung in Gang gesetzt. Thematisch daran anknüpfend präsentierte der Kriminologe MICHAEL JASCH (Nienburg) Risikodiskurse im Polizeirecht seit den 1990er-Jahren: Wie er unterstrich, wurde die zentrale Definition des „Gefährders“ immer mehr ausgedehnt. Auf diesem für die proaktiven Polizeimaßnahmen wichtigen Weg „von der Gefahr zum Gefährder“ wurde auch das persönliche Ansprechen dieser Personen durch PolizistInnen seit den 1990er-Jahren, dann aber vor allem in der Folge des 11. September 2011 stark ausgeweitet. Zum Einsatz kam es primär bei politisch motivierten Straftaten, bei Sexualdelikten, bis hin zu Betäubungsmitteldelikten.
Im zweiten Teil der Sektion rückte die DDR in den Fokus. MATEJ KOTALIK (Potsdam) untersuchte das „Rowdytum“ in der DDR anhand polizeilich-juristischer Qualifikationsarbeiten, die zwischen 1971 und 1980 angefertigt wurden. Aus der Sicht der untersuchten Autoren gefährdeten diese Jugendlichen fremdes Eigentum und neigten zur vorsätzlichen Missachtung gesellschaftlicher Normen. In seiner abwägenden Interpretation zeigte Kotalik, dass diese quellengesättigten Publikationen einen Wandel hin zu einem bemerkenswerten selbstreflexiven Polizeiverständnis andeuteten. Im Laufe der 1970er-Jahre wurden nicht nur energische Gegenmaßnahmen verlangt, sondern auch zur Vermeidung von körperlicher Gewalt aufgerufen; zudem sollte bedacht werden, wie das polizeiliche Eingreifen in der öffentlichen Wahrnehmung beurteilt wurde. In seinem konzeptionell sehr elaborierten Beitrag stellte THOMAS LINDENBERGER (Potsdam) erste Ergebnisse seiner Forschungen über Havarien in DDR-Chemie- und Energiebetrieben vor. Am Beispiel des Kraftwerks Espenhain verdeutlichte er die unterschiedlichen Standpunkte, die verschiedene Akteure (von den ArbeiterInnen bis hin zur Stasi) zur technischen Sicherheitskultur formulierten. Er vertrat die auf den ersten Blick irritierende These, das Unfallrisiko der DDR-Arbeiter sei in der Endphase der DDR gesunken, erklärte dies jedoch überzeugend damit, dass sie zeitlich seltener dem Unfallrisiko ausgesetzt gewesen seien, weil sie die Anlagen dauernd reparieren mussten.
Zum Auftakt der zentralen Sektion über biographische Ansätze analysierte TIMO LUKS (Chemnitz) Einstellungs- und Bewerbungsschreiben für den Polizeidienst aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seine Auswertung vermittelte gute Einblicke in die Kommunikationskultur der unteren und Mittelschichten. Viele der etwa 28 bis 32 Jahre alten Bewerber standen den mit ihrer Tätigkeit verbundenen Schreibarbeiten ablehnend gegenüber. In ihrer Definition als arbeitsuchende Subjekte zeigten sich etwa seit den 1860er-Jahren leichte Tendenzen zum „Karrierebewusstsein“. DIRK GÖTTING (Nienburg) präsentierte die Arbeit der ersten Polizeiassistentin Deutschlands (Henriette Arendt), in deren Verlauf immer wieder deutlich wurde, wie eng die Grenzen gesteckt waren, innerhalb derer sich Frauen im frühen 20. Jahrhundert bewegen konnten. Diese Grenzen galten nicht nur für den Umgang (und für die Konflikte) mit ihren männlichen Vorgesetzten, sondern auch für das Verhältnis zu nahestehenden bürgerlichen Frauenorganisationen. MAREN RICHTER (München) stellte Ergebnisse ihrer geschichtswissenschaftlichen Dissertation vor, die sich mit dem Personenschutz von Politikern von 1970 bis in die frühen 1990er-Jahre befasste. Sie zeigte, wie sich das Leben und die Wahrnehmungen der geschützten Personen wandelten und wie die Überwachung bis in die Familien zurückwirkte. Anschließend referierte PETR KLINOVSKÝ über Lebens- und Dienstwege von zwei tschechischen Polizisten und THOMAS KÖHLER/BETTINA BLUM (Münster) präsentierten Bereiche aus dem breiten Tätigkeitsprofil der Münsteraner Geschichtsorts Villa ten Hompel, deren Angebote auch von Polizisten genutzt werden. Orientiert an einer Besucherumfrage aus dem Jahre 2012 wurde unter didaktischen Perspektiven sehr gelungen über drei Arbeitsschwerpunkte der Institution informiert: über Polizeigeschichte, Wiedergutmachung und Entnazifizierung. Am Ende des Freitagsprogramm stand eine sehr gelungene Abendveranstaltung, die Petra Dombrowski konzipiert und umgesetzt hat: Der Titel lautete „Roadmap einer Straßendirne - szenische Lesung und Diskussion“.
Die Sektion „Biographische Ansätze und personelle Kontinuitäten im 20. Jahrhundert“ begann mit einem sehr engagierten Vortrag von JAN H. ISSINGER (Freiburg), der den Forschungsstand zur Motivation von NS-Massenmördern am Beispiel des Reserve-Polizeibataillons 61 resümierte. Mit einem breiten organisationssoziologischen Ansatz sollten neue Akzente in den Vordergrund gestellt werden. Wie er betonte, war das Handeln der Polizisten eingebunden in miteinander verwobene Netzwerke, orientiert unter anderem an Vertrauensbeziehungen, aber auch an Karrierestreben sowie an einem Berufsverständnis als Kriminalitätsbekämpfer. All dies ließ aber trotzdem genügend Spielräume für eigenständiges Handeln der Mannschaftsdienstgrade. FRANK D. STOLT (Mannheim) verdeutlichte am Beispiel der Brandermittlung in Mannheim vor allem der 1960er-Jahre eine für bundesdeutsche Verhältnisse einzigartige Konstellation, in der Polizei und Feuerwehr in der Brandursachenermittlung, die heute in Händen der Polizei liegt, kooperierten. Diese Zusammenarbeit fußte vor allem auf einem guten persönlichen Verhältnis wichtiger Akteure. GERHARD FÜRMETZ (Augsburg) schilderte am Beispiel Michael Godin einen aus einer Sicht untypischen Lebenslauf eines bayrischen Polizisten. Fürmetz zeigte die Wandlungen in Godins beruflichen Beurteilungen ebenso wie in dessen Selbsteinschätzungen bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1959. In dienstlichen Konflikten wurde ihm vorgeworfen, zu viele ehemalige Wehrmachtsoffiziere und qualifizierte Gendarmeriebeamte beruflich ausgegrenzt zu haben. GERHARD SÄLTER (Berlin/Marburg) beendete die Tagung mit einem quellengesättigten Vortrag, in dem er den Berufsweg eines Beamten des Bundesnachrichtediensts (BND) skizzierte, der vor seiner Tätigkeit im BND (1957-64) auch in der Gestapo an führender Stelle aktiv gewesen war, unter anderem in einer Sonderkommission zur Untersuchung des Hitlerattentats vom 20. Juli 1944. Sälter stellte die Frage, wie diese Gestapo-Mitgliedschaft in der Nachkriegszeit interpretiert und gewichtet wurde. Der Beamte selber gab an, die Versetzung zur Gestapo sei gegen seinen Willen geschehen, was Sälter widerlegte. Wie zudem überzeugend darlegt wurde, können biografische Zugriffe, wenn sie über individualisierende/personifizierende Betrachtungen hinausgehen und subjektive Wahrnehmungen integrieren, sehr gut Vernetzungen und Abhängigkeitsverhältnisse herausarbeiten, die Institutionen und ihr Umfeld prägen.
Insgesamt gesehen zeigten sich auf der Tagung einige interessante Denkansätze, von denen die zukünftige Polizeigeschichtsschreibung methodisch und inhaltlich voranbracht werden könnte. Zum einen bieten Biografien noch ungenutzte Erkenntnismöglichkeiten. Biografien sind zwar ein vordergründig faszinierendes Feld, stellen aber hohe methodisch-konzeptionelle Anforderungen an die reflexive Kontextualisierung. Interviews und biografische Materialien müssen intensiv reflektiert und dekodiert werden im Spanungsfeld zwischen retrospektiver Veteranenerzählung und professioneller Selbstinszenierung. Dass sie nicht die Wirklichkeit zeigen, wie sie ‚eigentlich‘ war, gehört ohnehin inzwischen zum geschichtswissenschaftlichen Allgemeinwissen. Zum anderen können verständlich präsentierte und auf ihre geschichtswissenschaftliche Operationalisierbarkeit überprüfte diskursgeschichtliche Ansätze mit dazu beitragen, neue Fragen zu stellen. Zugleich ermöglichen solche Konzepte eine reflektierte Integration von Denkmodellen, wie sie Bruno Latour vertritt, und in denen klar wird, dass Menschen nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit Dingen interagieren, was wiederum bislang wenig beachtete Rückwirkungen generiert. Drittens – und damit verbunden – würden es die Konzepte ermöglichen, die geschichtswissenschaftliche Polizeiforschung wieder für Debatten in den Nachbarwissenschaften zu öffnen, hat doch diese, inzwischen leider nahezu unsichtbare Kooperation bis in die 1990er-Jahre zahlreiche anregende Tagungen und Publikationen produziert. Die Zeit wäre reif, diesen Austausch wieder zu intensivieren.
Konferenzübersicht:
Johannes-Jürgen Kaul, Direktor der Polizeiakademie
Grußwort
Dirk Götting, Alf Lüdtke, Herbert Reinke, Gerhard Sälter
Begrüßung, Einführung, Vorstellungsrunde
Sektion 1: Risiko, ein Kriterium polizeilichen Handelns?
Moderation: Herbert Reinke
Hannes Mangold:
Risiko Computer
Frank D. Stolt:
Der Zeit weit voraus: Mannheimer Modell der Brandermittlung in der Mitte des 20. Jahrhunderts
Michael Jasch:
Aktuelle Risikodiskurse im Strafrecht
Sektion 2: Risiko, ein Kriterium polizeilichen Handelns auch in der DDR?
Moderation: Gerhard Sälter
Matej Kotalik:
Risikobewältigung als Gesellenstück. Die Bekämpfung des Rowdytums als Thema juristischer und polizeilicher Abschlussarbeiten in der DDR (1959-1989)
Thomas Lindenberger:
Staats-Sicherheit in der Produktion? Die geheimpolizeiliche Bearbeitung von Havarien in Volkseigenen Betrieben der DDR-Energie- und Chemieindustrie
Sektion 3: Biographische Ansätze
Moderation: Gerhard Sälter
Timo Luks:
Vom Wunsch, Polizist zu werden. Bewerbungsschreiben und Einstellungsgesuche als Ausgangspunkt polizeilichen Self-fashionings im neunzehnten Jahrhundert
Dirk Götting:
Die Auseinandersetzung der Polizeiassistentin Henriette Arendt mit dem Polizeiamt Stuttgart zwischen 1903 und 1910
Sektion 3: Biographische Ansätze
Moderation: Dirk Götting
Maren Richter:
Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und moderner Personenschutz 1970 bis 1993 in der Bundesrepublik Deutschland
Petr Klinovský:
Jaroslav Kamarád und Josef Jezek: Zwei Schicksale in der grau-grünen Uniform
Thomas Köhler und Bettina Blum:
Historisches Lernen für Polizisten: die Bedeutung von Biografien als Zugangsmöglichkeit zur Vermittlung historischer Zusammenhänge. Ein Werkstattbericht aus der Villa ten Hompel
Abendveranstaltung
Moderation: Dirk Götting
Petra Dombrowski: Roadmap einer Straßendirne - szenische Lesung und Diskussion
Sektion 4: Biographische Ansätze und personelle Kontinuitäten im 20. Jahrhundert
Moderation: Alf Lüdtke
Jan H. Issinger:
Das Reserve-Polizeibataillon 61 im "Kriegseinsatz". Organisationskultur der Vernichtung
Gerhard Fürmetz:
Hitlerputsch, Exil, Nachkriegspolizei - Michael von Godin (1896-1982) und die Extreme der bayerischen Polizeigeschichte
Gerhard Sälter:
Anständig geblieben? Von der Gestapo-Sonderkommission 20. Juli zum BND