Papier im Mittelalter. Herstellung und Gebrauch

Papier im Mittelalter. Herstellung und Gebrauch

Organisatoren
Carla Meyer / Sandra Schultz, Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften“, Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.11.2013 - 15.11.2013
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Von
Charlotte Kempf, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Die Einführung des Papiers zu Beginn des späten Mittelalters stellte eine zentrale Innovation in der Geschichte der Materialität von Texten dar, deren Folgen und Wirkungen es bis heute zu untersuchen lohnt. Die internationale Heidelberger Tagung „Papier im Mittelalter. Herstellung und Gebrauch“ beschäftigte sich daher mit der Frage, in welchen Kontexten der mittelalterlichen Gesellschaft die Einführung des Papiers gewinnbringend analysiert werden kann und welche interdisziplinären Ansätze geeignet sind, neue Erkenntnisse über die Produktion und Verwendung mittelalterlicher Papiere zu erzielen. Die Konferenz verband dabei historische Analysen mit der Materialexpertise von Kunsthistorikern, Archäologen, Kodikologen, Restauratoren und Papiermachern, um die kulturelle und historische Bedeutung von Papier für die Organisation von Herrschaft sowie für die Buchproduktion im Mittelalter herauszuarbeiten.

Nach der Begrüßung durch VEIT PROBST (Heidelberg), der die digitale Erschließung mittelalterlicher Handschriften an der Universitätsbibliothek Heidelberg erläuterte, unterstrich BERND SCHNEIDMÜLLER (Heidelberg) in seiner Einführung den Stellenwert der Erforschung des Beschreibstoffs Papier. Zum einen sei es das Ziel des Teilprojektes des Sonderforschungsbereichs, das unter seiner Leitung steht und die Tagung organisierte, neue kulturhistorische Fragestellungen gewinnbringend mit den klassischen Aufgaben der Grund- und Hilfswissenschaften zu verbinden. Zum anderen sei es das Ziel der Tagung, diese beiden Herangehensweisen produktiv zu verbinden, um auf diese Weise zu neuen Ergebnissen in Bezug auf Papier als Beschreibstoff im Mittelalter zu gelangen.

Wie kulturhistorische Fragestellungen in einen konstruktiven Dialog mit den Grund- und Hilfswissenschaften sowie mit einer Materialanalyse treten können, zeigte bereits der Tandemvortrag der Historikerin SANDRA SCHULTZ (Heidelberg) und des Handpapiermachers JOHANNES FOLLMER (Homburg) zur Papierherstellung, durch den die Tagung eröffnet wurde. Am Beispiel von vier Ravensburger Steuerbüchern des späten 15. Jahrhunderts suchten sie nach Spuren im Papier, die auf die verschiedenen Produktionsschritte verweisen. Die Wasserzeichen der analysierten Stücke ließen nach Schultz und Follmer dabei vermuten, dass die Ratskanzlei dafür auf vor Ort in Ravensburg selbst produziertes Papier zurückgriff. Die Spuren im Papier würden zeigen, dass man für die Papiere – wie ihre Stabilität beweise – hochwertige Rohstoffe verwendet habe, dass Linsen und Wassertropfen, ungleiche Faserverteilungen und Falten jedoch eine schnelle, auf Masse angelegte Produktionsweise schließen lassen.

In den drei folgenden Vorträgen von ERWIN FRAUENKNECHT (Stuttgart / Tübingen), FRANCO MARIANI (Fabriano) und INGE VAN WEGENS (Dworp) standen verschiedene europäische Papiermühlenzentren im Mittelpunkt. Frauenknecht griff dabei aus den württembergischen Mühlengründungen die beiden frühesten Beispiele heraus – namentlich Urach und Söflingen. Über die Wasserzeichen konnte Frauenknecht zeigen, dass in Urach die Papierproduktion eng mit den Anfängen des Buchdrucks verknüpft und dass beider Einführung womöglich auf den Einfluss des württembergischen Hofes zurückzuführen sei. Die Gründung der Papiermühle von Söflingen hingegen ging von der Initiative des dortigen Clarissinnen-Klosters aus, eventuell könne aber bei beiden Mühlen derselbe Papierer aus Italien beteiligt gewesen sein.

Nach einer Darstellung der zentralen Handelswege für Papier in Norditalien des 13. Jahrhunderts erläuterte Mariani in seinem Vortrag das Mühlenrevier in Fabriano, das heute als ‚Wiege‘ der abendländischen Papierproduktion gilt. Der große Erfolg der dortigen Papiermühlen könne, wie Mariani darlegte, auf mehrere technische Innovationen im Herstellungsprozess zurückgeführt werden: zum einen auf die Einführung eines neuen Hammerwerks, das die Herstellung der Papierpulpe rationalisierte, zum anderen auf die Leimung des Papiers mit tierischen statt wie zuvor mit pflanzlichen Stoffen, da dies die Haltbarkeit der Papierblätter verbessert habe, und zuletzt auf die Einführung von Wasserzeichen, die auf die produzierende Mühle verwiesen beziehungsweise auch verschiedene Papierqualitäten markieren konnten. Diese neue Art der Herstellung habe sich in den folgenden Jahrzehnten durch die Mobilität der Papierschöpfer durchgesetzt und dadurch eine große Verbreitung und Kanonisierung erfahren.

Als ökonomische und kommerzielle Metropole sowie durch die Anbindung an die Handelswege war Brüssel ab 1280 das belgische Zentrum des Papierhandels, wie van Wegens in ihrem Vortrag ausführte. Sie erläuterte, dass Pergament zwar auch weiterhin ein wesentlicher Beschreibstoff geblieben sei, aber Papier durch den intensiven Handel und den stetigen Anstiegs des Papiergebrauchs vorrangig benutzt wurde. Die Gründung zahlreicher Papiermühlen im Brüsseler Umland des 15. Jahrhunderts brachte van Wegens in engen Zusammenhang mit Philipp dem Guten und dem großem Papierbedarf an seinem Hof, da Papier nicht allein zum Schreiben benutzt worden sei. Stattdessen wurde es vermutlich auch in der Produktion höfischer Luxusobjekte eingesetzt, so zum Beispiel für die Herstellung von wertvollen Tapisserien in Form großformatiger Skizzen, nach denen die Arbeiter knüpften.

Die in der aktuellen Forschung vielbeachteten Kontenbücher aus Luxemburg, die für den Zeitraum zwischen 1388 und 1480 erhalten sind, wurden bislang noch nicht in ihrer Materialität gewürdigt, was Ausgangspunkt des Vortrags von EVAMARIE BANGE (Luxemburg) war. Mittels der Analyse der in ihnen zahlreich überlieferten Wasserzeichen ergab ihre Recherche, dass die frühen Papiere aus dem italienischen und französischen, ab dem 15. Jahrhundert jedoch hauptsächlich nur noch aus dem französischen Raum stammen. Eine konkretere Zuordnung zu einzelnen Mühlen sei bislang nicht möglich. Darüber hinaus führte Bange aus, wie die Analyse der Wasserzeichen in Kombination mit paläographischen Untersuchungen der Schreiberhände nähere Einblick in die Organisation und Hierarchie der Luxemburger Schreibstuben ermöglichen können.

In dem öffentlichen Abendvortrag stellte LOTHAR MÜLLER (Berlin) die Verschriftlichungsdynamiken im späten Mittelalter, die durch die Einführung des Papiers als neuen Beschreibstoff ausgelöst wurden, in einen breiten zeitlichen Horizont, der bis in die Jetztzeit führte. Seine Ausgangsthese war, dass die aktuelle Mediendebatte unter einer verkürzten Wahrnehmung der medialen Vergangenheit leide. Müller forderte daher, dass bei mediengeschichtlichen Betrachtungen zum Buchdruck berücksichtigt werden solle, dass Papier und Buchdruck keine unmittelbare Einheit bildeten, sondern der Buchdruck eine Fusion zweier Medien (Druck und Papier) mit unterschiedlichen Funktionen darstelle. Das Papier als das ältere Medium sei keineswegs an den Buchdruck gebunden und könne dabei auch mit anderen Medien (und nicht nur allein mit dem Druck) in Verbindung stehen. Aus diesem Grund sei die „Eigenlogik“ des Papiers als Medium der Speicherung und Zirkulation stets für mediengeschichtliche Analysen zum Buchdruck sowie zur Schriftlichkeit im späten Mittelalter allgemein in Betracht zu ziehen.

Den zweiten Tag der Konferenz eröffneten die Historikerin CARLA MEYER (Heidelberg) und der Papierrestaurator THOMAS KLINKE (Köln) mit einem Tandemvortrag zum Gebrauch von Papier am Beispiel der frühen Dokumente, die sich bis 1410 im Archiv der Grafen und späteren Herzöge von Württemberg erhalten haben. Bei diesen Dokumenten handele es sich um ein Sample von nicht einmal 50 Stücken, was verdeutliche, dass Pergament, das aus dieser Zeit in ungleich größerer Zahl erhalten ist, bessere Überlieferungschancen besaß als Papier. Durch eine detaillierte Analyse des Papiers legten sie dar, auf welche verschiedenen Stufen der Verwendung die zahlreiche Gebrauchsspuren des Papiers zurückzuführen seien. Meyer und Klinke machten deutlich, inwiefern eine solche Materialitätsanalyse die traditionelle Interpretation der Inhalte und Gattungen in Zukunft sinnvoll ergänzen kann.

Der Vortrag von FRANZ-JOSEF ARLINGHAUS (Bielefeld) rückte die Frage ins Zentrum, wann in den mittelalterlichen Schreibstuben zu Papier und wann zu Pergament gegriffen wurde. Während die bisherige Forschung hier meist pauschal auf die Preisentwicklung verweise und damit bei Kosten-Nutzen-Erwägungen stehen bleibe, führte Arlinghaus die sozialen Konnotationen der genutzten Beschreibstoffe vor Augen, wenn etwa die Fugger für ihre Memorialbücher im 16. Jahrhundert mit dem Hinweis auf ihre kaufmännischen Wurzeln auf Papier zurückgriffen, während adlige Chroniken selbstverständlich Pergament verwendeten. Insgesamt warnte Arlinghaus jedoch vor einfachen Kausalitäten und plädierte für eine „Hermeneutik der Materialität des Textes“, die notwendig sei, um das Material als Bedeutungsträger sowie den Gebrauch des Materials zu erfassen.

In den nachfolgenden zwei Vorträgen behandelten CAROLINE BOURLET (Paris) und HENDRIK VAN HUIS (Hamburg) den Gebrauch des Papiers im städtischen Verwaltungskontext. Nach einem allgemeinen Überblick über die frühesten heute bekannten Papiere in französischen Archiven und ihrer Herkunft aus arabischer beziehungsweise okzidentaler Produktion konzentrierte sich Bourlet auf die Papierüberlieferung im Paris des 14. und 15. Jahrhunderts. Am Beispiel kirchlicher Institutionen mit ihren im Vergleich außerordentlich guten und geschlossenen Überlieferungssituation konnte sie den rapiden Anstieg von Papiergebrauch nachweisen, während der Pergamentbedarf zwar bis um 1500 ebenfalls kontinuierlich weiter stieg, jedoch im Vergleich zum jüngeren, billigeren Beschreibstoff immer stärker zurückfiel.

Van Huis beschäftigte sich in seinem vergleichenden Vortrag mit dem Papiergebrauch in den Städten Greifswald und Hamburg. In beiden Hansestädten blieb – wiewohl ihre Politik von Kaufleuten und durch Handelsinteressen geprägt war – über Jahrhunderte für die Amtsbücher Pergament das vorherrschende Material. In Hamburg entschied man sich sogar noch im 19. Jahrhundert für die Wiedereinführung der Tierhaut für die Stadtbücher, nachdem in der napoleonischen Ära auf Papier umgestellt worden war. Nach van Huis verdeutlich dies, dass mit Pergament als Beschreibstoff auch Aspekte der Kontinuität, des Prestiges und der Tradition verbunden sein konnten.

Inwiefern Pergament und nicht nur Papier auch eine Verbindung mit dem Buchdruck im 15. Jahrhundert eingehen konnte, machte PAUL NEEDHAM (Princeton) in seinem Vortrag deutlich. Die überwiegende Mehrzahl der Inkunabeln sei zwar auf Papier gedruckt, einzelne Exemplare, in seltenen Fällen sogar alle Ausgaben einer Auflage seien aber zudem auf Pergament gedruckt worden. Die Anzahl der handgeschriebenen Codices aber nahm – dies stellte Needham heraus – durch die des Buchdrucks eindeutig ab. Die Wahl des zugrunde gelegten Materials des Druckes habe dabei die Inhalte der Texte, das potentielle Käuferpublikum und wirtschaftliche Erwägungen der Drucker mitbestimmt.

Dass Herkunft und Gebrauch des Papiers selbst für prominente Künstler wie Albrecht Dürer, dessen Erfolge maßgeblich von seinen Druckgraphiken auf Papier abhingen, von der Forschung noch nicht genügend bearbeitet worden sind, erläuterte PETER SCHMIDT (München) anhand dieses im 15. Jahrhundert aufblühenden Genres. Für ein erweitertes kunsttechnologisches Wissen, das neben den Druckverfahren auch Papierformate und vor allem Papierqualitäten berücksichtigt, forderte er eine stärkere Zusammenarbeit von Kunsthistorikern, Restauratoren und Inkunabelforschern.

Wie ertragreich interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Papierforschung sein kann, wurde durch den Vortrag von BIRGIT KATA (Kempten) deutlich. Sie präsentierte die beeindruckenden und umfassenden Funde von Historikern und Archäologen im sogenannten „Mühlberg-Ensemble“ im ältesten Kern der Stadt Kempten. Ein Teil dieser Funde aus den Fehlböden und anderen Hohlräumen mehrerer Gebäude rund um die Pfarrkirche St. Mang waren dabei nicht allein Papier, sondern auch zahlreiche andere Utensilien wie Schmuck, Schuhe, Münzen oder Kleidung aus dem 14. bis zum 20. Jahrhundert. Sie ermöglichen, wie Kata ausführte, durch ihre besondere Überlieferungssituation neue Einsichten in die Alltagsgeschichte und lassen zugleich Rückschlüsse auf die Bewohner und die Funktion des jeweiligen Hauses zu.

In dem die Tagung abschließenden Kommentar hob CLAUDIA MÄRTL (München) hervor, dass das mittelalterliche Papier bis heute ein großes Forschungspotential biete. Sie machte aber auch auf Probleme aufmerksam, etwa auf die in den Diskussionen immer wieder thematisierten Grenzen der Auswertung von Wasserzeichen. Dadurch, dass Papier im Mittelalter als eine Massenware nicht allein Schreibmaterial war, biete es zahlreiche, noch bestehende Forschungsmöglichkeiten, was auch in der Abschlussdiskussion betont wurde.

Die Tagung hat vor Augen geführt, wie schwer, aber zugleich wie lohnenswert es ist, über die klassischen Fragen der Papiergeschichte und die traditionelle Wasserzeichenanalyse hinaus eine stärker interdisziplinäre und kulturwissenschaftlich orientierte Erforschung des Papiers voranzutreiben, um vor dem Hintergrund einer Analyse der Materialität neue Erkenntnisse hinsichtlich der Bedeutung des Papiers im Mittelalter generieren zu können. Das neue Material Papier löste nicht unmittelbar das Pergament als Beschreibstoff ab, sondern Pergament und Papier standen dabei als zwei verfügbare Materialien (zum Teil bis ins 19. Jahrhundert) für Handschrift und Druck nebeneinander zur Verfügung. Die unterschiedlichen Funktionen von Pergament und Papier angemessen zu erfassen, ist ein Forschungsdesiderat, wie die Tagung deutlich machen konnte. Eine Publikation der Beiträge ist geplant.

Konferenzübersicht

Sandra Schultz (Heidelberg) / Johannes Follmer (Homburg): Tandem-Vortrag zur Papierherstellung

Erwin Frauenknecht (Stuttgart / Tübingen): Papiermühlen in Württemberg

Franco Mariani (Fabriano): Papiermühlen in Fabriano

Inge van Wegens (Dworp): Papiermühlen in Belgien

Evamarie Bange (Luxemburg): Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Auswertung von Wasserzeichen am Beispiel der Bestände des Stadtarchivs Luxemburg

Abendvortrag: Lothar Müller (Berlin)

Carla Meyer (Heidelberg) / Thomas Klinke (Köln): Tandem-Vortrag zum Papiergebrauch

Franz-Josef Arlinghaus (Bielefeld): Kommunikative Kontexte von Pergament- und Papiergebrauch

Caroline Bourlet (Paris): Der Gebrauch von Papier für Verwaltungszwecke im spätmittelalterlichen Paris

Hendrik van Huis (Hamburg): Papier- und Pergamentgebrauch in hanseatischen Städten

Paul Needham (Princeton): Buchdruck auf Papier und Pergament

Peter Schmidt (München): Papiergebrauch bei Albrecht Dürer

Birgit Kata (Kempten): Archäologische Papierfunde