Biopower and Physical Violence – Embodied Experiences in Communist Europe

Biopower and Physical Violence – Embodied Experiences in Communist Europe

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.01.2014 -
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Von
Kai Willms, Humboldt-Universität zu Berlin

Als Macht, „die den Körper und das Leben vereinnahmt oder die das Leben im allgemeinen […] mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite in Beschlag genommen hat“1 – so definierte Michel Foucault 1975 sein Konzept der „Biomacht“, das inzwischen in der Geschichtswissenschaft breit rezipiert wurde. Jene „Biomacht“ versuche nicht lediglich, strafend auf Normverstöße zu reagieren, sondern die menschlichen Körper und Verhaltensweisen ex ante zu kontrollieren und zu normieren. Diese vorrangig an westlichen Gesellschaften entwickelte Interpretation des Verhältnisses von Gesellschaft und moderner Staatlichkeit auf Erfahrungen mit Praktiken poststalinistischer Herrschaftsausübung in Ostmittel- und Osteuropa, insbesondere solche in Verbindung mit körperlicher Gewalt, anzuwenden, war Gegenstand eines Workshops, den das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) am 24. Januar 2014 in Potsdam veranstaltete. Das Thema stand dabei im Kontext des durch die Leibniz-Gemeinschaft geförderten internationalen Forschungsnetzwerks „Physical Violence and State Legitimacy in Late Socialism“, welches das ZZF seit 2011 in Kooperation mit dem Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und dem Europäischen Hochschulinstitut in Florenz organisiert.

Nach einer Begrüßung und Einführung in die Thematik durch die beiden Konzipienten des Workshops, Muriel Blaive (Prag) und Thomas Lindenberger (Potsdam), leistete CHRISTIAN KÖNIG (Jena) mit seinem Vortrag über Erfahrungen mit hormoneller Empfängnisverhütung in der DDR den ersten Beitrag zur Diskussion. Neben archivalischen Quellen stützte er sich hierbei auf eine Reihe von Interviews mit Frauen und Männern unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Konfession und unterschiedlichen Bildungsgrades, die in der DDR Erfahrungen mit hormoneller Empfängnisverhütung gesammelt hatten. Letztere sei, so König, seit Mitte der 1960er-Jahre in der DDR als ideale Lösung für das Dilemma der Vereinbarkeit von weiblicher Berufstätigkeit und Reproduktionsverhalten propagiert worden, nachdem zu Beginn der Dekade das Kontrazeptivum „Ovosiston“ erstmals erfolgreich getestet worden war. Entsprechend sei – in Abgrenzung zur „Antibabypille“ der Bundesrepublik – der Begriff „Wunschkindpille“ geprägt worden, der die hormonelle Empfängnisverhütung als Weg zur optimalen Familienplanung präsentiert habe. Hauptgrund für die offensive Bewerbung der neuen Verhütungsmethode sei allerdings die hohe Zahl an Abtreibungen in der DDR gewesen. Diese wurden zwar durch das „Familiengesetzbuch der DDR“ von 1965 legalisiert, hätten jedoch zugleich durch Kampagnen für eine bessere Familienplanung reduziert werden sollen. Um ein Absinken der Geburtenrate zu verhindern, seien außerdem Sozialprogramme aufgelegt worden.

Seinen Schwerpunkt legte König auf die Frage, wie die „Wunschkindpille“ seitens der Bevölkerung der DDR angenommen wurde. Hier kam er zu dem Ergebnis, dass nach anfänglich zögernder Annahme die hormonelle Empfängnisverhütung bis in die 1980er-Jahre zur populärsten Verhütungsmethode der DDR geworden sei, die 1989 rund 50 Prozent der Frauen anwendeten; Erfahrungen mit der „Pille“ hätten sogar 90 Prozent der Frauen gesammelt. Die Entscheidung für diese Verhütungsmethode hätten dabei – unabhängig von der befragten Altersgruppe – meist die Frauen selbst getroffen. Letztlich habe die hormonelle Empfängnisverhütung auch in der DDR die weibliche Emanzipation befördert, indem die Frauen eine neue Möglichkeit selbstbestimmter Planung des Familien- und Berufslebens erhalten hätten und dies bei ihren Partnern auf Akzeptanz gestoßen sei.

In Kontrast zu diesem Befund, dass die Einführung einer Verhütungsmethode als potentielles Instrument von „Biomacht“ zu einem höheren Maß an Selbstbestimmung, nicht lediglich zu Norminternalisierung geführt habe, stand der Beitrag von MURIEL BLAIVE (Prag). Blaive referierte, gleichfalls auf der Grundlage von archivalischen Quellen und Interviews, über die Erfahrungen tschechischer Frauen bei der Geburt ihrer Kinder vor und nach 1989, die sie mit jenen US-amerikanischer Frauen verglich. Als Gemeinsamkeit nannte sie das unangenehme Erlebnis der Frauen, beim Gebären des Kindes der Macht von Arzt und Geburtshelfer ausgeliefert zu sein – häufig in Form von Gewalterfahrungen wie einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder einer unfreiwilligen Verabreichung von Medikamenten. Erklärungsbedürftig sei jedoch der Umstand, dass die interviewten tschechischen Frauen im Unterschied zu den Amerikanerinnen den Tag der Geburt häufig als „schlimmsten Tag ihres Lebens“ in Erinnerung behielten – unabhängig davon, ob sie ihr Kind vor oder nach 1989 zur Welt brachten. Blaive machte als Ursache aus, dass sich in den USA wie in der gesamten westlichen Welt bereits seit den späten 1960er-Jahren ein breites zivilgesellschaftliches Engagement im Zusammenhang mit weiblicher Emanzipation und körperlicher Selbstbestimmung entwickelt und beispielsweise zu einem steigenden Anteil von Hausgeburten geführt habe. Die interviewten Tschechinnen hingegen hätten dazu geneigt, ausschließlich sich selbst die Schuld am Verhalten des medizinischen Personals zu geben, und seien nicht fähig gewesen, Kritik am Gesundheitssystem zu äußern. Die Unterschiede zwischen West und Ost in der Wahrnehmung des Geburtsvorgangs und seiner Umstände hätten somit nicht auf unterschiedlichen Praktiken der Ausübung von „Biomacht“, auch nicht auf der Qualität der medizinischen Ausstattung, sondern letztlich auf einem unterschiedlichen Verhältnis zwischen Bürger(in) und staatlicher bzw. staatsnaher Autorität beruht.

Der Umstand, einer Autorität ausgeliefert zu sein, stand auch im Zentrum des Vortrages von LAURA HOTTENROTT (Berlin), die sich mit den Erziehungspraktiken im sogenannten Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie auseinandersetzte. Dieses wurde 1964 vom Ministerium für Volksbildung der DDR ins Leben gerufen und war für „verhaltensgestörte“ Kinder und Jugendliche gedacht – was Hottenrott zufolge stets ein dehnbarer Sammelbegriff blieb. Hottenrott interpretierte jene Praktiken mithilfe des vom US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman entwickelten Konzepts der „totalen Institution“, die ihre Insassen von der Außenwelt isoliert, sie in ständiger Gemeinschaft leben lässt, ihren Alltag vollständig plant und ihr Verhalten permanent überwacht. Aus Interviews mit Zöglingen der 1960er- und 1970er-Jahre gewann sie einen Einblick in den Alltag der „Sonderheime“, der von einem streng reglementierten Tagesablauf, einer häufigen Verabreichung von Psychopharmaka und der Omnipräsenz physischer, psychischer und sexueller Gewalt geprägt worden sei. Statt sie individuell psychologisch zu therapieren, habe das Heimpersonal die Kinder und Jugendlichen vorrangig in Schach halten wollen, auch mittels direkter Anwendung von Gewalt oder indem die Zöglinge untereinander zu Gewalt angestiftet worden seien. Neben einer Überforderung der Erzieher und Erzieherinnen angesichts eines grassierenden Personal- und Ressourcenmangels sei hierfür auch der Ansatz kollektiver „Selbsterziehung“ ursächlich gewesen, dem zufolge die Selbstbehauptung des einzelnen Kindes oder Jugendlichen in der Gruppe Vorrang vor individuellen therapeutischen Maßnahmen haben sollte. Die Frage, ob derartige Gewaltphänomene eher die Folge der Ausübung kontrollierender und normierender „Biomacht“, wie sie etwa in der Reglementierung des Tagesablaufs ihren Ausdruck fand, oder vielmehr das Ergebnis eines Mangels an Kontrollinstanzen zur Durchsetzung von Regeln waren, wurde später Gegenstand der Diskussion.

Zunächst aber testete FANNY LE BONHOMME (Rennes/Potsdam) in ihrem Vortrag das Foucaultsche Konzept disziplinarischer Macht an der Erfahrung einer einzelnen Patientin der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Ost-Berlin, welche in den 1960er-Jahren als junge Frau an einer zweifachen Zwangsneurose litt: Einerseits fürchtete sie sich, ihr acht Monate altes Kind lebensgefährlich verletzen zu können, andererseits hatte sie Angst, eine „konterrevolutionäre Losung“ äußern zu können, was ihre Anstellung als wissenschaftliche Aspirantin der Philosophie hätte gefährden können. Der Patientenakte entnahm Le Bonhomme, dass, während der erste Teil jener Neurose mittels einer Gesprächs- und Konfrontationstherapie erfolgreich behandelt worden sei, dieser Ansatz im Hinblick auf die Furcht vor „konterrevolutionären“ Gedanken gescheitert sei, da sich die Patientin einer Äußerung eines solchen Satzes auch gegenüber dem behandelnden Arzt verweigert habe. Dies deutete Le Bonhomme als Prozess der Norminternalisierung: Der Gesinnungsdruck, nicht an der vorherrschenden Ideologie zu zweifeln, sei zum Selbstzwang und somit ein äußerer Zwang zum Bestandteil der individuellen Persönlichkeit geworden. Die disziplinarische Macht im Sinne Foucaults zeige sich hier darin, dass das Objekt der Machtausübung nicht der Verstoß, sondern die Virtualität des Verhaltens sei – die Macht greife bereits kontrollierend ins Individuum ein, bevor dieses gegen die Norm verstoßen könne.

In der darauf folgenden Diskussion wurde hingegen von Jan C. Behrends (Potsdam/Berlin) kritisch angemerkt, dass der Ansatz Foucaults nicht dazu beitrage, das Bewusstsein für die Spezifizität kommunistischer Machtausübung zu schärfen, da sich Foucault mit modernen Gesellschaften im Allgemeinen auseinandergesetzt und jene Prozesse von Norminternalisierung auch für nicht-kommunistische Gesellschaften proklamiert habe. Behrends verwies als Alternative auf Arbeiten zum „sozialistischen Selbst“, etwa von Jochen Hellbeck.2

Mit den Erfahrungen ehemaliger Heimkinder in Spezialheimen der DDR setzte sich im Anschluss AGNÈS ARP (Jena) in ihrem Vortrag auseinander. Anhand von insgesamt 30 lebensgeschichtlichen Interviews hatte Arp festgestellt, dass ein Aufwachsen in einem Spezialheim der DDR im Erwachsenenleben zu Schwierigkeiten geführt habe, Beziehungsnetzwerke herzustellen, mithin zu einer „Diskulturation“.3 Dies erklärte sie, ähnlich wie Hottenrott in ihrem Vortrag, mit dem Wesen des Heims als einer „totalen Institution“ und den alltäglichen Gewalterfahrungen der Zöglinge. Dabei erweiterte Arp den Gewaltbegriff, ausgehend von körperlicher und psychischer Gewalt, um das traumatisierende Miterleben von Gewalt, dem die Kinder und Jugendlichen in den Heimen ausgesetzt gewesen seien, indem sie bei Strafen hätten zusehen oder mithelfen müssen. Außerdem legte Arp ihren Schwerpunkt auch auf Gewalt unter den Zöglingen. Nach ihrer Einweisung seien diese der Gruppe überlassen worden, in der sie sich entweder durchgesetzt oder untergeordnet hätten, was mithilfe der Theorie der kollektiven Selbsterziehung nach Anton Semënovič Makarenko begründet worden sei.4 Auf diese Weise sei eine Solidarisierung der Heimkinder untereinander unmöglich geworden.

In der Folge entwickelte sich eine Diskussion über die Frage, inwieweit sich der Begriff der „totalen Institution“ mit der Omnipräsenz von Gewalt, auch unter den Zöglingen, vereinbaren lässt. Jan C. Behrends vertrat dabei die Position, dass die Regellosigkeit eines Gewaltraums in Kontrast zur Reglementierung des Alltags in Goffmans „totaler Institution“ stehe und dass durch die Ausübung von Gewalt der einzelne Zögling die Möglichkeit habe, vom Machtobjekt zum Subjekt zu werden. Arp dagegen widersprach einer solchen Dichotomie und betonte, dass die strikte Reglementierung des Tagesablaufs selbst als Gewalt empfunden worden sei. Jens Gieseke (Potsdam) ergänzte, dass gerade die Unmöglichkeit, sich zu entziehen, wie sie für „totale Institutionen“ kennzeichnend sei, die Entstehung eines Gewaltraums begünstigt habe.

Mit häuslicher Gewalt gegenüber Frauen im poststalinistischen Polen setzte sich im letzten Vortrag des Workshops schließlich BARBARA KLICH-KLUCZEWSKA (Krakau) auseinander. Sie stützte sich dabei auf Gerichtsakten und Leserbriefe von Frauen, die selbst Gewalt erfahren oder Zeuginnen häuslicher Gewalt geworden waren, sowie auf den öffentlichen Diskurs im Polen der 1970er- und 1980er-Jahre über die Rolle der Frauen in der Familie. Sie stellte fest, dass während der beschleunigten gesellschaftlichen Transformation während der 1970er-Jahre im soziologischen Diskurs häufig den Frauen die Schuld an einer Destabilisierung der traditionellen polnischen Familie gegeben worden sei. Gleichzeitig sei jedoch das öffentliche Interesse am Thema innerfamiliärer Gewalt gestiegen. In den Leserbriefen, die betroffene Frauen an Magazine richteten, sei dabei vor allem ihre Hilflosigkeit zum Ausdruck gekommen, da sie sich von staatlichen Organen keine Hilfe erhofft hätten und auch eine Scheidung nach damaligem Recht keine Unabhängigkeit vom gewalttätigen Mann bedeutet habe. Die Äußerung in der Öffentlichkeit, die von der staatlichen Zensur nicht unterbunden worden sei, hätten die betroffenen Frauen daher als einzigen Ausweg aus jenem hilflosen Zustand angesehen.

In der Abschlussdiskussion warf Thomas Lindenberger die Frage nach einem programmatischen Zusammenhang von Biopolitik und kommunistischer Herrschaft auf. Als Antwort kristallisierte sich die Möglichkeit der Herrschaftsträger heraus, jegliches abweichende Verhalten zu pathologisieren und sich auf diese Weise unliebsamer Akteure zu entledigen – wobei hinsichtlich der Ausübung von „Biomacht“ erhebliche Unterschiede zwischen den Staaten des Ostblocks und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Jugendheimen, Krankenhäusern und privaten Haushalten bestanden. Diese Unterschiede zu erklären, wird Aufgabe weiterer Forschung sein. Poststalinistische Gesellschaften waren somit – dies lässt sich als Ergebnis des Workshops festhalten – durch eine zunehmende Desintegration gekennzeichnet: Während Gewalt als Mittel der Politik ihre Legitimität weitgehend verloren hatte, erhielten sich in einigen, von der Öffentlichkeit abgegrenzten Bereichen der Gesellschaft quasi-stalinistische Formen der Gewaltausübung – teils bis in die Gegenwart hinein.

Konferenzübersicht:

Thomas Lindenberger (Potsdam), Welcome Words and Presentation of the Project “Physical Violence and State Legitimacy in Late Socialism”

Christian König (Jena), Individual Experiences of Women (and Men) with Hormonal Contraception in the GDR

Muriel Blaive (Prag), Childbirth as an Embodied Experience. Women, Gender and Biopower in Post-1968 Czechoslovakia

Laura Hottenrott (Berlin), Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie (1964–1987)

Fanny Le Bonhomme (Rennes/Potsdam), Macht und Kommunismus in der DDR. Erfahrungen von Patienten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité (Ost-Berlin, 1960–1968)

General discussion on all four papers

Agnès Arp (Jena), Demütigungen, Strafen, Schläge, Drohungen und öffentliche Bloßstellungen. Erinnerte Gewalt von ehemaligen Heimkindern aus Spezialheimen der DDR

Barbara Klich-Kluczewska (Krakau), “That is a House of Fears”. Women and Their Experience of Violence in Postwar Poland

General discussion

Anmerkungen:
1 Zitiert nach Petra Gehring, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 10.
2 Vgl. beispielsweise Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, MA 2006.
3 Der Begriff „Diskulturation“ bezeichnet nach Erving Goffman innerhalb „totaler Institutionen“ einen Prozess des Verlernens, mit bestimmten Gegebenheiten der Außenwelt umzugehen, vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 10. Aufl., Frankfurt am Main 1995 (1. Aufl. 1973), S. 24.
4 Zur Theorie Makarenkos vgl. Johannes-Martin Kamp, Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen, Opladen 1995, S. 467–544.


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