Die katholische Diaspora in Deutschland - Stand und Perspektiven der Forschung

Die katholische Diaspora in Deutschland - Stand und Perspektiven der Forschung

Organisatoren
Benjamin Gallin, Leipzig; Konstantin Manthey, Berlin; Diözesangeschichtsverein Berlin; Katholische Akademie Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.03.2014 - 22.03.2014
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Von
Julia-Carolin Boes, Hannover

In der kirchen- und allgemeingeschichtlichen Forschung findet die Geschichte der katholischen Diaspora erst seit ca. zwei Jahrzenten eine deutlicher wahrnehmbare Aufmerksamkeit. Umso interessanter war die Standortbestimmung, welche am 21. und 22. März 2014 mit der Tagung „Die katholische Diaspora in Deutschland - Stand und Perspektiven der Forschung" in der Katholischen Akademie in Berlin stattfand. Die Tagungsleitung (Benjamin Gallin und Konstantin Manthey) kooperierte mit dem Diözesangeschichtsverein Berlin und der Katholischen Akademie Berlin. Unterstützt wurde die Veranstaltung durch das Cusanuswerk und das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken. Ziel der in vier inhaltliche Abschnitte gegliederten Tagung war es, neben einer Standortbestimmung der Forschungssituation und der Ausschärfung der Definition des Diasporabegriffs den Austausch zu diesem Thema zu fördern und Impulse für eine weitere Beschäftigung mit diasporageschichtlichem Schwerpunkt zu geben.

In seinem Eröffnungsvortrag stellte CHRISTOPH KÖSTERS (Berlin) die Verbindung zwischen zeitgeschichtlicher Katholizismusforschung und Diasporaforschung her und verwies zugleich auf die Begriffsdefinition H.-G. Aschoffs, welche nach wie vor als wichtiger Referenzpunkt gelten müsse. Im Gegensatz zur Katholizismusforschung, die sich sozial- und kulturwissenschaftlichen Methoden gegenüber geöffnet habe, sei die Diasporaforschung nach im Rückstand. Bezüglich der Begriffsgeschichte konstatierte Kösters eine verwirrende begriffliche Vielfalt, von einem quantitativen Verständnis, über einen Begriff mit dem Wiederhall einer kirchenpolitischen Konfliktlage bis hin zu einem identitätsstiftenden Diasporaverständnis. Neben der Begriffsgeschichte betonte der Referent, unter anderem an Hand von Beispielen, den Wandel von Selbst- und Fremddeutungen von Diaspora, die Bedeutung der Diasporaforschung für die Gedächtniskultur und die Notwendigkeit, die Diasporaforschung in größere Zusammenhänge wie zum Beispiel Migration, Minderheiten, Säkularisierung, Milieuforschung einzubetten.

1. Diaspora als Begriff und als Handlungsfeld

Im ersten Tagungsteil beleuchteten drei Referenten den Begriff der Diaspora an konkreten Beispielen aus dem Berliner und gesamtdeutschen Kontext. Auffällig bei dieser Auseinandersetzung sowohl mit dem Begriff in seinen verschiedenen Facetten als auch der jeweils spezifischen Hintergrundes des Verständnisses von Diaspora, waren die unterschiedlichen Charakteristika von Diasporasituationen und Diasporaformen, die in diesen Vorträgen deutlich wurden. CHRISTIAN MÜLLER-LORENZ (Potsdam) charakterisierte sehr gelungen die Situation in Berlin zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den frühen 1960er-Jahren. Auf der Basis der Analyse umfangreichen statistischen Materials stellte Müller-Lorenz fest, man könne Berlin im 20. Jahrhundert aufgrund der Katholikenzahl als „Ausnahmeerscheinung der Diaspora“ bezeichnen. Es sei eine zahlenmäßige „kritische Masse“ für eine Breitenwirkung des Katholizismus erreicht worden. Doch würden sich Diaspora-Phänomene allmählich auch in bisherigen Mehrheitsregionen zeigten, so dass die „Neue Diaspora“ ein Desiderat der Katholizismusforschung geworden sei.

Inhaltlich anschließend, charakterisierte STEPHAN MOKRY (München) das Diasporaverständnis Julius Döpfners in den dessen drei Wirkungsbereichen Würzburg, Berlin und München und betonte, dass die situations- und erfahrungsbedingten Veränderungen von einer eher „kulturkämpferischen“ zu einer dialogorientierten Haltung geführt hätten. Die die Berliner Situation bildete in den anschließenden Debatten beider Fälle einen Schwerpunkt. Intensiv diskutiert wurde hier über die Frage der Zuschreibung einer Diasporasituation, das heißt die Abhängigkeit von der persönlichen Situation, Haltung und Perspektive des Sprechers und inwiefern die Berliner Situation ein besonderes Diasporaverständnis - insbesondere bei Döpfner - geprägtes habe.

Der letzte Vortrag dieses Abschnitts erweiterte die Debatte um die Definition einer Diasporasituation nochmals um einem weiteren Schwerpunkt: TILLMANN BENDIKOSWKI (Hamburg) verwies auf den vom Bonifatiusverein geprägten Diasporabegriff, welcher sich aus dem Begriff und Verständnis der „Mission“ entwickelt habe. Damit stehe die Diaspora als „Leidensbegriff“ entsprechenden Handlungsoptionen gegenüber und sei somit eher als zugeschriebener Zustand bzw. als kommunikative Konstruktion zu verstehen. Entsprechend sei auch der Wandel zur „Neuen Diaspora“ vom Bonifatiusverein entsprechend vertreten und beworben worden. Im Hinblick auf die zukünftige Diasporaforschung sei daher interkonfessionelle Vergleich unbedingt notwendig, da das Diasporaverständnis nicht nur den Katholiken, sondern immer auch „den Anderen“ in den Blick nehme. Auch das Verhältnis von Bonifatiusverein und Gustav-Adolf-Verein müsse beachtet werden.

2. Diaspora im interkonfessionellen Vergleich

Der zweite Abschnitt der Tagung beschäftigte sich mit der Anwendung des Diasporabegriffes in einem interkonfessionellen Kontext. Die zwei Referenten dieses Teils regten mit ihren Vorträgen zur weiteren Auseinandersetzung mit diesen Schwerpunkten an. ULRIKE GEISLER (Leipzig) stellte am Beispiel Sachsens im frühen 19. Jahrhundert die Situation von Lutheranern, Reformierten und Katholiken dar. Ausgehend von der Konversion des Kurfürstens 1697 habe nicht nur die religiöse Pluralisierung in diesem Gebiet begonnen, sondern auch ein breite Facette von Spannungen, Konflikten und Anpassungsprozessen. In diese habe der Staat versucht regelnd einzugreifen, doch sei dies vor allem auf der kirchlich-administrative Ebene, insbesondere bei Mischehen, nicht immer erfolgreich möglich gewesen. Hinsichtlich des Zusammenlebens von Lutheranern und Reformierten sei es jedoch ab 1818 zu einer gewissen Eingliederung der Reformierten unter die lutherische Obrigkeit und einen damit verbundenen Abbau von Spannungen gekommen.

ZEF SEGAL (Haifa) erweiterte den Aspekt der interkonfessionellen Entwicklungen durch eine sehr interessante Herangehensweise: Sein Vortrag baute auf die statistischen wie staatsrechtlichen Grundlagen nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 auf. Der Referent betrachtete die konfessionellen Verteilungen und die Neuordnung staatlicher Strukturen in dieser Zeit. Ausgehend von der These der Bedeutung der Nutzung von Räumen stellte er fest, die Napoleonische Neuordnung habe zahlreiche religiöse Minderheitsgruppen entstehen lassen und die neuen Staaten vor die Problematik von grenzüberschreitenden kirchlichen Institutionen, welche zunehmend als Problem gesehen worden seien, und die Aufgabe der Schaffung von entsprechenden Strukturen gestellt. In der sich anschließenden Diskussion wurde, mit Bezugnahme auf die Darstellung Segals, hervorgehoben, dass die Einzelstaaten zwar sehr unterschiedliche Wege bei der Neuordnung der kirchlichen Situation gegangen seien und dass das Konzept der „Landeskirchen“ im Bereich der protestantischen Kirchen funktioniere, aber im Bezug auf die staatliche Integration der kath. Kirche nicht erfolgreich gewesen sei.

3. Kirchenbau in der Diaspora

Der dritte Tagungsabschnitt stand ganz im Zeichen des Kirchenbaus in der Diaspora wobei sich die Schwerpunkte der beiden Referenten sehr gut ergänzten. Im ersten Vortrag gab JUDITH REHFELD (Potsdam/ Greifswald) einen Überblick über die Gemeinden und ihre Kirchenbauten in der Delegatur Brandenburg. Ausgehend von einem konkreten Beispiel einer Gemeinde gab sie einen Überblick über die Errichtung von Kirchbauten in diesem Gebiet. Dabei ging die Referentin insbesondere auf räumliche und organisatorische Fragen in den jeweiligen Orten ein und kam zu dem Fazit, dass bei der Bauausführung eine weitgehende Anpassung an regionale Traditionen und lokale Gegebenheiten erfolgt sei, es sich jedoch in der Regel nicht um Repräsentationsbauten gehandelt habe. Am Begriff der „Repräsentation“ entwickelte sich die folgende Diskussion, insbesondere wurde hier der Vergleich zwischen den Kirchenbauten des 19. Jahrhunderts und den Barackenbauten der Flüchtlingskirchen der Nachkriegszeit thematisiert.

Insofern fügte sich der nachfolgende Vortrag von KONSTANTIN MANTHEY (Berlin) praktisch nahtlos an, da dieser mit Bezugnahme auf die Richtlinien des Bonifatiusvereins gleich eingangs zitierte: „das 19. Jahrhundert mit seiner Reißbrettgotik ist der Bauaufgabe Diasporakirchenbau nicht gewachsen“. Ausgehend von den Richtlinien des Bonifatiusvereins erläuterte der Referent das Förderungssystem des Vereins sowie das System der Vorzugslisten für Unterstützungsprojekte, um dann intensiver auf die Rolle des Gutachters Max Sonnen und des Architekten Carl Kühn und dessen Bauten in Berlin und Umgebung einzugehen. Letztlich, so Manthey, werde am Berliner Beispiel die Positionierung von Kirchenleitung und Geldgebern als wesentliches Kriterium für den Stil und die Größe der Kirchen deutlich. So habe sich beispielsweise J. Deitmer für „viele, wenn auch kleine Kirchen“ eingesetzt. In der folgenden Diskussion wurde neben der Frage nach der Haltung des Bonifatiusvereins zur Moderne in der Architektur auch der Umgang mit dem kulturellen Erbe angesichts von heutigen Strukturreformen und Gemeindefusionen thematisiert.

4. Kirche der Minderheit und Mehrheitsgesellschaft

Im vierten und letzten Teil der Tagung mit dem Titel „Kirche der Minderheit und Mehrheitsgesellschaft“ stand neben der Selbstwahrnehmung der Diasporakatholiken, die Fremdwahrnehmung als konfessionelle Minderheit mit eigenen, oft von der Mehrheit konvergierenden Traditionen, Regel und Ritualen im Mittelpunkt. LENA KRULL (Münster) verdeutlichte diese zwei Perspektiven an einem Berliner Beispiel mit weitreichenden Folgen: der Wallfahrt zur Prozession nach Spandau. Die seit 1830 durchgeführte Wallfahrt sei die „Manifestation einer kulturell-gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Rolle der Religion in der Gesellschaft“ gewesen, die mit zunehmender Größe zur Wahrnehmung der Katholiken als Bedrohung der Mehrheitsgesellschaft geführt habe. Ein negative Presse-Rezeption und nicht zuletzt der Moabiter Klostersturm hätten die Konflikte bis zu Handgreiflichkeiten eskalieren lassen, zu einer tiefgreifende Verstörung der Diasporakatholiken und schließlich zum Verbot der Wallfahrt in der Zeit des Kulturkampfes geführt.

Einen spannenden Vergleich zwischen der Situation der Diasporakatholiken in der Zeit der Industrialisierung und der Situation der Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg bot der Vortrag von MICHAEL HIRSCHFELD (Vechta). Am Beispiel Oldenburgs verglich der Referent „alte“ und „neue“ Diaspora, das heißt die Einwanderer des 19. Jahrhunderts und die Vertriebenen des 20. Jahrhunderts. Zentral, so Hirschfeld, seien die Selbst- und Fremderfahrungen, die Rolle von Priestern und Laien sowie die Sichtweise auf die Mehrheitsgesellschaft. Wenngleich es zahlreiche Parallelen gebe, so wiesen die Vertriebenen einen anderen Typus von Katholiken auf als die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts. Außerdem habe die Einwanderung zur Industrialisierungszeit vor allem in die Städte betroffen, wohingegen nach 1945 die schwerpunktmäßig Ansiedlung in ländlichen Regionen zu einer Expansion in der Fläche und damit zu einem „zweiter Frühling katholischen Diasporalebens“ geführt hätten.

Im abschließenden Referat des vierten Tagungsabschnitts beschäftigte sich BENJAMIN GALLIN (Leipzig) mit der Frage der Zugehörigkeit katholischer Einwanderer zu Gemeinde und Gesellschaft in Sachen im 19. und frühen 20. Jahrhundert und den damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Die extreme Diasporasituation und die sächsische Rechtslage hätte dem Referenten zu Folge zu einer besonderen Situation geführt, in welcher die kirchliche und gesellschaftliche Zugehörigkeit und Integration fast schon individuell hätten definiert werden müssen. In diesen Entscheidungssituationen seien „religiöse, wirtschaftliche und persönliche Beweggründe miteinander kaum in Übereinstimmung zu bringen“ gewesen. So sei, wenn es keine Diasporamilieus gab, die die kirchliche Bindung der Zuwanderer von sich aus absicherten, auf die Entscheidung des Einzelnen angekommen und - so das Fazit des Referenten - dann sei es sinnvoll, „die Entscheidungswege und die Prozesse von Inklusion und Exklusion auf der Ebene von Gemeinde und Gesellschaft zu beschreiben“.

Die abschließende Auswertung der Tagung fiel zu Recht sehr positiv aus. Schon die angeregten Debatten der einzelnen Tagungsteile hatten gezeigt, dass das Interesse an der Thematik groß war und sich die vorgestellten Aspekte sicherlich noch durch zahlreiche weitere Beispiele und Themenfelder ergänzen ließen. Auch in der Abschlussrunde nahm die Auslegungen des Begriffs der Diaspora wieder ein breites Feld ein. Hier, wie auch in anderen Bereichen der Diasporaforschung bzw. der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Diasporagebiete sind noch deutliche Desiderate festzustellen. Insbesondere gilt dies für die Diasporaidentität, die Prozesse der Gemeindebildung, die Frage der Interkonfessionalität sowie die Rolle der Geistlichen in der Diaspora.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag

Christoph Kösters (Bonn): Diaspora in Deutschland – Aspekte und Perspektiven ihrer zeitgeschichtlichen Erforschung

I – DIASPORA ALS BEGRIFF UND HANDLUNGSFELD

Christian Müller-Lorenz (Potsdam): „Fürchte dich nicht, du kleine Herde“ – Berlin als katholische Diaspora

Stephan Mokry (München): Dreimal Diaspora? Sondierungen zum Diasporaverständnis bei Julius Döpfner an seinen Wirkungsstätten Würzburg, Berlin sowie München und Freising

Tillmann Bendikowski (Hamburg): Das Bild von der Diaspora. Die kommunikative Konstruktion katholischer Diasporaarbeit am Beispiel des Bonifatiusvereins

II – DIASPORA IM INTERKONFESSIONELLEN VERGLEICH

Ulrike Geisler (Leipzig): Die rechtliche Gleichstellung konfessioneller Minderheiten in Sachsen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Zef Segal (Haifa): Nationalizing the global and the local: spatial re-organization of the catholic and protestant churches following the end of the Holy Roman Empire

III – KIRCHENBAU IN DER DIASPORA

Judith Rehfeld (Potsdam/Greifswald): Katholische Gemeinden und ihre Sakralbauten in der Preußischen Provinz Brandenburg 1850-1914

Konstantin Manthey (Berlin): Diasporakirchenbau und das Wirken Carl Kühns im Bereich des Bistums Berlin 1912-1938

IV – KIRCHE DER MINDERHEIT UND MEHRHEITSGESELLSCHAFT

Lena Krull (Münster): Prozession und Provokation. Die Wahrnehmung des Berliner Diasporakatholizismus im Kulturkampf

Michael Hirschfeld (Vechta): Die innerkirchliche und gesellschaftliche Rolle der Diasporakatholiken zwischen Industrialisierung und 2. Vatikanischem Konzil am Beispiel Oldenburgs

Benjamin Gallin (Leipzig): Aushandlungen von Zugehörigkeit. Katholische Einwanderer in Sachsen 1871-1914


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