Herrschaft vor Ort − Kommunalverwaltungen im 19. und 20. Jahrhundert

Herrschaft vor Ort − Kommunalverwaltungen im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Mathias Irlinger / Paul-Moritz Rabe / Anette Schlimm / Florian Wimmer, Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.03.2014 - 28.03.2014
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Von
Timo Luks, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Der Workshop Herrschaft vor Ort − Kommunalverwaltungen im 19. und 20. Jahrhundert widmete sich der Praxis der Verwaltung aus lokal(geschichtlich)er Perspektive. Dabei wurde der Versuch unternommen, Kommunen als „komplexe Schaltstellen im politischen Mehrebenensystem“ sichtbar zu machen. Besondere Aufmerksamkeit galt Konflikten und Dynamiken, die sich aus dem historisch wirkmächtigen Spannungsfeld von Lokalismus und Zentralismus ergeben. Erklärtes Ziel war es, Kommunalverwaltungen als „Interaktionspartner“ von Bürgern, Zentralstaat, anderen Kommunen und externen Körperschaften – und damit als Teil eines relationalen Gefüges – zu konturieren. ANETTE SCHLIMM (München) machte in ihrem Einführungsvortrag zum Wandel historischer Problematisierungen von kommunaler Selbstverwaltung deutlich, dass der Dualismus von Staat und Kommune nicht einfach als Strukturprinzip vorausgesetzt, sondern selbst zum Gegenstand der Forschung gemacht werden sollte. Gerade die Tendenz, diesen Dualismus als Gegensatz von Herrschaft und Selbstverwaltung zu fassen, verstelle eher den Blick auf lokale Herrschaftspraktiken als dass sie das historische Verständnis von Kommunalverwaltungen vertiefe. Der Vortrag machte deutlich, dass zahlreiche Kategorien, die bis heute verwendet werden, um (Kommunal-)Verwaltung analytisch zu durchdringen, ihrerseits eine lange Geschichte als Selbst- und Fremdbeschreibungskategorien behördlicher Akteure haben – und daher von kommunal- und verwaltungsgeschichtlichen Forschungen in ihrer Historizität zu berücksichtigen wären.

Das erste Panel, „Verwaltungsebenen im Wechselspiel“, thematisierte administrative Mittelinstanzen, die in der letzten Zeit stärker in den Vordergrund gerückt sind, um den polyzentrischen Charakter von Verwaltung im Anstaltsstaat hervorzuheben. RÜDIGER VON KROSIGKs (Speyer) Ausführungen zu den badischen Bezirksräten im 19. Jahrhundert, JONAS GRYGIERs (Frankfurt an der Oder) Diskussion der polnischen Lokalverwaltung im Kontext sozialistischer Staatlichkeit, DOMINIK SCHOLZ‘ (Berlin) Projekt zur Stadtbildkonstruktion in Brüssel und Lyon seit den 1950er-Jahren und PAUL-MORITZ RABEs (München) Forschungen zur kommunalen Finanzpolitik Münchens im Nationalsozialismus wiesen alle in eine ähnliche Richtung: die Relativierung des traditionellen Bilds von Verwaltung als einer homogenen Instanz sowie als ‚neutrales‘ Instrument für die mehr oder weniger lineare ‚Umsetzung‘ politischer Entscheidungen – zugunsten einer pluralistischen Akteurs- und Netzwerkperspektive. Verwaltungshandeln, so lässt sich schließen, hat stets eine horizontale und eine vertikale Dimension, die mit dem nach wie vor verbreiteten Bild von Verwaltung als hierarchischer Pyramide nicht zu fassen ist. Offen blieb allerdings, ob es sich hierbei primär um eine analytische Perspektive handelt, die die Gegebenheiten gegenwärtiger Netzwerkgesellschaften reflektiert, oder ob hier eine Verschiebung unseres Bilds der Verwaltungsrealität in der ‚autoritären Hochmoderne‘ (James C. Scott) eingeleitet werden soll.

Das zweite Panel, „Interkommunale Verhältnisse“, verfolgte, eingeleitet durch JOCHEN FRANZKEs (Potsdam) Vortrag, die Vernetzung kommunalen Verwaltungshandelns. Diskutiert wurde, ob sich im Rahmen interkommunaler Zusammenarbeit bestimmte Muster herausbilden. KATRIN DÖNGES (Düsseldorf) diskutierte am Beispiel der Oberhausener Stadtverwaltung Initiativen zur kommunalen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die in einer Situation entstanden, in der Kommunen sich gegenseitig beobachteten und ihre Strategien auch im Rahmen des Städte- und Gemeindetags aneinander ausrichteten, ohne dass eine übergreifende, koordinierte erinnerungskulturelle Arbeit forciert worden wäre. FELIZITAS SCHAUBs (Berlin) Projekt zu Mobilität und Migration in Berlin und Prag um 1900 lenkte die Aufmerksamkeit auf (inter-)kommunale Lernprozesse, die als prekärer Versuch interpretiert werden könnten, überkommunale Problemkonstellationen und kommunale Besonderheiten in Einklang zu bringen. LENA KUHLs (Erkner) Forschungen zu den Bezirksverwaltungen in der DDR rückten die Frage zentral ‚orchestrierter‘ Konkurrenz und Kooperation verschiedener (Verwaltungs-)Regionen in den Mittelpunkt. Im Panel wurde sichtbar, dass interkommunale Verhältnisse asymmetrisch und polyzentrisch sind. Eindeutige (Richtungs-)Muster für politische Initiativen finden sich kaum. Das Panel lieferte, wenn auch nicht immer explizit, starke Argumente dafür, Kommunalgeschichte als Kommunengeschichte (im Plural) zu konzipieren: als eine Geschichte, die parallele Reaktionen auf gesellschaftliche Problemlagen, deren Verschachtelung, Adaption und Abgrenzung konsequent einbezieht.

Das dritte Panel, „Interaktion mit nicht-staatlichen Akteuren“, nahm Beziehungen von Kommunalverwaltungen mit sehr unterschiedlichen Akteuren in den Blick. Als Kooperationspartner thematisiert wurden die Banken von MARTIN JUNKERNHEINRICH (Kaiserslautern), die jüdische Gemeinde am Krakauer Beispiel von HANNA KOZINSKA-WITT (Rostock) sowie die katholischen Wohlfahrtsverbände im Kontext der nationalsozialistischen (kommunalen) Sozialpolitik von FLORIAN WIMMER (München). Kooperationsbeziehungen reflektierten entweder neue Aufgaben – etwa die Notwendigkeit einer Vermittlung nationaler Bürgeridentität mit lokalen, kulturell-religiösen Identitäten im Habsburger Vielvölkerstaat – und wurden mittels Neuschaffung von Instanzen bewerkstelligt, die – wie die Abteilung für jüdische Angelegenheiten im Krakauer Stadtrat – administrativen und zivilgesellschaftlichen Zuschnitts waren; oder aber sie funktionierten als Umdeutung bereits etablierter Kooperationspraxen, wie etwa die Einbindung kirchlicher Wohlfahrtseinrichtungen in die Münchener Kommunalpolitik. All das warf die Frage nach den Grenzen von Verwaltung auf, die sich anders gestalten, je nachdem, ob Verwaltung als Behörde oder als Praxis begriffen wird.

Das vierte Panel, „Verwaltete Bevölkerung“, zielte darauf, wie SABINE MECKINGs (Duisburg/Düsseldorf) Einführungsvortrag verdeutlichte, Verwaltungsgeschichte als „ambivalente Beziehungsgeschichte“ zu umreißen, die sich in historisch wandelbaren Settings konkretisiert. Die Projektvorstellungen spielten verschiedene Beziehungsmodi von Verwaltung und Verwalteten durch: mittels politischer und geheimer Polizei im napoleonischen Königreich Westfalen, wie MAIKE BARTSCH (Kassel) darstellte, ständisch-korporativer Selbstverwaltungsorgane in Schweizer Städten der Neuzeit im Vortrag von DANIEL SCHLÄPPI (Bern) sowie mittels kommunaler Infrastrukturpolitik am Beispiel Münchens im Nationalsozialismus, vorgestellt von MATHIAS IRLINGER (München). Verwalter und Verwaltete, so viel kann hier wohl gefolgert werden, bildeten kaum jemals zwei strikt getrennte und gegeneinandergestellte Gruppen. Private, ‚bürgerschaftliche‘ Zusammenschlüsse übernahmen nicht nur bestimmte Verwaltungsaufgaben, um Herrschaftsansprüche, Respektabilität und sozialen Status zu sichern, sondern es etablierten sich bereits im neunzehnten Jahrhundert und darüber hinaus regelrechte private-public-partnerships.

In einer zusätzlichen, öffentlichen Abendveranstaltung stand die Frage zur Diskussion, ob Vergangenheit(sbewältigung) eine kommunale Aufgabe sei und was das für den kommunalpolitischen Alltag wie auch die erinnerungskulturelle Theorie und Praxis bedeutet. Der scheidende Münchener Oberbürgermeister CHRISTIAN UDE (München) skizzierte in seinem Vortrag die verschiedenen Etappen der ‚Aufarbeitung‘ der nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt München. Ude skizzierte aus seiner Sicht die Hintergründe einer in bundesdeutscher Perspektive vergleichsweise kontroversen Behandlung der ‚Stolpersteine‘, die sich in München in eine Kette von Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Landesregierung um die Erinnerung (vor allem: die Orte und die Art der Erinnerung) an Kurt Eisner, die Weiße Rose usw. einsortierte. In der anschließenden Podiumsdiskussion mit MALTE THIESSEN (Oldenburg) und CHRISTIAN KUCHLER (Aachen) wurde das erinnerungspolitische Feld der letzten Jahrzehnte vermessen. Dass das Ganze nicht ausschließlich zu einem Münchener Schaulaufen wurde, verdankte sich dem wiederholten Bemühen Malte Thießens, Kenner der Hamburger Erinnerungslandschaft, um eine vergleichende Perspektive.

Im Zentrum des Workshops standen weniger einzelne Projektdiskussionen, sondern eine übergreifende Verständigung über Zuschnitte kommunal- und verwaltungsgeschichtlicher Forschungen. Dabei ist es durchweg gelungen, panelübergreifend produktiv zu diskutieren. Unterfüttert durch differenziertes Material und (Zwischen-)Ergebnisse thematisch vielfältiger Forschungsprojekte wurden konzeptionelle Herausforderungen einer Verwaltungsgeschichte verhandelt, die ihren Ausgangspunkt in Kommunalverwaltungen und lokaler Herrschaftspraxis nimmt.

Erstens fiel auf, dass jüngere Forschungen inzwischen einen deutlichen Paradigmenwechsel vollzogen haben. An die Stelle früherer Ansätze, die Verwaltungsgeschichte tendenziell als eine homogenisierende Behördengeschichte konzipierten, treten Arbeiten, die im weitetesten Sinn einem governance-Ansatz zuzuordnen wären, denen an der Rekonstruktion konkreten decision makings gelegen ist und die auf personelle Verflechtungen und Akteursnetzwerke blicken. Im Mittelpunkt vieler vorgestellter Projekte stehen (personelle) Interaktionen und Allianzen, denen hohe Erklärungskraft für Behördenhandeln, aber vor allem auch für die Verzahnung verschiedener Verwaltungsebenen, etwa mittels Ämterhäufung, zugeschrieben wird. Gegenüber dem älteren, institutionengeschichtlichen Paradigma kann diese Perspektive wesentliche neue Erkenntnisse zutage fördern. Allerdings wurden in den Diskussionen auch mögliche Schwierigkeiten eines solchen Perspektivwechsels verhandelt. Zur Debatte stand, ob nicht wichtige Dimensionen lokaler Herrschaftspraxis aus dem Blick geraten, wenn Verwaltung auf personelle Netzwerke und Klientelbeziehungen reduziert wird. Dabei ging es um die Angemessenheit und Tragfähigkeit einer Perspektive, in deren Zentrum die Annahme ausschließlich nutzenmaximierender, Eigeninteressen verfolgender Akteure steht. Es bleibt eine Herausforderung für aktuelle und zukünftige Forschungen, die Frage zu klären, wie aus den vielfältigen Interaktionen derartig konzipierter Akteure ‚Verwaltungshandeln‘ entsteht.

Zweitens wurde der Frage nachgegangen, wie personelle Interaktionen zu kontextualisieren sind. Dabei wurde die Notwendigkeit deutlich, Fallstudien zur konkreten Verwaltungspraxis in abgegrenzten Zeiträumen mit hoher personeller Kontinuität mit längerfristigen Entwicklungstrends zu verbinden. Die Frage, ob und inwieweit konkretes Verwaltungshandeln lokalen Konstellationen geschuldet oder durch andere Faktoren determiniert ist, muss immer wieder neu beantwortet werden. Dass und wie das möglich ist, haben nicht zuletzt die Projekte zur Münchener Stadtverwaltung im Nationalsozialismus gezeigt. Die Kontextualisierung von Verwaltungshandeln beinhaltet zudem Fragen nach der Formierung bestimmter Akteurstypen und Rationalitäten, nach einem möglicherweise wirksamen ‚administrativen Habitus‘ sowie vor allem – das kam in den Diskussionen immer wieder zur Sprache – nach dem Stellenwert je spezifischer Verwaltungskulturen oder lokaler politischer Kulturen für die alltägliche Verwaltungspraxis. Hier liegt im Übrigen auch eine zentrale Herausforderung für die auf dem Workshop vorgeführte Verschränkung von Kommunal- bzw. Stadtgeschichte mit Verwaltungsgeschichte.

Diese beiden Diskussionsstränge unterstrichen wie auch die einzelnen Projektvorstellungen eindrucksvoll, was die Veranstalterinnen und Veranstalter programmatisch angelegt hatten: dass Verwaltung längst nicht mehr ausschließlich als ‚Behörde‘ verstanden werden kann, sondern als soziale (Herrschafts-)Praxis zu akzentuieren ist.

Konferenzübersicht:

Einführungsvortrag

Anette Schlimm (München), Kommunalverwaltung in der Moderne zwischen staatlicher Herrschaft und Selbstverwaltung

Panel 1: Verwaltungsebenen im Wechselspiel

Rüdiger von Krosigk (Speyer), Herrschaft und Legitimation im Spannungsfeld von Bürokratisierung und Bürgerbeteiligung in Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit am Beispiel Badens im 19. Jahrhundert

Dominik Scholz (Berlin), Mit Altstadt zur internationalen Metropole? Deutungskonflikte und politische Prozesse zur Stadtbildkonstruktion Brüssels (1952-1979) mit einem Vergleich zu Lyon

Jonas Grygier (Frankfurt an der Oder), Die Umsetzung von (neuer) Ordnung – Die soziale Praxis lokaler Verwaltung unter Bedingungen sozialistischer Staatlichkeit in der Volksrepublik Polen am Beispiel der Wojewodschaft Breslau (1953-1973)

Paul-Moritz Rabe (München), Haushalt und Herrschaft. Kommunale Finanzpolitik im nationalsozialistischen München

Öffentliche Abendveranstaltung
Christian Ude (Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München), Städtetag und „Drittes Reich“ – Stadtverwaltung und „Drittes Reich“

Podiumsdiskussion „Erinnerung vor Ort – Vergangenheit als kommunale Aufgabe“ (Malte Thießen, Christian Kuchler)

Panel 2: Interkommunale Verhältnisse

Jochen Franzke (Potsdam), Zwischen Kooperation und Wettstreit. Zur interkommunalen Zusammenarbeit deutscher Kommunen im 19. und 20. Jahrhundert

Katrin Dönges (Düsseldorf), Die Oberhausener Stadtverwaltung und ihre Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und ihrer eigenen Verfolgungsrolle (1945 bis 1991)

Lena Kuhl (Erkner), „Örtliche Organe der Staatsmacht“. Die DDR-Bezirke und Kreise als Objekte und Akteure staatlicher Planung, 1952-1989

Felizitas Schaub (Berlin), Stadtnomaden. Mobilität und Migration in Berlin und Prag (1867-1914)

Panel 3: Interaktion mit nicht-staatlichen Akteuren

Martin Junkernheinrich (Kaiserslautern), Kommunen und Banken – zur Veränderung der Interaktion hochverschuldeter Städte und ihrer Kreditgeber

Hanna Kozinska-Witt (Rostock), Kommunalverwaltung in einer multikonfessionellen Stadt: Krakau im 19. und 20. Jahrhundert

Florian Wimmer (München), Die völkische Ordnung von Armut – Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München

Panel 4: Verwaltete Bevölkerung

Sabine Mecking (Duisburg / Düsseldorf), Menschen und ihre Verwaltung – Eine ambivalente Beziehungsgeschichte

Maike Bartsch (Kassel), Macht und Ohnmacht. Hohe Polizei und lokale Herrschaftspraxis im Königreich Westphalen (1807–1813)

Daniel Schläppi (Bern), Gemeindeverwaltung im Modus korporativer Selbstverwaltung

Mathias Irlinger (München), Die Stadt als Dienstleister: Kommunale Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen in München 1933 bis 1945

Schlusskommentar: Stefan Fisch