Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus – Bestandsaufnahme und Perspektiven

Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus – Bestandsaufnahme und Perspektiven

Organisatoren
Dominik Groß / Matthis Krischel / Mathias Schmidt, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen; Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.10.2013 - 09.10.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Mathias Schmidt / Tina Winzen / Matthis Krischel / Katharina Miesen, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen

Eingeleitet wurde die Tagung am Abend des 07. Oktobers mit einem öffentlichen Vortrag von HANS-JOACHIM LANG (Tübingen) mit dem Titel „Raum für Gefühle. Annäherungen an den Block 10 in Auschwitz, einem Ort medizinischer Verbrechen an Menschen“ im Super C der RWTH Aachen, der auf breites Interesse unter den Aachener Bürgern stieß. Lang gab einen Einblick in die Augenzeugenberichte der Überlebenden des „Block 10“ im Konzentrationslager Auschwitz, an denen verschiedene medizinische Versuche vorgenommen wurden. Er beschrieb den „Raum“, in dem die Opfer dieser Versuche lebten bzw. leben mussten aus ihrer Perspektive und setzte sich differenziert mit ihrem Alltag sowie ihren mentalen und physischen Überlebensstrategien auseinander.

In seiner Eröffnung formulierte Matthis Krischel zunächst die Ziele und Perspektiven, denen es im Rahmen der Tagung nachzuspüren galt. Angesichts der immer weiter zunehmenden Fülle an Einzelpublikationen zum Thema erschien es sinnvoll, im Vorfeld eine Art „Bestandsaufnahme“ in Form einer sich dem Diskurs öffnenden Übersicht anzustreben. Die verschiedenen Ergebnisse sollten damit für eine übergreifende, vergleichende Analyse fruchtbar gemacht werden, in der – so die Hoffnung – im Vergleich der verschiedenen Fachgesellschaften bestimmte Muster erkennbar würden.

Den ersten Vortrag steuerte GISELA TASCHER (Hausweiler) unter dem Titel „Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920-1956. Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland“ bei, in welchem Sie die ethischen Grenzverletzungen während der Zeit des „Dritten Reichs“ thematisierte. Sie betonte, dass die Einstellungen und Handlungen der Mediziner in der Zeit des Nationalsozialismus nur zu verstehen seien, wenn man die Jahre 1933 und 1945 nicht als Bruch werte und sie nicht im „luftleeren“ historischen Raum stehen lasse, sondern für geeignete Kontextualisierungen sorge. Ohne die Betrachtung der vielfältigen Gründe für nationalsozialistisches Engagement begebe man sich sowohl in die Gefahr des Pauschalurteils, als auch in die etwaiger moralischer Selbstgefälligkeiten, weshalb ihr Vortrag auch die Zeiträume der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit abdeckte. Ihre Herangehensweise eröffnete damit zahlreiche Anknüpfungspunkte für das Verständnis ideologischer und personeller Kontinuitäten von Medizinern nach 1933 bzw. 1945 und deren kritische Hinterfragung.

JOHANNES DONHAUSER (Neuburg) hob in seinem Beitrag „Der öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland stellt sich seiner NS-Vergangenheit“ gleich eingangs die immer wieder bestrittene Tatsache hervor, dass der öffentliche Gesundheitsdienst in der benannten Form und Funktion eine Schöpfung der Nationalsozialisten sei. Hier bestehe in seinen Augen noch erheblicher Aufarbeitungsbedarf, da besonders die personellen Kontinuitäten immer wieder zu einer sehr apologetischen Behandlung der Vergangenheit geführt hätten. Insbesondere Fragen nach der Umsetzung der vorgegebenen „Erb- und Rassenpflege“ sowie der Kontrolle über die Durchführung müssen noch beantwortet werden. Dabei sollten auch die Einflussnahme der obersten Landesgesundheitsinstanz bzw. des jeweiligen Landes auf den Vollzug der Gesundheitsämter und die verschiedenen Ermessensspielräume beleuchtet werden. Auch Unterschiede auf Landesebene sowie lokale Besonderheiten (z.B. Einflussnahme des örtlichen NS-Parteiapparates) und die Auswirkungen der NS-Ideologie auf die Mitarbeiter sollten in Zukunft im Fokus der Forschung stehen.

MICHAEL HUBENSTORF (Wien) gab Einblicke in „Die ‚Österreichische‘ Medizin und die Deutschen Medizinischen Fachgesellschaften 1933-1945“ und deren Beziehungen sowie die Veränderungen in Österreich nach dem Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland 1938. Streng genommen habe es eine „Österreichische Medizin“ vor 1945 im eigentlichen Sinne des Wortes nicht gegeben, diese sei vielmehr als Teil der deutschen Medizin wahrgenommen worden und habe eine nationale Ausrichtung erst nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet. Ein personelles Beispiel für eine Intensivierung nationalistischer Strömungen in der Nachkriegszeit ist der österreichische Mediziner Burghard Breitner, der 1951 durch seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten bekannt wurde. Abgerundet durch übersichtliches Zahlenmaterial ermöglichte Hubenstorf einen Einblick in die Wirkungen der NS-Zeit auf die Entwicklung medizinischer Fachgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Daraufhin berichtete ŠIMON KRÝSL (Prag) über „The Role of Professional Organizations in the Persecution of Jewish Physicians in the Czech Lands“. Er widerlegte die allgemein verbreitete Meinung, tschechische medizinische Organisationen hätten in Gänze unter der Kontrolle der Nationalsozialisten gestanden und nur in dieser Konsequenz Anteil an der Ausgrenzung jüdischer Kollegen gehabt. Vielmehr sei die Lage der jüdischen Ärzte eine in doppelter Hinsicht ausweglose gewesen – zum einen, weil sie Opfer des Antisemitismus von deutscher Seite wurden und Verfolgungen ausgesetzt waren, zum anderen, weil sie auch seitens der nicht-jüdischen Kollegen keine Akzeptanz oder gar Hilfe zu erwarten hatten. Dies sei nach Krýsl jedoch weniger auf eine pro-nationalsozialistische oder antisemitische Einstellung der tschechischen Mediziner zurückzuführen als vielmehr auf die Ablehnung der häufig deutschen Herkunft der jüdischen Kollegen.

JULIA BELLMANN (Ulm) verfolgte in ihrem Vortrag den Prozess der „Vertreibung jüdischer Urologen, Dermatologen und Venerologen“. Im Fokus standen dabei die Schicksale derjenigen Exilanten, die nach 1933 in die USA übergesiedelt waren und die sich neben massiven finanziellen Sorgen durch den Verlust von Rentenansprüchen und ungünstigen Integrationsmöglichkeiten in erster Linie extrem einschneidenden, lebensverändernden Entwicklungen gegenübergestellt sahen. Die detaillierten Schicksale seien allerdings noch weitestgehend als Forschungsdesiderat zu werten. Das Beispiel des damaligen Hauptemigrationsziels USA verspreche dabei als Untersuchungsgegenstand im Vergleich besonders fruchtbare Ergebnisse, da hier die Zulassungsbedingungen für Ärzte je nach Staat erheblich variierten, was zu gravierenden Unterschieden in den Biographien der Exilanten führte. In ihrer entstehenden Dissertation geht Bellmann daher hauptsächlich der Frage nach, wie die weiteren Schicksale der Exilanten im Detail aussahen.

ULRIKE EISENBERG (Eberswalde) (in Zusammenarbeit mit HARTMUT COLLMANN, Würzburg) beleuchtete in ihrem Vortrag „Ausgegrenzt und vertrieben: Das Schicksal deutscher jüdischer Neurochirurgen 1933-1945“. Sie stellte voran, dass auch in der Neurochirurgie – in den dreißiger Jahren eine noch sehr junge Disziplin – die Entlassung und Vertreibung der jüdischen Kollegen nach der Machtergreifung den „rassisch“ genehmen Ärzten entgegenkam. Die im Deutschen Reich professionslos gewordenen Ärzte sahen sich oftmals zur Emigration genötigt, doch konnte mitunter nur die jüngste Kohorte von Emigranten in der neuen Heimat überhaupt Fuß fassen. Bürokratische und akademische Hürden machten es den Ärzten schwer, ihre Karriere im Ausland weiterzuführen. Neben den persönlichen Schicksalen betonte Eisenberg die erheblichen Kompetenzverluste der Fachdisziplin, die retrospektiv betrachtet erheblich unter dem Ausscheiden der jüdischen Kollegen sowie dem zunehmend eingeschränkten Wissenstransfer zu leiden hatte. Anhand der Einzelfallanalysen Carl Felix Lists und Walter Lehmanns gelang es Eisenberg, sowohl erfolgreiche wie auch gescheiterte Exilanten lebendig werden zu lassen.

Im Vortrag von MARTIN ROHRBACH (Tübingen) stand die „Augenheilkunde im Nationalsozialismus“ im Fokus. Er gab einige Einblicke in die Diversität der Ophthalmologie zur Zeit des NS-Regimes und machte anhand dieses Beispiels deutlich, dass es zu kurz gegriffen wäre, „die Fachgesellschaften“ oder „die Augenärzte“ zu generalisieren und somit den Mikrokosmos dem Makrokosmos kritiklos unterzuordnen. Zwar sei auch in der Geschichte der Ophthalmologie die Kausalität zwischen der NSDAP-Mitgliedschaft und der Berufung auf Lehrstühle zu beobachten, gleichzeitig verwies Rohrbach aber auf das Beispiel des jüdischen Augenarztes Karl Wessely, dem auf Geheiß Hitlers seine Approbation auch nach 1938 nicht aberkannt wurde. Auch wenn einige Fachvertreter eine Rolle als Gutachter in der Sterilisationsdebatte einnahmen – erbliche Blindheit galt den Nationalsozialisten als Sterilisationsgrund –, könne jedoch kein Zusammenhang zwischen der Parteimitgliedschaft eines Augenarztes und seiner Bereitschaft, Sterilisationen zu unterstützen, postuliert werden.
TIMO BAUMANN (Düsseldorf) untersuchte das Verhalten der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung (DGK) im Nationalsozialismus, wobei er in seinem Vortrag vornehmlich belastete Funktionäre der NS-Zeit in den Blick nahm. Hans Eppinger, der als Kreislaufforscher und KZ-Arzt in Dachau durch oftmals tödliche Meerwasser-Trinkversuche an Sinti und Roma traurige Berühmtheit erlangte, ist ein eindrückliches Beispiel dafür. Dieser Tatsache ungeachtet seien sein Wirken wie seine Person nach 1945 stark apologetisch behandelt worden, es könne gar von einer Tendenz zur Legendenbildung gesprochen werden. Die Frage, ob im Falle der DGK von einer von außen oktroyierten Gleichschaltung gesprochen werden muss oder ob hier eine Form der Selbstgleichschaltung vorliegt, konnte noch nicht abschließend beantwortet werden; sie stellt eine der zentralen Bezugsgrößen im gesamten Forschungszusammenhang dar. Baumann wies abschließend auf die – in seinem Falle – äußerst günstige Quellenlage hin, da die DGK als eine der wenigen Fachgesellschaften ein eigenes Archiv führt und dieses von ihm ohne Einschränkung genutzt werden könne.

HANS-WALTER SCHMUHL (Bielefeld) beleuchtete mittels diverser Methoden aus der Netzwerktheorie das teilweise komplexe Beziehungsdickicht handelnder Akteure am Beispiel der Gesellschaft Deutscher Neurologen. Er sprach sich dafür aus, im Gegensatz zum starren Institutionenbegriff den flexibleren Begriff des Netzwerks mit „Kanten und Knoten“ stärker in den Fokus zu rücken und nutzbar zu machen. Nur so könnten die eigentlichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb und im Umfeld medizinischer Fachgesellschaften treffsicher abgebildet werden, da Macht als Ressource medizinischer Fachgesellschaften oftmals eher auf informeller Ebene – in Grauzonen – zugänglich werde, sodass ein netzwerkanalytischer Zugang teilweise die Lücken in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit – und nicht nur der medizinischen Fachgesellschaften – schließen helfen könne. Als personelles Beispiel für die Möglichkeiten seines Ansatzes diente Schmuhl Ernst Rüdin, ein überzeugter Rassenhygieniker, dessen spezifische Verstrickungen in den nationalsozialistischen Machtapparat durch eine netzwerkanalytische Darstellungsweise erhellend beschrieben werden können.

Der Beitrag „Fachkulturelle Erinnerungspolitik in den deutschen medizinischen Fachgesellschaften“ von THORSTEN HALLING und FRIEDRICH MOLL (beide Ulm) perspektivierte die fachkulturelle Erinnerungspolitik in den deutschen medizinischen Fachgesellschaften am Beispiel der Urologie zwischen 1945 und 2001. In der Urologie seien sowohl der fehlende Traditionsbruch mit der NS-Zeit an sich als auch die zahlreichen Vertreibungen und Entrechtungen jüdischer Fachkollegen verschleiert worden. Dabei gelte es zu bedenken, dass Erinnerungspolitik prinzipiell interessengeleitet sei und als Vorgang bzw. Handlung daher zwangsläufig niemals wertneutral sein könne, sodass angesichts der krassen personellen Kontinuitäten in der Medizin und den medizinischen Fachgesellschaften die Vergangenheitsbewältigung eher stiefmütterlich behandelt worden sei. Dies habe im Regelfall deutliche zeitliche Verzögerungen hinsichtlich einer systematischen Aufarbeitung der Vergangenheit zur Folge gehabt. Am Beispiel der „Verehrung“ von Maximilian Nitze (1848-1906) wird zudem deutlich, dass personenbezogene Vergangenheitsdarstellung ein stark bindendes Element darstellen kann, das eine Vergangenheitsbewältigung deutlich erschwert, da die NS-Zeit in diesem Fall nicht als konstitutiv gedeutet wird.

Um „Die NS-Geschichte als Argument in der (kinder-)ärztlichen Erinnerungskultur und Medizinethik“ ging es im Beitrag von SASCHA TOPP (Gießen), der besonders den Fall Werner Catels, einem der wichtigsten Protagonisten der Kindereuthanasie, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte. In der Debatte um ideologische Kontinuitäten im Umgang mit geistig behinderten Kindern nach 1945 erläuterte er auch die Rollen der Ärzte Ulrich Köttgens und Theodor Hellbrügges, die mit impliziten Kontinuitäten in ihrer Einstellung zur „Euthanasie“ nach der NS-Zeit hervortraten. Im Bereich der Vergangenheitsaufarbeitung sei wegen dieser Kontinuitäten deshalb erst mittlerweile ein Wandel von der Externalisierung zur Internalisierung auszumachen, sodass langsam aber sicher eine durch konjunkturelle Hochphasen angestoßene Abnahme des Protektionismus spürbar werde.

FRIEDRICH PAULSEN (Erlangen) lieferte einen Einblick in die „Anatomie im Nationalsozialismus“ und zeichnete aus eigener Erfahrung nach, wie Aufarbeitung institutionell, finanziell und personell möglich werden kann – Aufarbeitung könne gar einen sich exponentiell verstärkenden Vorgang darstellen. Institutionalisiert habe die Anatomische Gesellschaft den Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit im Rahmen einer Ethikkommission, die sich neben der Vergangenheit auch tagesaktuellen Fragen widmet. Paulsen fragte in seinem Beitrag u.a. nach dem ethisch korrekten sowie praktischen Umgang mit Eponymen, die unter Umständen auf politisch belastete Persönlichkeiten zurückgehen. Als prominentes Beispiel wurde die Umbenennung der nach dem umstrittenen NS-Mediziner Max Clara lautenden Clara-Zelle diskutiert. Dies warf die weitergehende Frage auf, ob der Umgang medizinischer Fachgesellschaften mit ihrer Vergangenheit nur durch Anregung von außen bedingt werde oder ob auch bzw. inwieweit eine intrinsische Motivation festgestellt werden könne.

Der Vortrag von MARION HULVERSCHEIDT (Berlin), gelesen von IRIS BOROWY (Aachen), gab einen Überblick über „Das schwierige Erbe der Vorstandsmitglieder Gerhard Rose und Claus Schilling der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin“. Die Deutsche Gesellschaft für Tropenmedizin könne durchaus als kleine Fachgesellschaft angesehen werden, auch wenn ihr am Ende der deutschen Kolonialzeit nur etwa 150 Mitglieder angehörten. Die Bedeutung, die ihr während des Nationalsozialismus zukam, ist vor allem durch die imperialen Hoffnungen begründet, die die Politik Hitlers erweckte. Die Kompatibilität mit den NS-Eroberungsplänen führte zu einem Erstarken sowohl der kolonialhygienischen Ideologie als auch der tropenmedizinischen Forschung. Während des Kriegs führten besonders die beiden Vorstandsmitglieder Schilling und Rose tödliche Malariaversuche in Konzentrationslagern bzw. in Heil- und Pflegeanstalten durch, dennoch zielten nach 1945 einige Mitglieder darauf ab, sie beide während ihrer Prozesse in Dachau und Nürnberg zu entlasten.

NILS FRANKE (Leipzig) gab Einblicke in gleich zwei Forschungsprojekte zur „Geschichte der Pathologie im 20. Jahrhundert“. Seit 2012 verfolgen der Bundesverband Deutscher Pathologen e.V. sowie einige Einzelpersonen das Ziel, die Geschichte der Pathologie im 20. Jahrhundert zu erarbeiten und anhand von Zeitzeugeninterviews wichtige Weichenstellungen in der Historie des Faches zu identifizieren. Beide Projekte werden vom Geschichtsbüro Frankes bearbeitet, das sich auf die Geschichte von Berufsgruppen spezialisiert hat. Beispielhaft stellte Franke den Pathologen Walther Panofsky vor, der 1937 gezwungen wurde, seinen Dienst im Pathologisch-Hygienischen Institut in Chemnitz zu quittieren. Nach dem Ende des Weltkrieges übernahm er bis 1951 wieder seine Position und leistete einen grundlegenden Beitrag zur Reorganisation der Pathologie vor Ort. Der systemkonforme, in einflussreicher Stellung agierende und sein Handeln an der NS-Ideologie ausrichtende Pathologe Martin Staemmler (1890-1974) hingegen ist eindeutig als Nationalsozialist zu erkennen und spielte in der deutschen Pathologie zwischen 1933 und 1945 eine führende Rolle. 1950 übernahm er die Funktion des Direktors des Pathologisch-bakteriologischen Instituts der Städtischen Krankenanstalten in Aachen.

THOMAS BEDDIES (Berlin) zog in seinem Beitrag zur „Kinderheilkunde im Nationalsozialismus“ zunächst eine Bilanz der bisherigen Aufarbeitung und stellte anschließend die Perspektiven der zukünftigen Forschungen zum Thema heraus. Die Dokumentation (möglichst) aller nach 1933 verfolgten, vertriebenen oder ermordeten Kinderärzte und -ärztinnen wurde inzwischen in erweiterter Form neu aufgelegt. Diese sowie weitere in den vergangenen Jahren publizierten Befunde sowie die öffentlichen Gedenkveranstaltungen bzw. Ausstellungen (z.B. 1998 und 2010) können als wichtige Schritte der Aufarbeitung der Verwicklung der Kinderheilkunde in die NS-Medizin gelten, auch wenn eine zusammenfassende Darstellung der Fachgesellschaft in den Jahren 1933 bis 1945 noch aussteht. Insgesamt wurden mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche Opfer der Programme zur Vernichtung sog. „lebensunwerten Lebens“; viele von ihnen wurden von Kinderärzten gemeldet, begutachtet, für Experimente herangezogen und getötet.

Daran schloss INA FRIEDMANN (Wien) an: „Hans Asperger und die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik. Konzepte und Kontinuitäten“. 1935 wurde Hans Asperger (1906-1980), der durch die Beschreibung des sog. Asperger-Syndroms Bekanntheit erlangte, die prägende Persönlichkeit der österreichischen Heilpädagogik und behielt diesen Posten über die Zäsuren 1938 und 1945 hinweg. Gerade in der NS-Zeit bestand eine enge Kooperation mit dem NS-Gesundheitssystem und der Sonderpädagogik. Asperger prägte allerdings nicht allein die Inhalte heilpädagogischer Therapien, sondern auch die Lerninhalte verschiedener Berufe bis in die nachfolgenden Generationen hinein. Um die konkreten Auswirkungen dieser Behandlungen sichtbar zu machen, stellte Friedmann exemplarisch Krankengeschichten von Kindern vor, die an der Heilpädagogischen Abteilung untersucht worden waren, wobei besonders die unveränderten Diagnosen und Behandlungsmethoden in der Zeit zwischen 1930 bis 1970 deutlich wurden.

WOLFGANG FROBENIUS (gemeinsam mit FRITZ DROSS und ANDREAS THUM) (Erlangen) sprach „Zur Geschichte frauenheilkundlicher Fachgesellschaften im 20. Jahrhundert“. Die Arbeit zur Geschichte der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde wurde 2009 aus dem Vorstand der Gesellschaft selbst heraus angeregt. Ziel war eine Buchpublikation zum 100-jährigen Jubiläum 2012, was sich dank eines erstaunlich gut sortierten Archivs der Gesellschaft realisieren ließ. Dabei wurde erstmalig die Verdrängung und Vertreibung der „nicht-arischen“ Gynäkologen in Bayern sowie die Wiederbesetzung der Ordinariate für Gynäkologie und Geburtshilfe an den bayerischen medizinischen Fakultäten nach 1945 gründlich untersucht. Im Anschluss erfolgt seit 2012 nun die Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie im Nationalsozialismus, die etwas weitergehende Schwerpunkte setzen will – zusätzliche Themen werden die Eingliederung der Gesellschaftsvorstände und -aktivitäten in die Reichs- und Parteigesundheitsorganisationen sowie die Entnazifizierung in den beiden deutschen Staaten sein.

Zwischendurch richtete DIETMAR OESTERREICH, der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, als Vertreter seines Faches ein Grußwort an das Plenum und lobte die Aufarbeitungsbestrebungen, deren Notwendigkeit die Zahnmedizin erkannt habe und erste Schritte in diese Richtung gegangen sei. Anschließend ging PHILIPP RAUH (Erlangen) auf „Ernst Wilhelm Baader (1892-1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus“ ein. Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) – gegründet 1962 und damit einige Zeit nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes – hat keine direkte „NS-Vergangenheit“. Durch ihren Gründungsvorsitzenden Baader, der seine Berufslaufbahn in der Weimarer Republik begonnen und im „Dritten Reich“ Karriere gemacht hatte, ist die Arbeitsmedizin und damit auch die Gesellschaft personell dennoch eng mit den Geschehnissen der Jahre 1933-45 verbunden, besonders, da Baader noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein prägend für die Tradition und das Selbstverständnis der DGAUM gewesen ist.

HEINER FANGERAU (Ulm) nutzte die Erkenntnisse der bisherigen Untersuchungen, um „Medizinische Fachgesellschaften als Institutionen der Selbstkonstitution, Anerkennung, Verantwortung und Kollegialität“ zu beschreiben. Während manche Fachgesellschaften minutiös alle Unterlagen in eigenen Archiven gesammelt und in geringem Maße auch Festschriften veröffentlicht haben, gäbe es zu einigen anderen kaum historische Daten. Besonders erschwert werde eine objektive Forschung im Falle von Memoiren wichtiger oder berühmter (Vorstands-)Mitglieder, die konstituierend für die jeweilige Gesellschaft bzw. das Selbstverständnis der Mitglieder waren. Gemeinsam ist fast allen Gesellschaften das schnelle Arrangieren mit dem Regime 1933 und die Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung ohne nennenswerte Widerstände, außerdem wirkten sie sinnstiftend und schufen möglicherweise den Rahmen, um egomanisches Verhalten ausleben zu können.

Abschließend wurden die Ergebnisse von Matthis Krischel zusammengefasst. Festzustellen ist ein unterschiedliches Auftreten der Fachgesellschaften dem nationalsozialistischen Regime bzw. den Gleichschaltungsbestrebungen gegenüber. Auch der jeweilige Umgang der Mitglieder und der Fachgesellschaft als Institution mit den politischen Veränderungen variierte deutlich, wenngleich weiterhin zu konstatieren bleibt, dass sich der Großteil der Fachgesellschaften bzw. ihrer Mitglieder schnell mit dem Regime identifizierte und die politische Situation zur Schaffung persönlicher Vorteile nutzte. Besonders bei Fachgesellschaften mit einem hohen Anteil jüdischer Kollegen scheint die Gleichschaltung schneller vorangegangen zu sein.

Die personellen und ideologischen Kontinuitäten nach 1945 sorgten weitestgehend dafür, dass viele Belastete keine negativen Konsequenzen zu befürchten hatten und eine Aufarbeitung erst mit der zweiten Nachkriegsgeneration in den 1980er Jahren langsam anlief. Die Vertreibung der jüdischen Kollegen wurde apologetisch als politische Notwendigkeit und unumgänglicher Zwang gedeutet, was mittlerweile hinreichend widerlegt ist. Insgesamt sind grob zwei Phasen der Vergangenheitsaufarbeitung bzw. -bewältigung auszumachen: Zunächst das Gedenken an die jüdischen Kollegen und erst in der zweiten Phase, häufig nach dem Tod der Funktionäre der NS-Zeit, die Kritik an diesen und die grundlegende, zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit ihrem Handeln. Dennoch stoßen die verschiedenen Aufarbeitungsprojekte bei den Medizinern oft auf Unverständnis – nicht unbedingt aus Desinteresse, sondern aufgrund fehlenden Verständnisses für Sinn und Zweck.
Von besonderer Relevanz für zukünftige Forschungen scheint das Wissen um die Existenz historischer Arbeitskreise sowie eventuell vorhandener Archive in den einzelnen Fachgesellschaften zu sein sowie die Frage nach deren Vernetzung und Austausch.
Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.

Konferenzübersicht:

Hans-Joachim Lang (Tübingen): „Raum für Gefühle. Annäherungen an den Block 10 in Auschwitz, einem Ort medizinischer Verbrechen an Menschen“

Matthis Krischel (Aachen): Begrüßung und Einführung

Gisela Tascher (Hausweiler): „Die politisch und ideologisch ausgerichtete Gleichschaltung der ärztlichen Standesorganisationen ab 1933 und deren Auswirkung auf die ärztliche Berufsausübung vor und nach 1945“

Johannes Donhauser (Neuburg): „Der öffentliche Gesundheitsdienst in Deutschland stellt sich seiner NS-Vergangenheit“

Michael Hubenstorf (Wien): „Die ‚Österreichische‘ Medizin und die Deutschen Medizinischen Fachgesellschaften, 1933-1945“

Šimon Krýsl (Prag): „The Role of Professional Organizations in the Persecution of Jewish Physicians in the Czech Lands“

Julia Bellmann (Ulm): „Die Vertreibung jüdischer Urologen, Dermatologen und Venerologen“

Ulrike Eisenberg (Eberswalde), Hartmut Collmann (Würzburg): „Ausgegrenzt und vertrieben: Das Schicksal deutscher jüdischer Neurochirurgen 1933-1945“

Martin Rohrbach (Tübingen): „Das Forschungsprojekt Augenheilkunde im Nationalsozialismus 1999-2013 – Ergebnisse und Perspektiven“

Timo Baumann (Düsseldorf): „Die Deutsche Gesellschaft für Kreislaufforschung im Nationalsozialismus“

Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld): „Institutionen, Netzwerke, Ressourcen. Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater 1933/35 – 1945“

Thorsten Halling, Friedrich Moll (Ulm): „Fachkulturelle Erinnerungspolitik in den deutschen medizinischen Fachgesellschaften. Das Beispiel Urologie (1945-2011)“

Sascha Topp (Gießen): „Die NS-Geschichte als Argument in der (kinder-)ärztlichen Erinnerungskultur und Medizinethik“

Friedrich Paulsen (Erlangen): „Anatomie im Nationalsozialismus“

Marion Hulverscheidt (Kassel): „Das schwierige Erbe der Vorstandsmitglieder Gerhard Rose und Claus Schilling der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin“

Nils Franke (Leipzig): „Das Forschungsprojekt Geschichte der Pathologie im 20. Jahrhundert“

Thomas Beddies (Berlin): „Kinderheilkunde im Nationalsozialismus“

Ina Friedmann (Wien): „Hans Asperger und die Heilpädagogische Abteilung der Wiener Universitätskinderklinik. Konzepte und Kontinuitäten“

Wolfgang Frobenius, Fritz Dross, Andreas Thum (Erlangen): „Zur Geschichte frauenheilkundlicher Fachgesellschaften im 20. Jahrhundert“

Dietmar Oesterreich (Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer): Grußwort

Philipp Rauh (Erlangen): „Ernst Wilhelm Baader (1892-1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus“

Heiner Fangerau (Ulm): „Medizinische Fachgesellschaften als Institutionen der Selbstkonstitution, Anerkennung, Verantwortung und Kollegialität“

Matthis Krischel (Aachen): Schlusswort


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