Die Abschlusstagung des Projekts „Thyssen im 20. Jahrhundert“ diente der Vorstellung der Ergebnisse von acht Einzelprojekten zur Unternehmens- und Familiengeschichte der Industriellenfamilie.1 Doch wies die Tagung deutlich über den Einzelfall hinaus: Tandems aus Projektmitarbeitern und außenstehenden Forschern, gruppiert in vier Panels, stellten eine vergleichende und kontextualisierende Sicht sicher. Die Rückbindung an übergeordnete Problembereiche half, Impulse für die Diskussion zu generieren.
Der Startpunkt der Bearbeiter des Thyssen-Projekts konnte unterschiedlicher nicht sein. Die räumliche Trennung zweier Projektgruppen an den Universitäten Bonn und München legt eine fundamentale methodische Differenz nahe. Während sich die Bonner unternehmenshistorischen Aspekten widmeten, wählten die Münchner eine kulturwissenschaftlich-familiengeschichtliche Herangehensweise. Ein Schaden war das nicht, wie die hier zu referierende Tagung belegte: es gelang, diese Differenz fruchtbar zu machen und gemeinsame Erkenntnischancen auszuloten.
Die beiden Projektleiter MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE und GÜNTHER SCHULZ steckten das Themenfeld ab, indem sie Familie und Unternehmen als Bezugspunkte füreinander auffassten. Sie bezogen sich nicht auf die bürgerliche Kernfamilie sondern auf die weitverzweigte Großfamilie mit Bediensteten und Beratern – eher im Sinne einer römischen oder vormodernen familia. Zugehörigkeit und Binnenbeziehungen seien fluide und weniger eindeutig, als ein Stammbaum suggeriere. Die Logiken der Systeme Familie und Unternehmen konkurrierten und konfligierten, sie seien nicht zu trennen und behielten doch ihren Eigenwert. Die Thyssens seien im 20. Jahrhundert aber keine Unternehmerfamilie im engen Sinn gewesen, verfügten sie doch über vielfältig diversifiziertes „Vermögen“, ein mehrdeutiger Begriff, über den verschiedene Perspektiven integriert würden. „Vermögen“ umfasse ökonomisches Kapital im weitesten Sinn, auch Schmuck, Kunstwerke und Landbesitz; dazu soziales und kulturelles Kapital und ganz allgemein die Fähigkeit, in spezifischen Kontexten zu handeln: man vermag, etwas zu tun. Selbst wenn es das eine konstitutive Familienunternehmen nicht mehr gegeben habe, könnten die Thyssens so als Gesamtfamilie und als Beispiel einer „ultravermögenden Familie“ begriffen werden, deren umfangreiches und komplexes Vermögen nicht oder nur schwer zu beziffern sei. Das Vermögen ermöglichte und bedingte transnationale Familienpraktiken: die Streuung von Vermögen, binationale Ehen, verschiedene Staatsbürgerschaften und hohe Mobilität. Es machte aber auch anfällig für die politischen und wirtschaftlichen Zeitläufte und für heftige generationelle und persönliche Konflikte – häufig unter dem interessierten Blick der Öffentlichkeit.
Die komplexe Praxis der Thyssens als transnationale vermögende Familie war ohne Berater nicht denkbar, so SIMONE DERIX im ersten Vortrag des Panels zu den „Beraterkulturen“. Sie erschlossen den Familienmitgliedern Handlungsmöglichkeiten, organisierten die Vermögensstreuung, regelten Erbfälle, Scheidungen und familiäre Konflikte. Für Unternehmensführung und Vermögensverwaltung seien sie unverzichtbar gewesen angesichts zunehmender Komplexität – die sie wiederum selbst erhöhten. RAINER LIEDTKE stellte dem das auf innerfamiliärem Vertrauen beruhende Netzwerk der Rothschilds gegenüber, einer anders konstruierten, noch älteren transnationalen Familie. Ein paralleles Netzwerk von Agenten habe der Informationsbeschaffung und als Pool interkultureller Kompetenz gedient. Doch nur wenige Agenten hätten im 19. Jahrhundert den Status eines Beraters erreicht, da die Ressource Vertrauen an familiäre Zugehörigkeit gebunden blieb. Dieses doppelte Netzwerk sei im Lauf der Zeit zunehmend dysfunktional geworden. In der Diskussion deutete DIETER ZIEGLER die Differenz zwischen Rothschild und Thyssen im diachronen Vergleich als Indikator für den Wandel der bürgerlichen Familie: Berater füllten bei Thyssens Funktionen aus, für die bei Rothschilds noch Familienmitglieder zur Verfügung standen und stehen mussten.
Hinweise in diese Richtung lieferte auch der Abendvortrag von DAVID SABEAN über wirtschaftsbürgerliche Verwandtschaftsstrukturen. Am Beispiel der Familie Siemens erläuterte er deren Heiratspolitik und die Relevanz von Abstammungsgruppen im 19. Jahrhundert. Endogamie (vor allem Cousinenheirat) habe der Vermögenssicherung gedient und Karriereoptionen erschlossen. Exogamie habe als Türöffner zu Geschäftsbeziehungen und Kapital gedient. Dieses Verwandtschaftssystem habe an Bedeutung verloren, als Ende des 19. Jahrhunderts neue Wege der Unternehmensfinanzierung Alternativen eröffneten. Sabeans Überlegungen können parallel zu Alfred D. Chandlers klassischer These von der „managerial revolution“ verstanden werden, die man stärker vom Wandel der Familienstrukturen her denken kann: neue Formen der Governance füllten Lücken, die durch Defizite bei der Rekrutierung aus Familiennetzwerken entstanden.
JOHANNES BÄHR und HERVÉ JOLY verschoben die Perspektive von den Familien auf deren Unternehmen. Bähr stellte das Beraternetzwerk im Umfeld der August Thyssen-Hütte AG nach 1945 vor, das stark von den Transformationen der Kapitalstruktur und Unternehmensform abhängig gewesen sei. Joly analysierte das breite Spektrum von Familienunternehmen, je nach Grad und Qualität des familiären Einflusses, dessen Gewichtung sich dynamisch verändern konnte. Für Berater in Familienunternehmen sei spezifisch, dass sie eine Brückenfunktion zwischen Familie und Unternehmen einnehmen könnten. Zu Recht fragte Joly, was abgesehen von fachlicher Expertise – die er mit dem Manager teile – den Berater eigentlich ausmache.
Damit kam die Kategorie Vertrauen ins Spiel. HANS GÜNTER HOCKERTS beschrieb Amélie Thyssen als macht- und traditionsbewusste Akteurin, die aber mit einzelnen Beratern in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis verbunden gewesen sei: Amélie Thyssen brauchte deren Expertise, diese ihr Vertrauen, um gemeinsam auf die erneute Konzernbildung in der August Thyssen-Hütte AG hinzuarbeiten. Mit der Gründung der Fritz Thyssen Stiftung habe ein Berater einen Weg gefunden, das Aktienkapital langfristig in einer Hand zu halten. Die Umwandlung von Aktienkapital in symbolisches Kapital habe eine neue Traditionsbildung um den Preis des Kontrollverlusts ermöglicht. EVE ROSENHAFT blickte bis ins 18. Jahrhundert zurück, um die Differenz zwischen ökonomischer Kompetenz und oft defensiver Selbstrepräsentation von Unternehmenserbinnen herauszuarbeiten. Deren Zurückhaltung sei Teil eines Prozesses, in dem Vertrauen und Einfluss mit einem männlichen Umfeld von Managern, Beratern und Verwandten ausgehandelt würden.
Die „Beraterkulturen“ wurden von den Beiträgern unterschiedlich gefüllt. Berater strukturierten – neben Verwandtschaftsbeziehungen und betrieblicher Governance – das Beziehungsgeflecht von Familie, Unternehmen und deren Umwelt. Deutlich wurde der Systematisierungsbedarf, will man nicht jeder Unternehmerfamilie eine je eigene „Kultur“ attestieren. Gar nicht thematisiert wurde das Geschlecht des Beraters (sic!), eine Funktion für die offenbar überwiegend (oder nur?) Männer in Frage kamen. Zudem sollte die Möglichkeit schlechter und erfolgloser Beratung mitgedacht werden: Wie hängen Vertrauen, Expertise und Erfolg zusammen? Wiederholt wurde das Prinzipal-Agent-Problem aufgeworfen: Wann schlug der kaum zu vermeidende Autonomieverlust des Beratenen in Abhängigkeit vom Berater um? Wem fühlte sich ein Berater überhaupt verpflichtet: der Person, der Familie, dem Unternehmen – oder sich selbst?
Den Themen des zweiten Panels „Individualitäten und Typen“ war gemein, dass das moderne Paradigma der Individualität nicht zu denken ist ohne soziale Vermittlung. Individualisierte Lebensstile, Selbstinszenierungen und Distinktion benötigen die soziale Gruppe als Bezugspunkt und Adressat. Den Selbstentwürfen der Wirtschaftselite näherten sich zwei Vorträge an. FELIX DE TAILLEZ wählte den Begriff des Image als fest umrissenes Vorstellungsbild einer Person in der medialen Öffentlichkeit, um Fritz und Heinrich Thyssen zu kontrastieren. Beide agierten und interagierten in und mit verschiedenen (Teil-)Öffentlichkeiten. Die Images des ungleichen Brüderpaars kamen dem Bedürfnis der Medien nach Sinnstiftung und Vereinfachung entgegen. Auf je eigene Weise waren beide „Chefs“, Führungsfiguren, wie YVES COHEN analysierte, denen seit der Jahrhundertwende in Politik, Militär und Wirtschaft eine spezifische Persönlichkeitsstruktur attestiert worden sei. Die Gleichzeitigkeit von Sein und Zuschreibung, von Selbstinszenierung und Medienkonstruktion beschäftigte auch die Diskussion, da Imagepolitik offensichtlich keine PR-Einbahnstraße war.
JAN SCHLEUSENER wählte einen anderen Zugang zur Person Fritz Thyssen. Der frühe ideelle und finanzielle Förderer des NS habe ab 1934 verschiedene Phasen der (Selbst-)Entnazifizierung durchlaufen. Der schleichenden Entfremdung folgte der offene Bruch im Exil, auf den das Regime mit der Einweisung in Psychiatrie und KZ reagierte. Nach 1945 habe die Spruchkammer den ambivalenten „Fall“ Fritz Thyssen in die statische Typologie eines justizförmigen Verfahrens einpassen müssen, was nicht ohne Widersprüche bleiben konnte. CORNELIA RAUH ordnete diese Spannung zwischen Individuum und Typologie in die Forschung zur Entnazifizierung ein, die bei Wirtschaftsbürgern ohnehin oft von Fehlwahrnehmungen geprägt gewesen sei: „Arisierungen“ und der „Einsatz“ von Zwangsarbeitern seien häufig ohne Kontext abgehandelt und umgedeutet worden. Die Konzentration auf formale Belastung und politisches Handeln habe eine adäquate Bewertung der Handlungsoptionen von Unternehmern und Managern behindert. Um einen Nexus zwischen politischer Haltung und ökonomischem Handeln herzustellen, habe man sich mit dem Konzept der Nutznießerschaft beholfen.
JOHANNES GRAMLICH identifizierte unterschiedliche Sammlertypen in der Familie Thyssen, je nach Grad an Privatheit und Publizität. Sie waren bei Ausbau und Präsentation ihrer Sammlungen mal mehr (Heinrich und Hans-Heinrich Thyssen-Bornemisza de Kászon), mal weniger aktiv, eigenständig und auf Außenwirkung bedacht (Fritz Thyssen). Diese Typologie sei nicht statisch, wie der Skandal um die Präsentation der „Sammlung Schloss Rohoncz“ in der Neuen Pinakothek in München zeige: Die Affäre um Fälschungen und falsche Zuschreibungen führte 1930 zum Rückzug Heinrich Thyssen-Bornemisza de Kászons aus der Kunstöffentlichkeit. Der Kunstsoziologe JÖRG RÖSSEL ordnete solche Unsicherheiten über Echtheit und Qualität ein in den kollektiven Prozess der Produktion, der ästhetischen und monetären Bewertung und der Vermittlung von Kunst. Das Sammeln von Kunst sei nicht rein individualistisch zu verstehen, Motive und Praktiken seien sozial vermittelt (Prestige, Kennerschaft, Distinktion). Während Rössel von eher niedrigen Renditen ausging und Bewertungsprobleme akzentuierte, verwiesen die anwesenden Wirtschaftshistoriker auf andere Wirtschaftsgüter, die phasenweise mit ähnlich schlechten Renditeerwartungen und hohen Risiken behaftet waren. Mobilität und Konvertierbarkeit von Kunst und Schmuck hätten im Umfeld der Weltkriege wesentliche Vorteile geboten. Wer die Nachfrage auf dem Kunstmarkt verstehen wolle, müsse die Erfahrungen der Akteure auf anderen ökonomischen Handlungsfeldern berücksichtigen.
Das Panel zu „Anreizsystemen“ widmete sich der NS-Wirtschaftsordnung als Handlungsrahmen und der Zwangsarbeit. ALEXANDER DONGES verortete die Vereinigte Stahlwerke AG (VESTAG) im System staatlicher Regulierung, dessen Anreizmechanismen die Allokation von Ressourcen durch den Markt überlagerten. Die Betriebsgesellschaften der VESTAG hätten darauf unterschiedlich reagiert, aber immer geleitet von genuin unternehmerischen Motiven. Offenen Druck habe es nicht gegeben: Finanzielle Anreize und die Manipulation der Rahmenbedingungen genügten, um Investitionsentscheidungen im Sinne der NS-Behörden zu erwirken. Vortrag und Diskussion griffen nochmal die Buchheim-Scherner/Hayes-Kontroverse auf, wobei sich der Eindruck eines moderaten Kompromisses ergab: keine Handlungsfreiheit, aber auch kein Zwang, sondern Handlungsspielräume, innerhalb derer Gewinnorientierung das zentrale Motiv geblieben sei. Unbeantwortet blieb die Frage, ob es so etwas wie „indirekten“ Zwang geben könne. Wo Investitionsalternativen aktiv vom NS-Regime blockiert wurden, so Donges, sei es schwer, einen Maßstab für freie unternehmerische Entscheidungen zu definieren.
KIM CHRISTIAN PRIEMEL wurde noch grundsätzlicher. Er plädierte für größere analytische und sprachliche Präzision, was „Anreize“ seien, wer jeweils in den Systemen Politik und Wirtschaft agiere und wie sich die strukturelle Kopplung der Systeme gestalte. Schließlich sei „Zwang“ ein Instrument, über das in den korporativen Strukturen der NS-Wirtschaft verhandelt worden sei, das von interessierter Seite auch eingefordert werden konnte – gegen andere Marktteilnehmer oder als Entlastungsargument. Konfliktlinien verliefen deshalb nicht nur zwischen Staat und Wirtschaft, sondern innerhalb der Systeme. Priemel machte sich für einen systemtheoretischen Ansatz stark, um über die Analyse der NS-Wirtschaft hinaus wirtschaftliches und politisches Handeln ins Verhältnis zu setzen. Dazu müsse man die Kommunikation zwischen den Akteuren herausarbeiten, statt von der Steuerung des einen Systems durch das andere auszugehen.
Beim Thema Zwangsarbeit lenkte THOMAS URBAN den Blick weg von der zur Genüge diskutierten Frage nach deren betriebswirtschaftlicher Rationalität. Statt auf die Unternehmensspitze der Thyssen-Gesellschaften fokussierte er auf die Handelnden vor Ort: Meister, Vorarbeiter, Lagerführer und Wachleute. Urban forderte, diese Gruppe der „kleinen“ Täter als Akteure sui generis ernst zu nehmen. Neben individueller Disposition und situativen Faktoren rückte er Anreize aus dem betrieblichen Umfeld in den Vordergrund, die auf das übergeordnete Ziel eines störungsfreien und leistungsfähigen Betriebs verwiesen: Traditionen innerbetrieblicher Gewalt, die Vorbildfunktion der Werksleitung, die Betriebsideologie. ELISABETH TIMM hinterfragte dagegen die Erklärungskraft des Anreiz-Begriffs. Sie setzte einen Kontrapunkt zur Betonung der Betriebs- und Lagerlogiken, aber auch zu gängigen (ex post-)Annahmen über vermeintliche betriebswirtschaftliche Rationalität oder ideologische Motive (Stichwort „Volksgemeinschaft“). Seit 1933 sei Druck und Repression von oben nach unten zur Arbeiterschaft durchgereicht worden. Ebenso sei die Verantwortung für den effizienten „Einsatz“ der Zwangsarbeiter an lokale Hierarchien delegiert worden. Timm plädierte für eine Sozialgeschichte der Zwangsarbeiter im sozialen Raum des Unternehmens, die in das Faschismus-Interpretament zu integrieren sei. Ob angesichts des kategorialen Unterschieds zwischen Erwerbsarbeit und Zwangsarbeit beide Gruppen unter einem Klassenbegriff subsumiert werden können, muss allerdings diskutiert werden.
Unter dem Signum der „Ver-/Entflechtungen“ beschäftigte sich das letzte Panel mit Versuchen der Konzentration und Konzernbildung. HARALD WIXFORTH nahm Verflechtungsmaßnahmen im Firmenverbund Heinrich Thyssen-Bornemisza de Kászons in den Blick. Den Begriff „Baron-Konzern“ lehnte er ab, denn er perpetuiere das problematische Image des „Aristokraten“, und wichtiger noch: die Konzernbildung über ein Holding-Modell sei schlicht gescheitert. Woher die Initiative für den Plan kam, falls es überhaupt einen gab, sei schwer zu erhärten. Der lose Firmenverbund blieb ohne straffe Organisation und übergreifende Strategieplanung. Trotz des Scheiterns der Konzernverflechtung seien einige Teilfirmen aber erfolgreich gewesen – dank Verflechtung in der jeweiligen Branche und persönlicher Netzwerke. JOHANNES BÄHR griff in diesem Panel die August Thyssen-Hütte nochmals als Beispiel einer erfolgreichen Konzernbildung nach 1945 auf. Nach der Entflechtung der VESTAG durch die Alliierten habe die politische und wirtschaftliche Gemengelage dazu geführt, dass die Zersplitterung der deutschen Stahlindustrie erst 1964 korrigiert werden konnte – eingebunden in die europäische Integration. Die Familie sei ein zentraler Faktor dieses Prozesses gewesen. Mit der Konzernbildung sei jedoch der Kapitalbedarf gestiegen und in der Folge der Vorstand unabhängiger geworden. FRANÇOISE BERGER ergänzte einen Überblick zu Verflechtungsstrategien in der französischen Stahlindustrie vor und nach 1945, die sich durch ein spezifisches Elitenmilieu sowie starke personelle und strukturelle Beharrungskraft ausgezeichnet habe. Zu einer größeren Konzentrationsbewegung sei es deshalb erst nach 1945 gekommen, wiederum ermöglicht durch den stabilen Handlungsrahmen der EGKS. Die eigentlichen Strukturprobleme, Angebotsorientierung und staatliche Finanzierung, seien damals aber nicht beseitigt worden.
Die Chancen einer Verknüpfung von familiengeschichtlicher und unternehmensgeschichtlicher Perspektive wurden auf der Tagung offenbar, auch dank der vier klar konturierten Panels, wie die ungewöhnlich rege Schlussdiskussion belegte. Als ein Impuls für die Forschung wurde die weitere Differenzierung der Logiken Wirtschaft/Familie/Politik/Öffentlichkeit in ihren jeweiligen Abhängigkeiten ausgemacht. Das Projekt habe dafür wichtige Hebel gefunden, etwa mit dem Vermögensbegriff und der Beraterkultur. Das primär aus der Unternehmensperspektive argumentierende Panel Ver-/Entflechtung hätte sicherlich auch Hinsichten auf die Familie geboten. Die Auswahl der Vortragstandems reflektierte die Notwendigkeit des Vergleichs, der über den Einzelfall Thyssen hinausweist. Letztlich waren die Thyssens wohl weder singulär noch typisch. Sie hatten sich früher als andere aus dem „Korsett“ (Simone Derix) des Familienunternehmens befreit, denn sie handelten nicht mehr unternehmerisch sondern ökonomisch, als transnationale vermögende Familie.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung
Günter Stock (Berlin), Günther Schulz (Bonn) und Margit Szöllösi-Janze (München)
PANEL 1: Beraterkulturen
Simone Derix (München): Guter Rat ist teuer. Die Rechts- und Vermögensberater der Thyssens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Rainer Liedtke (Darmstadt): Berater, Freunde, Verwandte, Konkurrenten: Die Geschäftsagenten der Rothschilds im 19. Jahrhundert
Johannes Bähr (Frankfurt/Main): Die Unternehmensform als Rahmen der Thyssen‘schen ‚Beraterkultur‘
Hervé Joly (Lyon): Wie sich Familienunternehmen in Frankreich beraten lassen
Hans Günter Hockerts (München): „Ich als Frau.“ Amélie Thyssen und ihre Berater
Eve Rosenhaft (Liverpool): „Ich als Frau“. Die Erbin als wirtschaftliche Akteurin in historischer Perspektive
Abendvortrag
David Sabean (Los Angeles): Structure and Practices among Entrepreneurial Families: Descent and Alliance during the Nineteenth and Twentieth Centuries
PANEL 2: Individualitäten und Typen
Felix de Taillez (München): Zwei ungleiche Brüder und die Öffentlichkeit: Der „Wirtschaftsführer“ Fritz Thyssen und der „Aristokrat“ Heinrich Baron Thyssen-Bornemisza de Kászon
Yves Cohen (Paris): Die Autorität der „Chefs“ – Selbstinszenierung und Imagepolitik in den 1930er Jahren (une démarche pragmatique en histoire)
Jan Schleusener (Berlin): Doppelte Entnazifizierung. Fritz Thyssen und seine NS-Vergangenheiten
Cornelia Rauh (Hannover): Entnazifizierungsverfahren von Industriellen: Was man aus Spruchkammerakten (nicht) lernen kann
Johannes Gramlich (München): Sammlertypen. Drei Thyssens auf dem Kunstmarkt
Jörg Rössel (Zürich): Der Kunstmarkt: Soziologische Perspektiven
PANEL 3: Anreizsysteme
Alexander Donges (Mannheim): Staatliche Anreize und langfristige Unternehmensstrategien. Die Auswirkungen staatlicher Lenkungsmaßnahmen auf die Investitionspolitik der Vereinigte Stahlwerke AG im „Dritten Reich“
Kim Christian Priemel (Berlin): Anreize, Steuerung, Dialog: Kommunikationsmedien und Konzernstrategien im Fall Flick
Thomas Urban (Bochum/Bonn): Thyssen und die „kleinen Täter“
Elisabeth Timm (Münster): Gewalt gegen Zwangsarbeiter. Lokale Befunde und strukturelle Analyse
PANEL 4: Ver-/Entflechtungen
Harald Wixforth (Bielefeld): „Die Solidarität mit dem Baron-Konzern ist zu verbessern“. Zur betriebsorganisatorischen Verflechtung im Firmenverbund Heinrich Thyssen-Bornemiszas und ihren Folgen
Johannes Bähr (Frankfurt/Main): „Reconstituer les Vereinigte Stahlwerke?“ Die August Thyssen-Hütte AG zwischen Entflechtung und Verflechtung
Françoise Berger (Grenoble): Unternehmenskonzentration in der französischen Eisen- und Stahlindustrie von der Zwischenkriegszeit bis in die siebziger Jahre – vergleichende Überlegungen
Anmerkung:
1 Erste Ergebnisse liegen in der Reihe „Familie – Unternehmen - Öffentlichkeit: Thyssen im 20. Jahrhundert“ bereits vor: Alexander Donges, Die Vereinigte Stahlwerke AG im Nationalsozialismus. Konzernpolitik zwischen Marktwirtschaft und Staatswirtschaft, Paderborn 2014; Thomas Urban, Zwangsarbeit bei Thyssen. „Stahlverein“ und „Baron-Konzern“ im Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2014; Johannes Gramlich, Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900-1970), Paderborn 2014.