Positionen der deutschen Justiz zu Überwachung und Geheimdiensten in Geschichte und Gegenwart

Positionen der deutschen Justiz zu Überwachung und Geheimdiensten in Geschichte und Gegenwart

Organisatoren
Forum Justizgeschichte e.V.
Ort
Wustrau
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.09.2014 - 28.09.2014
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Von
Alexandra Jaeger, Historisches Seminar, Universität Hamburg; Sarah Schulz, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Angesichts der Aufdeckung der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) oder der veröffentlichten Informationen des Whistleblowers Edward Snowden wird auf nationaler und internationaler Ebene die Notwendigkeit von Forschung zur Arbeit von Geheimdiensten deutlich. Dabei sind rechts- und politikwissenschaftliche sowie historische Fragestellungen von Bedeutung. Die diesjährige Tagung des Forums Justizgeschichte e.V. widmete sich anhand von Beispielen aus der bundesrepublikanischen Geschichte der Frage, welche Rolle die Justiz im Umgang mit vom Verfassungsschutz als gefährlich eingestuften Organisationen und Personen einnahm. Die Tagungsveranstalter/innen gingen davon aus, dass die Justiz sich grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu Geheimdiensten befände, da sie die Bürger/innen vor „exzessiven Maßnahmen und Willkürakten“ schützen solle. Insofern wurde gefragt, inwieweit sich die Justiz für den Schutz von Grundrechten oder Interessen des Staatsschutzes einsetzte.

Gleich zu Beginn machte HEIKE KLEFFNER (Berlin), Referentin im NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss für die Linksfraktion, die Aktualität einer eingehenden Erforschung des Verfassungsschutzes deutlich. In ihrem Beitrag stellte sie fest: Für V-Leute gelte „Quellenschutz statt Strafverfolgung“. Die Neonazis, die im NSU-Komplex auftauchen, kämen aus der „Pogrom“-Generation der 1990er-Jahre. Sie hätten keine Angst vor Strafverfolgung. Dafür seien nicht nur Polizei, Justiz und Medien verantwortlich, sondern auch die Geheimdienste. Anhand zweier V-Männer sprach Kleffner über das V-Personen-System der Verfassungsschutzbehörden. Trotz der schweren Straftaten, die die V-Männer begangen hatten, arbeitete der Verfassungsschutz mit ihnen zusammen und schützte sie vor der Strafverfolgung. Zudem habe der Verfassungsschutz die zahlreichen Hinweise der V-Personen über geplante Straftaten nicht an die Strafermittlungsbehörden weitergeleitet. Die in den Behörden zuständigen Beamten/Beamtinnen für die V-Personen würden von der institutionellen Kontrolle nicht erfasst. Nun, zwei Jahre nach der Entdeckung des NSU, gehe die Behörde gestärkt aus dem Skandal hervor. Eine kritische Öffentlichkeit und Wissenschaft sei nötig, um strukturelle Veränderungen zu erreichen. Ein zweiter Untersuchungsausschuss im Bundestag für die vielen offen gebliebenen Fragen wäre ein Anfang.

MANFRED HEINEMANN (Hannover) berichtete anhand der Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Nordrhein-Westfalens von den methodischen Schwierigkeiten vor denen eine Forschung zu Geheimdiensten steht und gab einen Einblick in die Materialsammlung des LfV.

Am Beispiel der Zentralen Arbeitsgemeinschaft „Frohe Ferien für alle Kinder“ (ZAG) lotete JENS NIEDERHUT (Düsseldorf) das Verhältnis von Verfassungsschutzbehörden und Justiz aus. Als Reaktion auf den überraschenden Erfolg der ZAG, die in den 1950er-Jahren Ferienlager für Kinder in der DDR organisierte, hatte das LfV ein umfassendes V-Leute-System aufgebaut und war gut über die Organisation informiert. Die Platzierung sei aufgrund der straffen Organisation der kommunistischen Arbeitsgemeinschaft – im Unterschied zu weniger festen Organisationsstrukturen wie dem NSU – einfacher gewesen. Am Beispiel der ZAG wurde deutlich, wie massiv im Kalten Krieg gegen eine vom Verfassungsschutz als unwirksam eingestufte „Tarnorganisation der KPD“ vorgegangen wurde, teilweise sogar mit Freiheitsstrafen. Die Initiative ging hier überraschenderweise nicht von Innenpolitikern oder Verfassungsschützern aus, sondern von der Justiz. Dabei wurde die strafrechtliche Verfolgung durch Informationen von V-Leuten erleichtert. Offen bleibe die Frage, wie umfangreich der Austausch zwischen Justiz und Verfassungsschutz war, da bis heute zu wenige Akten freigegeben seien.

GERHARD PAULI (Hagen) blieb beim Beispiel der ZAG, um die Kontinuität der „Verratsnovelle“ von 1934 und dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz (1. StÄG) von 1951 aufzuzeigen. Außerdem beleuchtete er die Rolle der Justiz in der Kriminalisierung der Aktion. Die beiden Gesetzesnovellen sowie die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) nach dem Verbot der ZAG zeigten eine Vorverlagerung und Subjektivierung der strafrechtlichen Tatbestände. Statt um die objektive Tathandlung sei es um die subjektive Absicht des Täters/der Täterin gegangen, statt um den Hochverrat als solchen um dessen Vorbereitung. Und, so Pauli, „wo Kommunisten mitmachten, ging es immer gegen die verfassungsmäßige Ordnung“ – das sei die Auffassung der Justiz gewesen. Nichtkommunisten/Nichtkommunistinnen seien für die gleiche Tätigkeit kaum belangt worden. Ein fairer Prozess sei damit schwer möglich gewesen. Generell sei die Strafverfolgung nach dem 1. StÄG durch einen festgefügten Personenkreis durchgeführt worden. Dieser habe die Proportionen auch nach Abnahme der zunächst vermeintlich festgestellten Gefährdung verloren. Das System des politischen Strafrechts sei auf dieser Grundlage nicht reformierbar gewesen und wurde 1968 aufgehoben.

Um die Zulässigkeit des Whistleblowings für staatliche Beschäftigte ging es DIETER DEISEROTH (Leipzig). Er wählte das Beispiel des Verfassungsschutzbeamten Werner Pätsch. Dieser hatte in den 1960er-Jahren Amtsgeheimnisse an die Presse weitergegeben und wurde daraufhin entlassen. Neben Angaben über die NS-Vergangenheit einiger Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz sei es vor allem um die Post- und Fernmeldeüberwachung von Kontakten in die DDR gegangen. Diese sei ohne gesetzliche Grundlage erfolgt. Pätsch wurde vom BGH wegen einer vorsätzlichen Verletzung der Amtsverschwiegenheit zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.1 Durch die Forschung von Josef Foschepoth haben sich Pätsch’ Informationen aber als zutreffend erwiesen.2 Deiseroth schlussfolgerte, dass die Exekutive in den 1950er- und 1960er-Jahren die Bindung an Recht und Gesetz strukturell missachtet habe. Außerdem wies er auf eine Passage im Urteil des BGH hin, die in der juristischen Kommentarliteratur zu wenig Beachtung finde. So sei es, laut BGH, bei der Verletzung der Grundwerte des demokratischen Verfassungsstaates zulässig, unmittelbar die Öffentlichkeit zu informieren. Unter diesen Vorzeichen sei das Whistleblowing Notwehr, da die Bevölkerung nur mit dem Wissen über nicht rechtmäßige staatliche Praktiken ihre Rechte innerhalb der Demokratie wahrnehmen könne.

JOHN PHILIPP THURN (Berlin) skizzierte die Diskussionen über den „Extremistenbeschluss“ in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer auf ihrer Tagung 1978.3 In der traditionsreichen Vereinigung, die weitreichenden Einfluss in Politik und Wissenschaft gehabt habe, seien neben konservativen und liberalen Vertretern linke Stimmen wie die von Helmut Ridder oder Wolfgang Abendroth nicht gehört worden. Thurn stellte eine Dominanz konservativer und obrigkeitsstaatlicher Positionen fest. Liberalere Forderungen wie die der Abschaffung der Regelanfrage beim Verfassungsschutz hätten sich nicht durchsetzen können. Von einer Liberalisierung innerhalb der Staatsrechtslehrervereinigung könne folglich nicht ausgegangen werden. Thurn führte das auf die starken personellen Kontinuitäten, die besondere Ausprägung der Lehrer-/Schülerverhältnisse sowie die „Traumatisierung“ einiger Hochschullehrer nach den inneruniversitären Konflikten von 1968 zurück.

Wie stark die Einflussnahme des Verfassungsschutzes auf Strafverfahren war, zeigte ULRICH VON KLINGGRÄF (Berlin) an den Prozessen zum Mordfall Ulrich Schmücker. Die Ermittlungen im 1974 geschehenen Mord an Schmücker, einem ehemaligen Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ und einem V-Mann des Verfassungsschutzes, seien maßgeblich vom Berliner Verfassungsschutz beeinflusst worden. Dieser habe seine eigene Involvierung in den Fall verdunkeln wollen, was unter anderem zu einseitigen Ermittlungen, Zurückhaltung von Beweismitteln und einer Bespitzelung der Anwälte der Angeklagten geführt habe. Die Einflussnahme des Geheimdienstes sei von Polizei, Innensenatoren und den ermittelnden Staatsanwälten gedeckt worden. Das Landgericht Berlin sah sich 1991 gezwungen, das Verfahren wegen dieser rechtsstaatlich hochproblematischen Verfahrensmängel einzustellen.4 Die Waffengleichheit von Verteidigung und Anklage sowie die Sorgfaltspflicht seien so sehr beeinträchtigt gewesen, dass ein Urteilsspruch nicht möglich gewesen sei.

MICHAEL PLÖSE (Berlin) erörterte die Frage, wie das Bundesverfassungsgericht auf die geänderte Gefährdungslage nach dem 11. September reagierte. Er hob hervor, dass die Feststellung einer neuen Gefahrenbedrohung auf verschiedenen Ebenen zu einer „Entgrenzung“ geführt habe. Beispielshaft dafür seien die Aufgabenteilung zwischen Polizei und Militär oder bundesdeutschen und europäischen Institutionen. Die neue Gesetzgebung habe zu einer Ausdehnung von Präventivmaßnahmen geführt, was durch die Ablösung eines objektiven durch einen subjektiven Gefahrenbegriff befördert worden sei: Objektiv als strafbar feststellbare Handlungen müssen nicht mehr vorliegen, es genügt bereits die subjektive Absicht eine strafbare Handlung ausführen zu wollen. Das Bundesverfassungsgericht würde diese Entwicklung im Kern bestätigen und nur in Einzelfällen widersprechen. Dadurch seien die Feststellung von Gefahrensituationen als Abwägungsentscheidungen im Einzelfall definiert und keine generellen „roten Linien“ in Bezug auf die Grundrechte mehr erkennbar.

Gerade im Hinblick auf das Agieren des Verfassungsschutzes im Fall des NSU machte die Tagung die aktuelle gesellschaftspolitische Relevanz der Beschäftigung mit Aufgaben und Kontrolle des Verfassungsschutzes deutlich. In der Abschlussdiskussion dominierten deshalb die rechtspolitischen Fragestellungen zu der Bedeutung des Verfassungsschutzes. Es wurde kontrovers diskutiert, ob der Geheimdienst angesichts der auf der Tagung vorgestellten Beispiele strukturell mit einem demokratischen System überhaupt vereinbar sei. Vor allem stellte sich die Frage, ob das V-Personen-System verzichtbar sei. Dagegen wurde eingewandt, dass eine Verlagerung der Aufgaben des Verfassungsschutzes zur Polizei das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdienst aufheben würde. Die Verfassungsschutzbehörden haben keine Zwangsbefugnisse. Die Trennung dieser Bereiche war eine Reaktion auf die Tätigkeit der Gestapo im Nationalsozialismus. Jedoch seien die Parlamente als Kontrollinstanzen der Geheimdienste strukturell überfordert und den zu kontrollierenden Behörden gegenüber im Nachteil. Die Polizeibehörden würden allerdings gar nicht in dieser Hinsicht kontrolliert beispielsweise in der Leitung des eigenen V-Personen-Systems. Mit Blick auf die Entwicklung des Verfassungsschutzes wurde zudem die These vertreten, dass die Behörden aus jedem Skandal infrastrukturell gestärkt hervorgegangen seien. Andere Stimmen forderten eine Entsubjektivierung der Straftatbestände, um die Macht des Verfassungsschutzes einzuschränken: Personen sollten nur noch aufgrund konkreter Handlungen überwacht werden. An dieser Stelle könnte die Justiz gegenüber den Geheimdiensten steuernd eingreifen.

Die verschiedenen Vorträge der Tagung konnten naturgemäß nur Einblicke in die Funktionsweise des Verfassungsschutzes und Reaktionen der Justiz werfen. Angesichts der konspirativen Tätigkeit der Geheimdienste und der weitgehenden Nichtablieferung ihrer Akten in die staatlichen Archive stellt der Zugang zu den Quellen weiterhin ein großes Problem für die Forschung dar. Die thematisierten Fälle offenbarten häufig eine Einschränkung rechtsstaatlicher Prinzipien durch den Verfassungsschutz. Die Justiz stellte dabei nur in Ausnahmen einen Schutz dar. Mehrere Fälle zeigten die problematische Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz zulasten der Angeklagten. In welchem Maße es Gegenbeispiele gibt, wie der deutsche Geheimdienst im Vergleich zu ausländischen Geheimdiensten zu beurteilen ist und welche Eingriffsmöglichkeiten die Justiz besitzt und in der Vergangenheit auch nutzte, sind deshalb weitgehend offene Fragen. Angesichts einer zunehmenden Historisierung des Kalten Krieges, wäre auch zu fragen, ob sich hierbei Unterschiede in den verschieden Phasen des Ost-West-Konflikts bzw. nach dem Ende der Systemkonkurrenz feststellen lassen.

Konferenzübersicht:

Heike Kleffner (Berlin), Das „NSU“-Verfahren: Quellenschutz statt Strafverfolgung im ersten Jahr nach dem Untersuchungsausschuss?

Manfred Heinemann (Universität Hannover), Die „68er“ zwischen Polizei, Geheimdiensten und Justiz und ihre Bedeutung für die Rechtsstaatsentwicklung in der Bundesrepublik

Jens Niederhut (Landesarchiv NRW), Beurteilung nach Aktenlage? Die Einschätzung der Aktion „Frohe Ferien für alle Kinder“ durch den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz

Gerhard Pauli (Hagen), Das Verratsgesetz von 1934 und das 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 – Kontinuität und Veränderung sowie die Anwendung bei der Kriminalisierung der Aktion „Frohe Ferien für alle Kinder“

Dieter Deiseroth (Leipzig), Werner Pätsch: Wie ein Verfassungsschützer den BGH 1965 zur Anerkennung des Whistleblowing brachte

John Philipp Thurn (Berlin), Verfassungsschutz und „Extremistenbeschluss“ in der staatsrechtlichen Debatte der 1970er-Jahre

Ulrich v. Klinggräf (Berlin), Das Schmücker-Verfahren: Verfassungsschutz und Strafverfahren

Michael Plöse (Humboldt-Universität zu Berlin), Die Sicherheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor und nach dem 11. September 2001

Anmerkungen:
1 BGH, Urteil vom 8.11.1956, 8 StE 1/65.
2 Jürgen Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, 4. durchgesehene Aufl., Göttingen 2014, (1. Aufl. 2012).
3 Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer: Verfassungstreue und Schutz der Verfassung. Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Bonn vom 4. bis 7. Oktober 1978. Mit Beiträgen von Erhard Denninger / Hans H. Klein / Walter Rudolf / Frido Wagener, Berlin 1979.
4 Vereinigung Berliner Strafverteidiger e. V., Das Urteil. Ende des Schmücker-Prozesses?, Berlin 1991.


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