Die Darstellung des Inkommensurablen in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts

Die Darstellung des Inkommensurablen in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts

Organisatoren
CIERA-Programm „Poétique du récit historique“
Ort
Paderborn
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.02.2014 - 15.02.2014
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Von
Ramon Voges, Historisches Institut, Universität Paderborn

Wie können Texte darstellen, was sich der sprachlichen Darstellung eigentlich entzieht? Welche erzählerischen Strategien bieten sich an, um das Unermessliche und Unbegreifbare auszudrücken? Wie also lässt sich über das sprechen, was nur begrenzt in Sprache übersetzbar ist? Fragen wie diese standen im Zentrum des zweiten internationalen und interdisziplinären Kolloquiums, das im Rahmen des CIERA-Programms „Poétique du récit historique“ am 14. und 15. Februar 2014 in Paderborn stattfand. Unter dem Titel „Die Darstellung des Inkommensurablen in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts“ besprachen die Tagungsteilnehmer ausgewählte Beispiele aus der schönen Literatur und Geschichtsschreibung, in denen es um Annäherungsversuche an einen für grundsätzlich unverfügbar gehaltenen Sinn der Geschichte ging.

Die Geschichtsliteratur des 19. Jahrhunderts gelte als schlicht, hoben die Veranstalter der Tagung Johannes Süßmann, Stefan Schreckenberg und Sabine Schmitz (Paderborn) in ihrer Begrüßung hervor. Im Zeichen des Historismus hatte sie sich eine Repräsentationsästhetik zu eigen gemacht, der zufolge das Allgemeine, also die leitenden Ideen und der vermeintliche Sinn der Geschichte, stets im Besonderen, das heißt in einzelnen Personen und Ereignissen, auszudrücken sei. Schon die Frühromantiker hatten jedoch an dieser Entsprechungshistorik Kritik geübt. Mit dem Begriff des ‚Inkommensurablen‘ bezeichneten Novalis und Friedrich Schlegel die Diskrepanz zwischen Ideen und ihrer sprachlichen Darstellung. Für sie war es „eine irrationale Größe, unsetzbar“, etwas, das nicht auf Begriffe oder einzelne Sätze zu bringen ist. Daher waren die Romantiker und die Historiker, die sich an ihnen orientierten, gezwungen, indirekte Darstellungsstrategien zu entwickeln. Sie experimentierten mit Darstellungsformen und überschritten Genrekonventionen, um auf etwas zu verweisen, das sich ihrer Auffassung nach nur begrenzt ausdrücken lässt.

In vier Sektionen untersuchten die Teilnehmer der Tagung, welche Konsequenzen sich für die Darstellung ergaben, wenn man etwas als inkommensurabel ansah. Die erste Sektion widmete sich historischen Ereignissen, die für inkommensurabel gehalten wurden, die zweite literarischen Genres, die dritte Figuren und die vierte seiner Dramatik. Auf die vier Sektionen verteilten sich insgesamt neun Beiträge, von denen im Folgenden eine Auswahl näher vorgestellt sei. Den Anfang machte ANNA KARLA (Köln) mit ihrer Analyse der Erzähltechniken, die in der Zeitgeschichtsschreibung zur Französischen Revolution Verwendung fanden. Da Revolutionen historisch inkommensurable Ereignisse schlechthin seien, stellten sie die Zeitgenossen bei der Darstellung vor erhebliche Herausforderungen. Im Medium der Zeitgeschichtsschreibung griffen sie insbesondere auf drei Erzähltechniken zurück, um das Unerklärliche und Unfassbare auszudrücken: Sie konfrontierten die Unübersichtlichkeit tumultartiger Massenszenen mit ausführlichen Beschreibungen einzelner Details. Zudem inszenierten sie ihre eigene Sprachlosigkeit, beispielsweise durch Auslassungszeichen. Und sie kompensierten ihre eigene Ohnmacht, handelnd in das Geschehen einzugreifen, indem sie davon erzählten. Obwohl es sich bei der Zeitgeschichtsschreibung zur Französischen Revolution formal um historiographische Texte handelt, die von einer Annahme ihrer Faktizität leben, ähneln sie in ihrer Funktionsweise literarisch-fiktionalen Texten.

Den umgekehrten Weg ging HENDRIK SCHLIEPER (Essen). In seinem Beitrag über „La Reine Margot“ von Alexandre Dumas spürte er dem Beitrag populärer Geschichtsdarstellungen zum kollektiven Gedächtnis nach.

JOHANNES SÜSSMANN (Paderborn) wandte sich der Frage zu, wie die Bartholomäusnacht in den Werken Jules Michelets und Leopold Rankes dargestellt wird. Zwar hätten beide auf den ersten Blick keine Probleme, diesem Ereignis Sinn zuzuschreiben. Michelet deute den massenhaft Mord an den protestantischen Hugenotten als ein innerweltlich-historisches Martyrium; Ranke sehe darin den Tiefpunkt der französischen Staatsgewalt, die anschließend als absolute Monarchie neu errichtet werden musste, befreit vom Zugriff der Konfessionen. Sowohl bei Michelet als auch bei Ranke reiße aber an zentraler Stelle das Inkommensurable diesen historischen Sinn auf. Bei Michelet trete es in Form einer materialistischen Ästhetik der Grausamkeit hervor, bei Ranke in einem metaphysischen Geisterspuk, in dem sich etwas Unsichtbares und Unaussprechliches manifestiere. Beide Galionsfiguren des Historismus verwiesen also auf das Inkommensurable und bauten es als literarische Strategie in ihre Darstellung ein. Süßmann folgerte daraus, dass die idealistische Repräsentationsästhetik und die Historik des Inkommensurablen einander keineswegs ausschlössen.

Die zweite Sektion begann STEFAN SCHRECKENBERG (Paderborn), dessen Vortrag den Titel „Geschichte als Drama? Zur Geschichtskonzeption im Theater der französischen Romantik“ trug. Am Beispiel Victor Hugos zeigte Schreckenberg, dass zwei wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung des modernen historischen Dramas notwendig waren: zum einen die Überwindung der aristotelischen Trennung von Geschichte und Dichtung, zum anderen die Entwicklung literarischer Strategien, die das Allgemeine und das Besondere auf neue Weise zur Deckung brachten. Da nämlich das romantische Drama zugleich historisches Drama und Drama der Individualität sein wollte, gerieten das Allgemeine und das Besondere unweigerlich in ein Spannungsverhältnis. Nichtsdestoweniger habe das erklärte Ziel der französischen Romantiker darin bestanden, mit den historischen Dramen die herkömmliche Geschichtsschreibung, der ihrer Einschätzung nach die individuelle und emotionale Dimension fehle, zu ergänzen, wenn nicht gar zu überbieten. Als konkurrierende Mächte, die sich einer optimistischen historischen Sinnstiftung entzögen, machten die Dramen insbesondere das Schicksal, den Zufall und die Liebe aus.

NIKLAS BENDER (Tübingen) sowie SABINE SCHMITZ und MARIE WEYRICH (beide Paderborn) vertieften die Überlegungen zur Gattungsgeschichte. Während sich Bender dem historischen Roman zwischen Romantik und Realismus zuwandte, erschlossen Schmitz und Weyrich das Werk „La Légende d'Ulenspigel“ von Charles de Coster im Spannungsfeld von Geschichtsschreibung und Epos.

Die dritte Sektion trug den Titel „Figuren der Inkommensurabilität“ und wurde von ELISABETH DÉCULTOT (Paris/Berlin) bestritten. In ihrem Beitrag plädierte sie dafür, den Künstlerroman nicht allein der Literaturwissenschaft zu überlassen. Er stelle vielmehr eine Alternative zur historiographischen Gattung der Kunstgeschichte dar und müsse folglich ebenfalls von der Kunstgeschichte zur Kenntnis genommen werden. Der deutsche Künstlerroman des 18. Jahrhunderts sei nämlich Ausdruck eines dezidiert ästhetisch-erkenntnistheoretischen Programms gewesen: Nur mithilfe der Kunst lasse sich angemessen über Kunst reden. Autoren wie Wilhelm Heinse und Ludwig Tieck hätten insofern die historiographische Gattung der Kunstgeschichte in wesentlichen Punkten erweitern wollen.

Die beiden letzten Vorträge beschäftigen sich mit dem Verhältnis von
Inkommensurabilität und Dramatik. DANIEL FULDA (Halle) sprach über Grillparzers Kritik an der Ineinssetzung von Sein und Sinn der Geschichte, mithin von Immanenz und Transzendenz, die der Historismus mehr behauptete als tatsächlich erkläre. Der historistischen Synthese von Immanenz und Transzendenz setzte Grillparzer zum einen die Poesie und zum anderen eine überzeitliche, von Gott garantierte Ordnung entgegen. Seine Geschichtsdramen ließen sich insofern als selbstbewusste Alternative zu etablierten Geschichtsdeutungen und Geschichtsdarstellungen lesen, gleichsam als Form des literarischen Widerstands.

Zum Schluss des Kolloquiums trug mit HANS-JOACHIM LOPE (Marburg) ein Doyen der romanistischen Forschung zur Frühen Neuzeit vor. Unter der Überschrift „‚Romulus a tué son frère. La ville est fondée.‘ Bemerkungen zu den historischen Dramen Ernest Renans“ wandte sich der Vortragende den weniger bekannten Werken des französischen Religionswissenschaftlers, Historikers und Philosophen zu. Dafür stellte Lope die Dramen in einen Zusammenhang sowohl zum Gesamtwerks Renans als auch der Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. Als Ergebnis hielt er fest, dass ein idealistischer Fortschrittsglaube sämtliche Bühnenstücke durchziehe.

Das Verdienst der Tagung bestand darin, eine doppelte Vergleichsperspektive zu eröffnen: einerseits im Hinblick auf die unterschiedlichen Lösungen, die in der deutschen und in der französischen Literatur für das Problem gefunden wurden, wie mit dem Inkommensurablen als einem Grenzphänomen der Sprache, als einem Unsagbaren und Undarstellbaren, umzugehen sei. Andererseits verdeutlichten die Vergleiche zwischen den einzelnen Gattungen die gemeinsamen ästhetischen und erzählerischen Strategien bei der Bewältigung eines vermeintlich unverfügbaren Sinns in der Geschichte. Insofern leistete das Kolloquium nicht nur einen Beitrag dazu, dass sich die Geschichtswissenschaft ihrer eigenen Geschichte vergewisserte. Sie sorgte auch für einen Brückenschlag zwischen der Geschichtswissenschaft und den Philologien. Als gemeinsames Ergebnis konnten die Teilnehmer festhalten: Die Geschichtsliteratur des 19. Jahrhunderts wird zu Unrecht als schlicht abgetan. Mit der Frage nach dem Inkommensurablen legte die Tagung ein hermeneutisches Tiefenproblem frei, das von der Forschung bislang übersehen wurde. Denn die idealistische Repräsentationsästhetik und das Inkommensurable schließen sich nicht etwa aus, sondern bedingen einander. Die schöne Literatur und die Geschichtsschreibung hängen viel enger miteinander zusammen, als bisher gedacht.

Konferenzübersicht:

Johannes Süßmann/Stefan Schreckenberg/Sabine Schmitz (Paderborn), Begrüßung und Einführung

1. Sektion: Inkommensurable Ereignisse

Anna Karla (Köln), Restrisiko. Erzähltechniken der Erklärungsnot in der Zeitgeschichtsschreibung zur Französischen Revolution

Hendrik Schlieper (Essen), Die Applizierbarkeit der Geschichte. Alexandre Dumas père, „La Reine Margot“ (1844/1845)

Johannes Süßmann (Paderborn), Die Bartholomäusnacht in der Geschichtsschreibung Rankes und Michelets

Forumsdiskussion: Die Bartholomäusnacht als Modell für die Historisierung der Revolution?
Moderation: Claudia Öhlschläger

2. Sektion: Inkommensurabilität und literarische Genres

Stefan Schreckenberg (Paderborn), Geschichte als Drama? Zur Geschichtskonzeption im Theater der französischen Romantik

Niklas Bender (Tübingen), Überlegungen zur Geschichtspoetik im historischen Roman der Romantik und des Realismus

Sabine Schmitz/Marie Weyrich (Paderborn), Dévoilement de l'Histoire ou univers autarcique: "La Légende d'Ulenspiegel" de Charles de Coster au carrefour de l'H/histoire et de la légende

Forumsdiskussion: Zwingt die Darstellung des Inkommensurablen zur Überschreitung von Genrekonventionen?
Moderation: Simon Bunke

3. Sektion: Figuren der Inkommensurabilität

Elisabeth Décultot (Paris/Berlin), Der Künstler als Held und Außenseiter. Zur historiographischen Bedeutung des Künstlerromans zwischen Fiktion und Geschichte

Forumsdiskussion: Der Künstler als Institutionalisierung des Inkommensurablen?
Moderation: Sabine Schmitz (Paderborn)

4. Sektion: Dramatik der Inkommensurabilität

Daniel Fulda (Halle), „Wer poetische Ideen in die wirkliche Welt einführt, steht in Gefahr mit prosaischen die Poesie zu verfälschen.“ Grillparzers Kritik an der historistischen Ineinssetzung von Sein und Sinn

Hans-Joachim Lope (Marburg), „Romulus a tué son frère. La ville es fondée“. Bemerkungen zu den historischen Dramen Ernest Renans

Forumsdiskussion: Das Geschichtsdrama als Form der Einhegung von Inkommensurabilität?
Moderation: Stefan Schreckenberg (Paderborn)


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