Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute. Tagung zu Ehren von Dorothee Wierling

Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute. Tagung zu Ehren von Dorothee Wierling

Organisatoren
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH); Körber-Stiftung
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.03.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Carmen Ludwig, Körber-Stiftung, Hamburg

„Es gilt das gesprochene Wort.“ Unter diesem Titel veranstalteten die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und die Körber-Stiftung eine wissenschaftliche Tagung anlässlich des 65. Geburtstages von Dorothee Wierling. Die Historikerin Dorothee Wierling hat die Entwicklung der Oral History in der Bundesrepublik nachdrücklich geprägt; daher stand das Verhältnis von Oral History und Zeitgeschichte im Zentrum der Tagung. Die Oral History arbeitet maßgeblich mit gesprochenen Worten in lebensgeschichtlichen Interviews und versteht Aussagen von Interviewpartnern als eine grundlegende Quelle. Für die Disziplin der Zeitgeschichte ist die Oral History dagegen nur eine von vielen denkbaren Quellenzugängen. Davon ausgehend, dass sich derzeitig viele Projekte zur westdeutschen Geschichte nach 1945 mit den Lebensgeschichten einer „affluent generation“ beschäftigen, die meist nicht von Brüchen oder Krisen, sondern von Kontinuität und wachsendem Wohlstand geprägt waren, stand die Oral History als Teil der deutschsprachigen Zeitgeschichte im Blickfeld des eintägigen Tagungsprogramms. Zum einen ging es um die Frage, wie und ob ein Narrativ der „Erfolgsgeschichte“ in aktuellen Oral History Projekten zur deutschen Geschichte nach 1945 sichtbar wird, zum anderen ging es um die Einflüsse der Medien und interdisziplinäre Umgangsweise mit Interviews, aber auch um eine weitere Entwicklung von Quelle und Methode.1

Den Auftakt der Tagung bildete die Begrüßung von LOTHAR DITTMER (Hamburg), Vorstandsvorsitzender der Körber-Stiftung, und AXEL SCHILDT (Hamburg), Direktor der FZH. Beide Redner stellten die enge Verbundenheit Dorothee Wierlings mit der Oral History heraus. Als „Schlüsselperson“ (Axel Schildt) zur Körber-Stiftung sei Wierling wichtig für den Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte (heute Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten) gewesen und habe die Etablierung der Oral History im Wettbewerb weit vorangetrieben. Ebenso seien die Entwicklungen der Oral History mit den wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkten Wierlings verschmolzen.

Im ersten Panel stand die Frage nach lebensgeschichtlichen Interviews als Quellen für Erfolgserzählungen im Zentrum. ANDREA ALTHAUS (Hamburg) referierte über Erfolgs- und Aufstiegserzählungen in Migrationsbiografien von Frauen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren als Dienstmädchen in die Schweiz gegangen waren. Althaus zeigte anhand ihrer Interviews, dass Erfolg als ein relationaler Begriff zu verstehen sei, der als Darstellungshilfe diene, um Entwicklungen im eigenen Leben zu beschreiben. Aus der Retrospektive würden biografische Wendepunkte oftmals als Erfolg erinnert, so Althaus. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive analysierte anschließend JANINE SCHEMMER (Udine) lebensgeschichtliche Erzählungen ehemaliger Hamburger Hafenarbeiter über ihre Arbeit. Dabei betonte sie, dass die ehemaligen Hafenarbeiter durchgehend positive Erinnerungen mit beruflichen Herausforderungen verbanden. Mit der Einführung des Containers, einem erheblichen strukturellen Wandel der Hafenarbeit, waren allgemeine und persönliche Krisenerzählungen eben nicht verbunden. In der anschließenden Diskussion hoben beide Referentinnen hervor, dass Erfolg als eine narrative Strategie diene, die nur schwer objektiv messbar sei.

Im zweiten Panel standen wiederum zwei Forschungsprojekte und die darin geführten Interviews im Vordergrund. LU SEEGERS (Hamburg) sprach auf der Basis ihrer Studie „Vaterlosigkeit im 20. Jahrhundert. Kriegsbedingte Erfahrungen in Deutschland und Polen“ über den Zusammenhang von Geschichtsfernsehen und biografischer Sinnstiftung, der in den Interviews mit selbsternannten „Kriegskindern“ deutlich wurde.2 Seegers beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Bedeutung von Fernsehbildern für das Gedächtnis und thematisierte zugleich die Kommerzialisierung des Nationalsozialismus durch mediale Illustration. Sie kam zu dem Schluss, dass Geschichtsfernsehen eine starke Prägekraft auf die Darstellung von Erinnerungen habe und damit großen Einfluss auf die Deutung von Familiengeschichten ausübe. MALTE THIESSEN (Oldenburg) referierte über die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Historikern und Psychologen bei der Analyse lebensgeschichtlicher Interviews aus dem Kontext des Projekts „Zeitzeugen des ‚Hamburger Feuersturms‘ und ihre Familien – ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrung“.3 Dabei wies er auf die Verschiedenheit in der Auswertung des Gesagten durch Historiker einerseits, Psychoanalytiker andererseits hin. Anhand der Diskussionen über disziplinspezifische Termini wie Empathie, Trauma, Identifikation und Erinnerung belegte Thießen seine These, dass Interdisziplinarität weniger zu gemeinsamen Begriffsdefinitionen führt als vor allem die zentrale Begrifflichkeiten der eigenen Zunft schärft.

Im abschließenden Podiumsgespräch diskutierten DOROTHEE WIERLING (Hamburg), MARY FULBROOK (London), ANNETTE LEO (Jena) und ALEXANDER VON PLATO (Neuenkirchen) zunächst über die Frage, was und wann etwas als erzählenswert gilt. Den Hintergrund dieser Frage bildeten die langjährigen Erfahrungen der versammelten Wissenschaftler, aber auch lebensgeschichtliche Projekte in osteuropäischen Ländern und in den neuen Bundesländern. Erzählungen von Menschen aus Osteuropa lassen sich nicht ohne weiteres in eine bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte integrieren. Sie waren stark von Brüchen geprägt, die jedoch häufig erwünscht waren und sich individuell sowohl als Aufstieg als auch als Deklassierung auswirken konnten. Leo erinnerte an die zunehmende Medialisierung von Geschichte, die maßgeblich die Erzählstruktur beeinflusse und eine gewisse Erwartungshaltung der Interviewer stärke. Auch Fulbrook knüpfte an beide Akteure im Interview an und stellte heraus, dass die erzählende Person ebenso wie der Interviewer die Quelle produziere und sie damit als Erzählgemeinschaft zu verstehen seien. Von Plato fügte an, dass das gesprochene Wort erst im Kontext mit anderen Quellen Geltung erhalte. Dabei spiele vor allem die Subjektivität der Quelle eine entscheidende Rolle. Wierling erklärte, dass mündliche Zeugnisse ebenso wertvoll seien wie schriftliche Quellen und es auf eine Multiperspektivität der Forschenden ankomme. Hierbei hob Wierling insbesondere die Mehrdeutigkeit des Erzählten hervor. Sie fasste zusammen, dass zwar das mehrdeutige Erzählen häufig zu Schwierigkeiten in der stringenten Thesenbündelung führe, jedoch genau darin die besondere Relevanz des gesprochenen Wortes liege.

Konferenzübersicht:

Begrüßung:
Lothar Dittmer/Axel Schildt (Hamburg)

Panel 1: Erfolg erzählen?
Moderation: Knud Andresen (Hamburg)

Andrea Althaus (Hamburg), Vom Glück in der Schweiz. Erfolgs- und Aufstiegserzählungen in Migrationsbiografien

Janine Schemmer (Udine), Keine Arbeiter zweiter Klasse mehr. Erzählungen ehemaliger Hamburger Hafenarbeiter

Panel 2: Wozu Oral History gebraucht wird
Moderation: Linde Apel (Hamburg)

Lu Seegers (Hamburg), Fernsehbilder und innere Bilder. Überlegungen zum Zusammenhang von Geschichtsfernsehen und biografischer Sinnstiftung

Malte Thießen (Oldenburg), Geschichte und Psychoanalyse revisited. Praxis und Potenziale interdisziplinärer Forschung

Roundtable: Oral History und Zeitgeschichte heute
Moderation: Kirsten Heinsohn (Kopenhagen)
Podium: Dorothee Wierling (Hamburg)/Mary Fulbrook (London)/Alexander von Plato (Neuenkirchen)/Annette Leo (Jena)

Anmerkungen:
1 Die Tagung stellte einige Beiträge aus der Festschrift für Dorothee Wierling (Knud Andresen/Linde Apel/Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015) zur Diskussion.
2 Lu Seegers, „Vati blieb im Krieg“. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen, Göttingen 2013.
3 Ulrich Lamparter/Silke Wiegand-Grefe/Dorothee Wierling (Hrsg.), Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre Familien. Forschungsprojekt zur Weitergabe von Kriegserfahrungen, Göttingen 2013.


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