„Ich sehe was, was du nicht siehst“. Neue Perspektiven auf die Zeit- und Geschlechtergeschichte

„Ich sehe was, was du nicht siehst“. Neue Perspektiven auf die Zeit- und Geschlechtergeschichte

Organisatoren
Verena Limper / Berit Schallner, Zentrum für Vergleichende Europäische Studien (ZEUS)
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.11.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Jana Hoffmann, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

Die oft bemängelte fehlende gegenseitige Wahrnehmung und zurückhaltende Durchdringung von Zeit- und Geschlechtergeschichte bot den Anlass für einen eintägigen Workshop, der von Verena Limper und Berit Schallner organisiert und vom Zentrum für Vergleichende Europäische Studien (ZEUS) der Universität zu Köln ausgerichtete wurde. Angeregt durch den Sammelband „Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte“, der unter Einbezug der Kategorie Geschlecht „gängige Interpretationsmuster“ der Zeitgeschichte überprüft1, fragte der Workshop nach dem Potential innovativer methodischer, theoretischer und thematischer (geschichts)wissenschaftlicher Ansätze mit Blick auf die Verschränkung von und den Erkenntnisgewinn für die deutsche Zeit- und Geschlechtergeschichte. Hierfür luden die Veranstalterinnen neben etablierten Wissenschaftler_innen Nachwuchswissenschaftlerinnen in unterschiedlichen Stadien ihrer Promotion ein und boten insbesondere letzteren die Möglichkeit, vor einem fachkundigen Publikum ihre Projekte, Ansätze und Zugänge zu diskutieren. Der Workshop gliederte sich in drei Panels – Akteur_innen, Dinge, Lokalitäten – wurde durch eine Keynote eingeleitet und endete mit einer Abschlussdiskussion.

KIRSTEN HEINSOHN (Kopenhagen) legte mit ihrer einführenden und zusammenfassenden Keynote eine gemeinsame Basis für den weiteren Verlauf des Workshops und gab erste Denk- und Diskussionsanstöße. Sie historisierte die Entstehung der Frauen- und Geschlechtergeschichte und verortete diese im Kontext anderer Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, umriss ihre bundesdeutsche universitäre Etablierung im Vergleich zu anderen Ländern (USA) und verwies dabei auf die Bedeutung von Relevanzhierarchien in Deutschland. Sie machte einerseits auf die unterschiedliche Durchdringung geschlechtergeschichtlicher Ansätze in den einzelnen Teildisziplinen aufmerksam (Vergleich Frühe Neuzeit und Zeitgeschichte) und dokumentierte das scheinbar nicht überwindbare – zurzeit aber vieldiskutierte – Auseinanderdriften von (feministischer) Bewegung und Theorieentwicklung. In einem nächsten Schritt skizzierte Heinsohn zentrale Ansätze und problematisierte dabei Geschlecht als (Untersuchungs-)Kategorie.2 Der Kategoriebegriff berge, so Heinsohn, die Gefahr einer zu starken Essentialisierung durch Entitäten. Zwar sei sich die Geschlechtergeschichte aufgrund der ihr eigenen Reflexion dieser Problematik bewusst, zu ihrer Lösung wären jedoch bisher kaum Ideen gereicht worden. Deswegen möchte Heinsohn von dem Begriff Kategorie Abstand nehmen und vielmehr Geschlecht als Sehepunkt verstanden wissen, als multiperspektivische Analysemethode und damit Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse, Deutungssysteme und Distinktionsbildungsprozesse. Dieser Ansatz sei nicht neu, so Heinsohn, aber es sei lohnenswert darüber erneut nachzudenken. Auch plädierte Heinsohn gegen die wissenschaftliche Geringschätzung der Frauengeschichte, da sie nicht nur notwendige Voraussetzung für die Geschlechtergeschichte sei, sondern auch die besondere Qualität der konstruierten Gruppe der Frauen (Mütter, etc.) mit in den Blick nähme, die häufig durch den Fokus auf Relationalität verloren ginge. Schließlich hob Heinsohn die Wichtigkeit des Sehpunktes Geschlecht für die Zeitgeschichte hervor. Wenn Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden verstanden werde und sie als Vorgeschichte auf Fragen- und Problemstellungen der Gegenwart Antworten liefern solle – Heinsohn orientiert sich hier an den Zeitgeschichtedefinitionen von Hans Günter Hockerts und Hans Rothfels, interpretiert diese aber umfassender – dann dürften Geschlechtsbilder und die Ordnung bzw. Machtungleichheiten der Geschlechter in der Zeitgeschichte nicht unberücksichtigt bleiben.

Inwiefern die Analyse von Frauen (und Männern) als Akteur_innen neue Erkenntnisse für die Frauen-, Geschlechter-, und Zeitgeschichte bringen kann, war Thema des ersten Panels. So untersucht MAREEN HEYING (Bochum) in ihrem Projekt die Selbstermächtigungsstrategien von Prostituierten in Westdeutschland und Italien zwischen 1975 und 2002. Im Fall von Westdeutschland sei es Ziel mithilfe von Zeitschriften, Selbstzeugnissen und Oral History die Forderungen nach Liberalisierung und eigenen Schutzräumen, sowie den Kampf der Prostituierten um Respekt und Anerkennung, der Suche nach Gruppenidentität und der Durchbrechung gesellschaftlicher Marginalisierung in einer von der Forschung bisher wenig berücksichtigten „Hurenbewegung“ sichtbar zu machen.

BERIT SCHALLNER (Köln) hingegen nimmt, basierend auf praxistheoretischen Überlegungen, mit ihrem Projekt den Raum der Universitäten in den Blick und untersucht performative Praktiken von Historikerinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den 1970er- und 1980er-Jahren. Schallner geht nicht nur der Frage nach, welche Bedeutung die jeweiligen Praktiken für die Wissensproduktion des neuen Forschungsfeldes hatten, sondern auch, wie hierdurch herkömmliche Praktiken wissenschaftlichen Handelns hinterfragt wurden und Veränderungen auf sozialer, institutioneller und kognitiver Ebene stattgefunden haben. Schallner zeigte am Beispiel der ersten Frauensommeruniversität (Berlin 1976) auf, wie universitäre Hierarchieebenen außer Kraft gesetzt und klassische Geschlechterrollenverteilungen umgedreht wurden. So stellte die Sommeruniversität nicht nur Kinderbetreuungsmöglichkeiten zur Verfügung. Da Männer von den Veranstaltungen ausgeschlossen waren, kümmerten sich diese zum Teil um die Kinder.

Im darauf folgenden Panel „Dinge“ wurden zwei Projekte vorgestellt, die für ihre Forschung die Akteur-Netzwerk-Theorie zu Grunde legen und Dinge als Akteure betrachten, wodurch diesen Handlungsmacht zugeschrieben wird. Dabei untersuchen beide Projekte die Herausbildung geschlechtsbedingter Gewohnheiten und Praktiken durch Dinge bzw. Waren, sowie die Repräsentation geschlechtlicher Konnotationen durch das Bewerben von Produkten.

Anhand des Einzuges des Fernsehmöbels in den westdeutschen bürgerlichen Haushalt der 1950er-Jahre erläuterte MONIQUE MIGGELBRINK (Paderborn) wie der Fernseher zuerst einmal das häusliche Gefüge störte und anschließend die Herausbildung geschlechtsbedingter Gewohnheiten veränderte oder aber verstärkte. So werde beispielsweise der Mann als Gerätebesitzer über den Fernsehsessel „verhäuslicht“. Häufig gingen dabei Diskurse über den Umgang und die Verwendung den Konsumgütern voraus, da hierfür zuerst eine Wissensproduktion und -vermittlung stattfinden müsse, wie Miggelbrink mittels Werbebeispielen unter anderem aus Einrichtungszeitschriften aufzeigte.

Wie sich die Diskussion um die Säuglingsnahrung als Ware im 20. Jahrhundert in Westdeutschland und Schweden veränderte, war ein Teilaspekt aus VERENA LIMPERs (Köln) Projekt, den sie im Rahmen des Workshops vorstellte. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Säuglingsnahrung der hohen Kindersterblichkeit vorbeugen sollte und es eine klare Unterteilung zwischen weiblichen Konsumenten und männlichen Experten / Anbietern gab, übernahmen und beeinflussten ab den 1950er-Jahren Produktmarken und Industrie den Markt. Anhand der Diskussion von Werbeanzeigen konnte Limper auch zeigen, wie der Vater mithilfe der Babyflasche als Unterstützer in das Fürsorgesystem integriert und die Vater-Kind Beziehung stärker thematisiert wurde, wobei die Mutter die Hauptadressatin der Säuglingspflege blieb. Der Vergleich Westdeutschland – Schweden machte zudem deutlich, dass in Schweden Wandlungsprozesse häufig früher einsetzten und die Einbindung des Vaters in die Fürsorge (sogenannte „Papaschulen“) umfassender stattfand.

Der Fokus des dritten und letzten Panels lag auf Lokalitäten und setzte sich insbesondere mit alternativen Milieus und der Frage auseinander, inwieweit diese ‚Raum‘ für das Ausleben und Verhandeln von Geschlechtervorstellungen boten. HEIKE KEMPE (Konstanz) untersucht in ihrem Projekt die linksalternative Bewegung in Konstanz von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre. Dabei nimmt sie verschiedene Sektoren (Arbeit, Wohnen, Freizeit), Gruppen und deren Erzeugnisse in den Blick. In ihrem Vortrag konnte Kempe zeigen, wie diese kleine Alternativszene sich die Provinz für die eigene Identitätsbildung zunutze machte und selbst aneignete, wobei sich hierdurch ein gewisser Provinzstolz entwickelte, der gleichzeitig im eigenen Bewusstsein auch zu einer regionalen Aufwertung führte und den Begriff „Heimat“ wieder positiv besetzte.

KARIN SCHÜTZEICHEL (Köln), die sich in ihrem Projekt mit Musikfestivals beschäftigt, stellte Auszüge aus einem Kapitel vor, in dem es um Männlichkeitsentwürfe geht, die auf jugendkulturellen Festivals aufeinandertrafen und verhandelt wurden. Dabei dienten Jugendfestivals als Orte, an denen eigene Verhaltensformen, Lebensentwürfe und gruppenrelevante Werte und Normen erprobt und diskutiert würden, so Schützeichel. In ihrem Vortrag fokussierte sie auf zwei Festivalgruppen, die Teilnehmer und die Rocker – letztere wurden überwiegend auf Festivals als Ordner eingesetzt – und stellte diese Männlichkeitsentwürfe einander gegenüber. Beide Entwürfe könnten als Protest und Provokation gegen „die vorherrschende Norm zeitgenössischer Männlichkeit“ betrachtet werden. Dennoch würde jeder Entwurf seine eigene Ausdrucksweise finden. Während die männlichen Festivalteilnehmer mit ihren Äußerlichkeiten (zum Beispiel lange Haare) und durch das Vermeiden von normierten männlichen Praktiken eine Geschlechterauflösung evozierten, hypermaskulinisierten sich die Rocker und hoben sich durch eine aggressive Maskulinität, das bewusst provozierende Tragen verbotener NS Symbole und ihr angstverbreitendes Erscheinungsbild von den Festivalbesuchern ab.

Die Kommentare und anschließenden Diskussionen zu den einzelnen Panels strichen nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Projekte heraus, sondern forcierten mit ihren Fragen und Anmerkungen auch thematische und methodische Präzisierungen. So wurde zum Beispiel mit Blick auf die Akteur_innen der Kampf um Machtfragen über Wissen hervorgehoben und überlegt, welche Bedeutung Akteur_innen als Individuen, aber auch als Teil von Gruppen oder Bewegungen zukomme und ob ein Kollektiv ein Akteur sein könne. Hinsichtlich der Dinge wurde gefragt, inwieweit sich Konsum und Technologisierungsprozesse auf Geschlechterrollen auswirkten. Im letzten Panel stand maßgeblich die Frage nach dem Raumverständnis zur Debatte und es folgte eine Auseinandersetzung, inwiefern „Raum / Räume“ eine Bedeutung für die Konstituierung, Aufrechterhaltung, Begründung und diskursive Herstellung von Geschlecht haben. Insbesondere über diesen letzten Punkt wäre ein weiteres Nachdenken sehr sinnvoll. Aber auch der Verweis aus der Abschlussdiskussion auf eine gewisse Race-Blindheit der deutschen Zeit- und Geschlechtergeschichte birgt Potential für zukünftige Forschung.

Rückblickend bot der Workshop spannende Einblicke in neu entstehende Projekte und zeigte eine Bandbreite von Ansätzen und Themen auf, in denen Zeit- und Geschlechtergeschichte eine fruchtbare Verschränkung finden; entweder die ganze Arbeit durchziehend, oder auf einzelne Kapitel beschränkt. Positiv hervorzuheben ist, dass diesen Projekten nicht der Duktus einer reinen Opfer- oder Erfolgsgeschichte anhaftet und dass sie nicht einen additiven Charakter haben im Sinne eines Einschreibens von Frauen in bereits bestehende Geschichtsnarrative. Vielmehr richten diese Nachwuchswissenschaftlerinnen ihre ganz eigenen Fragen an die Zeitgeschichte, welche sich aus Fragen- und Problemstellungen (ihrer) Gegenwart speisen, was demnach für Teile dieser Generation von Bedeutung scheint und mit Blick auf die Zeitgeschichte ernst genommen werden sollte. Dies hat ebenfalls zur Folge, dass mit der Wahl einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive auf Zeitgeschichte „Meistererzählungen“ kritisch hinterfragt werden. Mit Spannung dürfen deswegen auch weitere Erkenntnisgewinne und Ergebnisse dieser Projekte erwartet werden. Anzumerken bleibt noch, dass viele Nachwuchsvorträge, obwohl sie die „deutsche“ Zeitgeschichte thematisierten, in erster Linie auf Westdeutschland Bezug genommen haben. Projekte, die sich mit einem deutsch-deutschen Vergleich, oder explizit mit der DDR Geschichte befassen, dürften bei der Verschränkung von Zeit- und Geschlechtergeschichte ebenfalls interessante Ergebnisse hervorbringen. Abschließend gilt es jedoch insbesondere die Ausführungen von Heinsohn zu rekapitulieren und Geschlecht als Sehepunkt methodisch und analytisch neu-, weiter- und wiederzudenken, um Geschlecht unabdingbar für die Zeitgeschichtswissenschaft zu machen.

Konferenzübersicht:

Verena Limper / Berit Schallner (Köln), Einführung

Kirsten Heinsohn (Kopenhagen), Keynote

Panel I – Akteur_innen

Mareen Heying (Bochum), Huren als Akteurinnen. Sichtweisen und Forderungen von Sexarbeiterinnen, 1975-2002

Berit Schallner (Köln), „Das Ende der Vernunft in der Geschichte?“ Performative Praktiken von Historikerinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte in den 1970er- und 1980er-Jahren

Kommentar: Susanne Schregel (Köln)

Panel II – Dinge

Monique Miggelbrink (Paderborn), Kühlschrank, Couchecke, Fernsehtruhe. Geschlechtsspezifische Objekte des Wohnens in Westdeutschland um 1950

Verena Limper (Köln), The gendered life of things? Säuglingsnahrung in der BRD und Schweden nach 1950

Kommentar: Benno Gammerl (Berlin)

Panel III – Lokalitäten

Heike Kempe (Konstanz), Eroberung der Provinz. Das linksalternative Milieu in Konstanz und der Bodenseeregion

Karin Schützeichel (Köln), Musikfestivals. Orte der Darstellung und Aushandlung neuer Werte und alternativer Lebensstile

Kommentar: Ulrike Lindner (Köln)

Abschlussdiskussion

Schlusswort: Verena Limper / Berit Schallner (Köln)

Anmerkungen:
1 Julia Paulus / Eva-Maria Silies / Kerstin Wolff (Hrsg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2012. Die zu überprüfenden Interpretationsmuster finden sich auf S.12: Liberalisierung, Westernisierung, Wertewandel, Tendenzwende, Bürgersinn, Strukturbruch, Generationalität und Sicherheit.
2 Ein Teil der angesprochenen Punkte lässt sich nachlesen in Kirsten Heinsohn / Claudia Kemper, Geschlechtergeschichte. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 4. 12.2012, URL: <http://docupedia.de/zg/Geschlechtergeschichte?oldid=97406> (2.6.2015).