HT 2014: Jenseits von Gewinn und Verlust: Entscheidungsfindung in der Frühen Neuzeit

HT 2014: Jenseits von Gewinn und Verlust: Entscheidungsfindung in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
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Von
Pascale Mannert, Internationales Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Sektion „Jenseits von Gewinn und Verlust: Entscheidungsfindung in der Frühen Neuzeit“ stellte sich zur Aufgabe, die Tragfähigkeit des Paradigmas, unter das der Historikertag stand, zu untersuchen. Am Beispiel von Frankreich, dem Fürstentum Hessen-Kassel und Polen-Litauen wurden über einen weit gespannten geographischen Raum mit stark unterschiedlicher Herrschaftsdurchdringung Entscheidungsfindungsverfahren in den Fokus gestellt.

In ihrer Begrüßung hob MARIA RHODE (Göttingen) hervor, dass Konkurrenz und Entscheidung beide umfassten, dass mehrere Optionen bestünden und man eine Wahl treffen könne. Dies könne auf unterschiedliche Art geschehen; zum einen auf individueller Ebene, auf der weder Begründung zu geben noch Absprachen zu treffen seien. Daneben existierten aber auch kollektive Entscheidungen, die aus öffentlichen Beratungen hervorgingen. Hierzu bestünden Verfahren der Entscheidungsfindung.

RONALD G. ASCH (Freiburg) eröffnete die Sektion zur Entscheidungsfindung im Ancien Régime mit der Untersuchung einer umstrittenen dynastischen Erbfolge am Beispiel der Nachfolgeregelung Ludwigs XIV. Dieser hatte in seinem Testament eine Modifikation des dynastischen Erbrechts fixiert. Damit nahm er eine Entscheidungskompetenz in einem Bereich in Anspruch, der bislang dem Willen des Monarchen entzogen war bzw. bei dem Unklarheit in Bezug auf die Grenzen der königlichen Autorität bestand. Anhand dieses Konfliktfalls sowie einer späteren, als Angriff auf die Freiheiten der Kirche begriffenen Maßnahme, legte Asch die Motivationen, Rechte und Optionen verschiedener an den Konflikten beteiligten Akteure dar, vor allem des Pariser Parlaments, auf die Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Das Parlament von Paris galt als Hüter der höchsten Rechtsprinzipien des Reiches und nahm für sich das Recht der „Purifizierung“ des königlichen Willens in Anspruch, das auf einer imaginierten Unterscheidung zwischen dem König als politischer Person oder als corps mystique und dem König als Mensch basierte. Die Rechte des Parlaments, die unter Ludwig XIV. zurückgedrängt wurden, erfuhren nach seinem Tode eine Wiederbelebung.

Asch arbeitete heraus, dass der Monarch die in Anspruch genommene Freiheit, keiner menschlichen Instanz Rechenschaft schuldig zu sein und auch von der Kirche in Gestalt des Papstes nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können, nur solange besaß, wie er sie nicht konsequent oder nur innerhalb gewisser Grenzen nutzte. Versuchte er, wie Ludwig XIV. es getan hatte, das dynastische Erbrecht zu verändern, ergab sich daraus ein Legitimationsproblem. In den folgenden Jahrzehnten unternommene Schritte zur Beseitigung der ambivalenten Stellung des Parlaments als Organ der „Purifizierung“ des königlichen Willens hätten, so Asch, Anfang der 1770er-Jahre erneute Legitimitätsdefizite geschaffen, die bis 1789 nicht mehr beseitigt werden konnten.

MARTIN FABER (Freiburg) stellte ein Beispiel zu Polen-Litauen vor und betonte eingangs, dass er sich in seinem Beitrag mit einem Phänomen beschäftigte, dass nicht dazu diente, Entscheidungen zu finden, sondern dazu, ebensolche zu verhindern: Er konzentrierte sich in seinem Beitrag auf das Liberum Veto und betonte, dass es ihm mehr um das Formulieren von Fragen als um deren Beantwortung gehe. Eingangs bot er eine Übersicht über die Genese des Liberum Veto seit 1582 und ging Thesen über Gründe für seine Entstehung nach. Er beklagte eine fehlende Diskussion über dieses Thema unter polnischen Historikern; so habe es noch nie eine Konferenz oder einen Sammelband zum Liberum Veto gegeben. Die einzige Monographie stamme von 1919. Seinen eigenen Diskussionsbeitrag sehe er als Anregung zu einer Diskussion, indem er eine Nebeneinanderstellung existierender Interpretationen und einer Benennung ihrer Widersprüche, aber auch ihrer partiellen Unvereinbarkeit mit historischen Tatsachen vornehme.

TIM NEU (Göttingen) betonte in seinem Beitrag zu Hessen-Kassel, dass die Unterscheidung Gewinner und Verlierer unbestreitbar zu den „siegreichen“ Konzepten der frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichte gehöre. Er postulierte allerdings, auch die Grenzen einer auf der Unterscheidung „Gewinner“ vs. „Verlierer“ fußenden Verfassungs- und Sozialgeschichte in den Blick zu nehmen. Steuerverhandlungen, führte er aus, seien als diskursiven Gabentausch zu begreifen und in ein weiteres Konzept höfischer Gabentauschsysteme eingebunden. Er zeigte, dass etwa um 1650 die Machtfrage zwischen dem (in dieser Frage siegreichen) hessischen Landgrafen und den (in diesem Fall unterlegenen) hessischen Landständen hinsichtlich der Besteuerung faktisch entschiedenen war. Kurioserweise wurden aber die Landtage, auf denen diese Steuerverhandlungen zwischen den genannten Parteien geführt wurden, trotz des kaum bis nicht vorhandenen Verhandlungsspielraums nicht kürzer, sondern zunehmend länger. Die Intensität der Verhandlungen nahm nicht ab, sondern im Gegenteil zu. In der Erklärung für diese paradox erscheinende Beobachtung löste er sich von der konzeptionellen Rahmung in Gewinner und Verlierer und verwies alternativ darauf, dass Praktiken mit explizit instrumenteller Zwecksetzung auch symbolische Aspekte umfassten. Sie konnten Akteuren als Mittel dienen, im politischen Zentrum anwesend zu sein und Anschluss an die höfische Gabentauschgesellschaft zu finden. Er forderte, die Ebene der instrumentellen Betrachtung zugunsten der Untersuchung sozialer Praktiken zu überdenken und neben den objektiven Verhältnissen auch subjektive Deutungen dieser Verhältnisse stärker zu berücksichtigen.

MARIA RHODE (Göttingen) eröffnete ihren Beitrag – den zweiten dieser Sektion zu Polen-Litauen – mit der Feststellung, dass seit dem 17. Jahrhundert Zeitgenossen und später Geschichtsschreiber aus Preußen und Russland das benachbarte Polen als Gegenbild zu den eigenen Staaten konstruierten. Über den Weg der Übernahme des Fremdbildes zum Selbstbild sei das Narrativ des Verfalls mit dem Liberum Veto als Grund allen Übels in die polnischsprachige Geschichtsschreibung eingeführt und dort dominant geworden. Die hierin häufig vorgenommene Verbindung von zahlreichen Einzelfällen, die über eine chronologische Anordnung hinaus zu einer Einheit verbunden würden, wodurch ihnen gleichsam eine Quasi-Evidenz verliehen werde, sei zu hinterfragen. Dies gelte auch für die in diesem Zusammenhang vorkommende essentialistische Denkfigur des auf Wahrung seiner Eigeninteressen fokussierten Adels.

Rhode plädierte gegen synthetisierende Konstruktionen von Kausalketten, die dazu dienten, Brüche und Diskontinuitäten zu glätten oder auszublenden. Sie zeichnete anhand der Beispiele von Einmütigkeit und Veto im polnisch-litauischen Reichstag sowie am Beispiel der Diskussionen über den Verfahrensmodus und die Praxis der Königswahl exemplarisch Verfahren und Logiken der Entscheidungsfindungsverfahren nach und ging dabei auf die Frage nach deren symbolischem bzw. zeremoniellem Ausdruck ein. In einem dritten Schritt stellte sie zwei Aspekte als Ergänzung bzw. Erweiterung der bisherigen Forschungsansätze vor: zum einen unter den Aspekten, die einer einzelnen Stimme durch das Liberum Veto eingeräumt wurde, die Frage nach Individualisierung, und zum anderen den Komplex der Gewalt: Mit dem Bedeutungsverlust des Sejm ging ein Bedeutungsgewinn der Konföderation einher, in deren Zusammenhang der Einsatz von Waffen auch in inneren Auseinandersetzungen als legitim galt. Mit seiner solchen Umjustierung könne dazu beigetragen werden, das Nachdenken über die Modi der Entscheidungsfindung und über einen möglichen Verzicht auf Entscheidungen neu zu strukturieren.

MARKUS TAUSCHEK (Kiel) führte in seinem Beitrag die Hörer in die Gegenwart und ging auf aktuelle Hochschulrankings ein. Diese zeichnete er als symptomatisch für spätmoderne Konkurrenz- und Wettbewerbsgesellschaften, in denen Leistung hierarchisiert und zur Disziplinierung eingesetzt würde. Durch Rankings erfolge eine visuelle und textuelle Inszenierung einer hierarchisierten Listung bei gleichzeitiger Verschleierung der Interpretationsbedürftigkeit dieser Angaben. Dies würde auch dazu führen, dass an den ideologischen Grundfesten von Leistungsbewertung und Optimierung inzwischen vielfach zumindest diskursiv gerüttelt werde. Er benannte Listen als Werkzeug, um Leistungsdifferenzen sichtbar zu machen. Rankings etwa, deren Ziel es explizit sei, eine Rangreihenfolge nach festgelegten Kriterien zu erstellen, suggerierten, Leistung sei mess-, objektivier- und vergleichbar. Kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung, die auf einem konstruktivistischen Verständnis von Kultur beruhe, gehe hingegen davon aus, dass Leistung immer Ergebnis eines komplexen Konstruktionsmechanismus sei. Ausgehend von den im Jahr 2012 erfolgten Stellungnahmen einiger Fachgesellschaften auf das Ranking des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), in dessen Verlauf es dem CHE nicht gelungen sei, die betroffenen wissenschaftlichen Akteure vom Instrument des Rankings nachhaltig zu überzeugen, ging er der Frage nach, welche argumentativen und performativen Handlungsspielräume wissenschaftliche Akteure innerhalb des Diskurses um Optimierung und Rankings nutzten. Im Gegensatz zu normativen Perspektiven, die Rankings entweder kategorisch ablehnen oder als sinnvolle Instrumente der Leistungsmessung und -optimierung ansähen und nutzten, sei die kulturanthropologische Forschung sich dessen bewusst, dass ihr Blick auf Lebenswelt, Alltag und Wirklichkeit lediglich »partial truths« zur Diskussion stellen könne.

In ihrem Abschlusskommentar hob BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster) hervor, dass es in der Frühen Neuzeit Kriterien wie Vergleichbarkeit, klare Regeln oder Objektivität nicht gegeben habe. Konsens sei die Norm gewesen und Rangkonkurrenz sei, zumindest dem Eigenbild der Akteure nach, immer nur widerwillig erfolgt. Als Gemeinsamkeiten der Modi kollektiven Entscheidens nannte sie, dass 1. politisches Handeln in der Frühen Neuzeit immer konsensorientiert sei, dass 2. Entscheidungen daher selten seien, dass es 3. aber darum nicht oder nicht primär ging. Sie mahnte an, Konsensfixiertheit nicht mit faktischer Willensübereinstimmung gleichzusetzen – die ohnehin nicht messbar sei. Dissens delegitimiere die Entscheidung, weshalb Konsensfassaden üblich gewesen seien. Kompromisse, Gewalt und Drohung seien üblich gewesen, jedoch durch die Konsensfassade überdeckt worden. Die Grenzen des Konsens, führte sie aus, seien oft schwammig gewesen; heilsame Ambiguität habe dazu beigetragen, Grenzen nicht zu definieren: Relevant war, das Gesicht zu wahren. Als Kehrseite des Konsensprinzips benannte sie, dass Entscheiden nicht selbstverständlich war, was am Beispiel Polen illustriert worden sei. Die Vorträge hätten aufgezeigt, dass manchmal erhöhter Entscheidungsbedarf bestand. Dann könne, wie die Beispiele gezeigt hätten, das Nichtherbeiführen von Entscheidungen fatal sein. Die Akteure könnten so zu Verlierern werden, möglicherweise mit, wie das Beispiel Polen-Litauen zeige, nachhaltigen Folgen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Maria Rhode (Göttingen)

Ronald G. Asch (Freiburg im Breisgau): Der Wert des Vetos. Die „Remontrances“ des Pariser Parlement und ihre Bedeutungswandel im 17. und 18. Jahrhundert

Martin Faber (Freiburg im Breisgau): Missverständnis, übertriebene Tugend, Notwendigkeit für den Staat oder Phantom? Das polnische Liberum Veto und seine gegensätzlichen Interpretationen

Tim Neu (Göttingen): Jenseits von Gewinn und Verlust. Steuerverhandlungen in den Reichsterritorien nach 1650 als Gabentausch

Maria Rhode (Göttingen): Einmütigkeit, Mehrheit, Veto, Los. Abstimmungsprozeduren im polnisch-litauischen Reich

Markus Tauschek (Kiel): Zur kulturellen Konstruktion von Konkurrenz. Kulturanthropologische Fragen an ein „allgemeines Gesellschaftsphänomen“

Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): Kommentar


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