Kirche vor Ort: Pfarreikulturen im vormodernen Europa

Kirche vor Ort: Pfarreikulturen im vormodernen Europa

Organisatoren
Enno Bünz, Leipzig; Beat Kümin, Warwick; Michael North, Greifswald; Arnd Reitemeier, Göttingen
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.06.2015 - 04.06.2015
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Von
Dennis Gelinek, Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald; Per Seesko, University of Southern Denmark, Odense; Lukas Weichert, Institut für Historische Landesforschung, Georg-August-Universität Göttingen

Ziel der Tagung war die Förderung eines epochenübergreifenden europäischen Dialogs zwischen verschiedenen disziplinären und nationalen Strängen der Pfarreiforschung, die lange vor allem von kirchen-, rechts- und sozialgeschichtlichen Zugängen geprägt und bisher meist in lokalen, regionalen oder nationalen Untersuchungsräumen betrieben worden war. Angestrebt wurde deshalb die Vertiefung des internationalen Austausches über lokale Pfarreikulturen und die Erörterung gezielter Kooperationen und vergleichender Projekte auf der internationalen/europäischen Ebene. Erkenntnisse und gemeinsame Themen der einzelnen Referate von jeder der sechs Sektionen wurden anschließend zur Diskussion gestellt. Eröffnet wurde die Tagung vom wissenschaftlichen Geschäftsführer des Alfried Krupp Wissenschaftskolleg CHRISTIAN SUHM und von BEAT KÜMIN (Warwick), der nach dem Dank an seine Mitorganisatoren und die Vertreter des Kollegs aktuelle Tendenzen der Pfarreiforschung ansprach.

Mit einer Einführung in die Geschichte der Wittenberger Stadtpfarrkirche „Unser Lieben Frauen“ im 15. und 16. Jahrhundert eröffnete ANTJE J. GORNIG (Leipzig) die erste Sektion der Tagung (Kirchenrechnungen). Anhand von Rechnungen der Kirchväter und Bruderschaften sowie des Gemeinen Kastens wurden sowohl Einkommen als auch Ausgaben analysiert und die enge Beziehung zwischen Stadtpfarrkirche und Stadtrat betont. Die neuen Erkenntnisse, die durch diese bisher wenig beachteten Quellen für die Reformationsgeschichtsschreibung zu gewinnen sei, wurden vorgestellt. Als nächster berichtete PETR HRACHOVEC (Prag) anhand zahlreicher schriftlicher Quellen vom Schicksal der Zittauer Kirchen während der Reformation. Durch eine Analyse von Kirchenrechnungen erhellte er langfristige Tendenzen in der liturgischen Praxis und im Stiftungswesen zwischen ca. 1500-1620 und konnte durch ausgewählte Beispiele zeigen, dass die Transformationen des 16. Jahrhunderts in Zittau keinen völligen Bruch mit der spätmittelalterlichen Tradition mit sich brachten.

Im Rahmen des öffentlichen Abendvortrags behandelte BRIDGET HEAL (St Andrews) die wechselhafte Geschichte des Flügelaltars von Lucas Cranach d.Ä. in der St.-Wolfgangs-Kirche in Schneeberg (Erzgebirge). 1539 aufgestellt, wurde dieses „Meisterwerk der Reformationszeit“ während des Dreißigjährigen Krieges von Kaiserlichen Truppen gestohlen, kam aber 1649 in die Kirche zurück und wurde schließlich 1712 in einem barocken Rahmen neu präsentiert. Insgesamt erschien der Schneeberger Altar als faszinierendes Beispiel von Veränderungen in der visuellen Kultur einer lutherischen Pfarrkirche – sowie im Verhältnis zwischen Gemeinden und dem materiellen Erbe der Reformation – im Zeitraum zwischen Renaissance und Barock.

Die Referenten der ersten Sektion am zweiten Tag (II) befassten sich mit Räumen und Raumkonstruktionen. PAOLO OSTINELLI (Bellinzona / Zürich) beleuchtete die Konstruktion des „Pfarrei-Raumes“ durch das Anbringen von „ Zeichen“ innerhalb und außerhalb der Kirchen im oberitalienischen Alpenraum und durch die Entwicklung eines gemeinschaftlichen, memorialbezogenen Verwaltungssystems. In der Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert wurde hier zwar ein Ausbau der kirchlichen Organisation nach den Organisationsprinzipien und -strukturen der „universellen“ Kirche durchgeführt, aber zur gleichen Zeit erhielten die Pfarrgemeinden auch neue Möglichkeiten sich das eigene „Territorium“ anzueignen. Dies geschah in erster Linie als Strukturierung des Pfarreiraums durch eine Sakralisierung bestimmter Orte. Besonders eindringlich zeigte sich dieser Prozess bei Neubauten oder Renovationen von Kirchengebäuden, aber auch in der Errichtung von Kreuzen und Kapellen und durch Bilder, Zeichen und Inschriften, die als Bestandteile der religiösen Topographie des Pfarrei-Raumes zu verstehen sind. KORD-HENNING UBER (Greifswald) berichtete in seinem Vortrag über die Pfarreien im Herzogtum Kurland in der Frühen Neuzeit. Der Blick wurde besonders auf die lutherischen Pfarreien gerichtet und auf die Unterschiede zwischen den Pfarreien in den Städten und auf dem Land. Die Ausbildung der Pfarrer, die Bedeutung der deutschen und lettischen Sprachen sowie das Patronat und die Rolle der Herzöge wurden vorgestellt und analysiert. Die repräsentative Funktion der Gottesdienste wurde unter anderem durch die Streitigkeiten um die Sitzordnung in den Kirchen aufgezeigt.

In der dritten Sektion standen Fragen der Autonomie der Gemeinden in der Frühen Neuzeit im Vordergrund. BEAT KÜMIN (Warwick) thematisierte Wechselbeziehungen zwischen politischer Freiheit und Pfarreikultur im Heiligen Römischen Reich. Die Frühe Neuzeit wird oft als Epoche der Zentralisierung und der Staats- und Konfessionsbildung gesehen. Solchen Harmonisierungsbestrebungen waren aber in der Alltagspraxis enge Grenzen gesetzt, da die konkreten kirchlichen Verhältnisse vielerorts Resultat eines Aushandlungsprozess waren. Das galt besonders in „Pfarreirepubliken“ wie der Kirchspielföderation Dithmarschen ganz im Norden und dem Land Gersau in der Eidgenossenschaft, sowie in einer Reihe von Reichsdörfern, wo die Voraussetzungen für eine lokale Autonomie besonders günstig waren. MACIEJ PTASZYŃSKI (Warschau) beleuchtete in seinem Beitrag die Ursachen des Antiklerikalismus im lokalen Raum nach der Reformation und stellte die Frage, ob Konflikte zwischen Pastoren und ihren Gemeinden im 16. Jahrhundert immer als „Pfaffenhass“ zu verstehen seien. Seine These, dass lutherische Gemeinden antiklerikale Argumente nutzten, um ihre Souveränität zu bewahren, wurde durch Urteile über Pastoren in Konsistorialakten aber auch andere nachreformatorische Quellen aus Pommern unterstützt.

Die vierte Sektion des Workshops („Reformation“) umfasste drei Vorträge. Ausgehend von einem historischen Überblick über die Pfarreigeschichte Leipzigs lieferte ENNO BÜNZ (Leipzig) neue Erkenntnisse zur Frage nach der Pfarrei als Institution von langer Dauer und zum Verständnis von städtischer Pfarreikultur. Im Mittelpunkt standen Beispiele von Wandel und Bestand der Leipziger Pfarrkirchen, die sich trotz bedeutender Änderungen des kirchlichen Stadtbilds nach der Reformation als wichtige Träger von Kontinuität erwiesen. ARND REITEMEIER (Göttingen) ging in seinem Vortrag von einer Tiefen-Analyse von Visitationsakten aus dem Norddeutschen Raum des 16. und frühen 17. Jahrhunderts aus. Dabei konnte er die Interaktion zwischen Visitatoren und lokalen Akteuren beleuchten und auf die methodischen Herausforderungen, die mit der Interpretation der Visitationsprotokolle (zum Beispiel bezüglich der Klagepunkte von Pfarrern und Gemeinden) verbunden sind, aufmerksam machen. Anschließend beleuchtete MICHAEL NORTH (Greifswald) in seinem Vortrag die ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen der Reformation im Ostseeraum. Zu diesen zählte unter anderen auch der Einfluss niederländischer Emigranten, die in den Städten nicht nur als Kaufleute und Handwerker tätig waren, sondern – wie die flämische Künstlerfamilie van Steenwinckel – auch als Maler und Architekten.

Bei der anschließenden Führung durch den Dom gab JÜRGEN HEROLD (Greifswald) einen Überblick über die Kirchengeschichte Greifswalds und die Baugeschichte von St. Nikolai und machte auf viele interessante Details an den Ausstattungen und Grabplatten der Kirche aufmerksam. In der (im frühen 17. Jahrhundert eingerichteten) Bibliothek des Geistlichen Ministeriums präsentierte FALK EISERMANN (Berlin) mittelalterliche Handschriften sowie Wiegendrucke und berichtete über die Initiative zur Erhaltung der bedeutenden Sammlungen.

Die Referenten der ersten Sektion am letzten Tag (V) befassten sich mit Klosterkirchen und ihren inkorporierten Pfarreien. Zunächst referierte PER SEESKO (Odense) über die Konsequenzen der Reformation der Klöster für die Pfarreiorganisation im dänischen Königreich im 16. Jahrhundert. Mehrere Klosterkirchen, die früher nicht als Pfarrkirchen gedient hatten, übernahmen diese Funktion ab 1536. Meist ersetzten sie ältere Pfarrkirchen, die dann verfielen oder abgerissen wurden. Mancherorts waren die betroffenen Gemeinden aber nicht bereit ihre eigenen Kirchen aufzugeben und ein meist größeres aber oft auch weiter entferntes Gotteshaus eines Klosters zu übernehmen. LUKAS WEICHERT (Göttingen) berichtete in seinem Vortrag vom Lüneburger St. Michaeliskloster und seinen Schwierigkeiten alle Patronats- und Inkorporationsrechte im 16. Jahrhundert zu wahren. Dem Kloster gelang es dabei nur mühsam den Zentralisierungsbestrebungen der welfischen Landesherren Einhalt zu gebieten, wie das Beispiel des Abtes Eberhard von Holle zeigt, der seine Stellung als Bischof von Verden und Lübeck nutzte, um episkopale Rechte auch gegenüber dem Kloster zugehörigen Pfarreien geltend zu machen.

Die letzte Sektion der Tagung (VI) beschäftigte sich mit der Materialkultur in vormodernen Pfarreien. SABINE-MARIA WEITZEL (Krien) illustrierte in ihrem Vortrag die Sakralarchitektur und liturgische Ausstattung der St. Nikolaikirche in Stralsund. Insbesondere der Chor weise einige Besonderheiten auf und sei in seiner Gestalt nur mit der Lübecker Marienkirche vergleichbar. So blieben die Chorschranken auch nach der Reformation bestehen; Weitzel wies auch darauf hin, dass hier das für Pfarrkirchen noch weitgehend unerforschte Stundengebet früh belegt ist. EBERHARD J. NIKITSCH (Mainz) stellte im abschließenden Vortrag die reiche Inschriftenüberlieferung der Santa Maria dell'Anima Kirche in Rom vor. In der „deutschen Nationalkirche“ Roms finden sich noch heute zahlreiche Grab- und Strebeinschriften auf Grabplatten und Epitaphien, die in einer topographischen und sozialen Auswertung ergaben, dass zunächst vor allem aus Nord- und Mitteldeutschland stammende Kleriker sich in der Kirche begraben ließen, im Laufe des 16. Jahrhunderts dann auch vermehrt Geistliche aus West- und Süddeutschland. Daneben lassen sich die Bau- und Weiheinschriften auch für die Geschichte der Kirche selbst nutzbar machen.

Die Schlussdiskussion fasste die Hauptthemen der Tagung – so insbesondere die Fragen nach langfristigen (Dis-)kontinuitäten im Pfarreiwesen und neuen Perspektiven des „cultural turns“ – nochmals zusammen. Vereinbart wurde auch, die PowerPoint-Präsentationen der einzelnen Referenten auf dem Internet-Portal „My-Parish.org“ zu veröffentlichen. Die Tagung war generell von fruchtbarer Diskussion geprägt und mit der Erörterung zukünftiger Projekte und internationaler Zusammenarbeit wurde ein primäres Ziel der Organisatoren erreicht. Zu danken gilt es deshalb der wissenschaftlichen Leitung, den Greifswalder Gastgebern und – für die tatkräftige Förderung der Tagung – dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, dem Greifswalder Graduiertenkolleg Baltic Borderlands und dem Warwick Network for Parish Research.

Konferenzübersicht:

Sektion I - Kirchenrechnungen

Antje J. Gornig (Leipzig), Erkenntnisse aus mittelalterlichen Wittenberger Kirchenrechnungen

Petr Hrachovec (Prag), Mittelalter oder Frühe Neuzeit? Einige Erwägungen über die fromme Praxis in Zittauer Stadtkirchen zwischen ca. 1500–1620 (vor allem anhand der Kirchenrechnungen)

Öffentlicher Abendvortrag:
Bridget Heal (St Andrews), Die visuelle Kultur einer Lutherischen Pfarrkirche zwischen Renaissance und Barock: Lucas Cranachs Schneeberger Altar und dessen Publikum 1539-1712

Sektion II – Räume

Paolo Ostinelli (Bellinzona / Zürich), Aneignung, Repräsentation und Erinnerung. Die Konstruktion des Pfarrei-Raumes im oberitalienischen Alpenraum (14.-Mitte 16. Jh.)

Kord-Henning Uber (Greifswald), Die Pfarreien im Herzogtum Kurland im ländlichen und im städtischen Raum

Sektion III – Autonomie

Beat Kümin (Warwick), Politische Freiheit und Pfarreikultur im frühneuzeitlichen Reich

Maciej Ptaszyński (Warschau), „Pfaffenhass“ oder Autonomie der Gemeinden? Der Antiklerikalismus nach der Reformation in Pommern

Sektion IV – Reformation

Enno Bünz (Leipzig), Stadtpfarrkirchen und Reformation – Wandel und Bestand am Beispiel Leipzigs

Arnd Reitemeier (Göttingen), Die (norddeutschen) Pfarrgemeinden im Spiegel der Visitationen

Michael North (Greifswald), Ökonomische, soziale und kulturelle Folgen der Reformation im Ostseeraum

Jürgen Herold (Greifswald) / Falk Eisermann (Berlin), Führung durch den Dom St. Nikolai und die Bibliothek des Geistlichen Ministeriums

Sektion V – Klosterpfarreien

Per Seesko (Odense), Klosterkirchen als Pfarrkirchen im nachreformatorischen Dänemark

Lukas Weichert (Göttingen), Das Michaeliskloster und seine inkorporierten Pfarreien im 16. Jahrhundert

Sektion VI – Materialkultur

Sabine-Maria Weitzel (Krien), Frömmigkeitsformen des späten Mittelalters im Spiegel der Ausstattung der Pfarrkirche St. Nikolai in Stralsund

Eberhard J. Nikitsch (Mainz), Inschriften als Quelle der Pfarreigeschichte von S. Maria dell’Anima in Rom


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