Das kurze 20. Jahrhundert als „verriegeltes Zeitalter“

Das kurze 20. Jahrhundert als „verriegeltes Zeitalter“

Organisatoren
Fachbereich III, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2015 - 19.09.2015
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Von
Christian Marx, Forschungszentrum Europa (FZE), Universität Trier

Im feuilletonistischen Herbststurm des Jahres 2002, als Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung die Bundesrepublik am Rande des Nervenzusammenbruchs wähnte und Arnulf Baring zum Protest der Bürger aufrief, verwies Alexander Cammann in einem mit „Konsensdeutschland“ überschriebenen Artikel im Magazin „Berliner Republik“ auf die Stabilität und Konsensfähigkeit der westdeutschen Gesellschaft. Die Entdeckung und Durchsetzung des Konsensprinzips sei die entscheidende Revolution im Deutschland des 20. Jahrhunderts gewesen. Verriegelung und Verschränkung würden einen Konsens erzwingen, der Reformen zwar langwierig und schwierig, zugleich aber dauerhaft und stabil mache.1 Auch in der Geschichtswissenschaft wird die Bereitschaft der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Kompromisse auszuhandeln und Kooperationen einzugehen, betont.2 Zugleich diskutieren Forschungen zur jüngsten Zeitgeschichte in den letzten Jahren intensiv die von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael aufgeworfene These eines radikalen Strukturbruchs nach dem Boom, bei der mehrfach auf den Begriff der „Entriegelung“ zurückgegriffen wurde, um das Aufbrechen von Strukturen und die Auflösung kooperativer Bindungen zu beschreiben.

Die von der Volkswagen-Stiftung geförderte Tagung nahm diese Überlegungen zum Anlass, um nach Prozessen der Verriegelung im 20. Jahrhundert zu fragen. Ihr lag die Annahme zugrunde, dass nicht in allen Fällen erst die politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Arrangements der Nachkriegszeit den Konsens hervorbrachten, sondern viele Kopplungen bedeutend älter waren. In seinen einleitenden Bemerkungen verdeutlichte MORTEN REITMAYER (Trier) die Verriegelungsthese exemplarisch anhand der Begrenzung des Konkurrenzprinzips, des am männlichen Industriearbeiter ausgerichteten Wohlfahrtsstaats sowie des Korporatismus als Mechanismus zur Organisation und Vermittlung von Interessen. Die Auflösung derartiger Bindungen sei besonders auf dem Gebiet der Politischen Ökonomie und der gesellschaftlichen Zeitdiagnosen zu beobachten. Privatisierungswellen, Abbau von Handelsbeschränkungen und die Aufgabe staatlicher Monopole setzten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis dahin eingehegte Wettbewerbskräfte frei; gleichzeitig postulierten zeitgenössische Leitbegriffe wie Individualisierung oder reflexive Modernisierung die Auflösung gewachsener sozialer Milieus.

In der ersten Sektion über „ökonomische Handlungsfelder“ stellte PAUL WINDOLF (Trier) einen Paradigmenwechsel auf dem deutschen Finanzmarkt seit den frühen 1990er-Jahren fest. An die Stelle der korporatistischen Koordinierung trat eine Koordination durch den Markt. Zugleich machte die Liberalisierung der Märkte jedoch mehr Regulierung durch den Staat erforderlich. Während der deutsche Aktienmarkt der Bonner Republik unter der korporatistischen Kontrolle der Universalbanken und der großen Konzerne für institutionelle Investoren weitgehend verschlossen war, wurde ihnen dieser Zugang durch neue Finanzmarktgesetze in den 1990er-Jahren geöffnet. In einem Prozess nachholender Modernisierung erschuf Deutschland den rechtlichen Rahmen für das neue Paradigma, das sich seit Mitte der 1970er-Jahre in den USA entwickelte und immer stärkeren Druck auf die koordinierten Marktwirtschaften ausübte. JAKOB TANNER (Zürich) ging in seinem Beitrag ebenfalls auf Formen des Korporatismus und der Regulierung ein und zeigte am Beispiel der Kartelle die unterschiedliche Bewertung einer solchen Begrenzung von Konkurrenz. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Diskussionen über Marktabsprachen. Während die Rolle von Kartellen in Deutschland kontrovers diskutiert – sogar teils positiv gewertet wurde –, stießen Kartelle in den USA auf weitaus größere Vorbehalte. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann auch in Europa im Gefolge des amerikanischen Marshallplans eine radikale Dekartellisierung ein, da kompetitiven Marktlogiken mehr Effizienz und Innovationskraft zugeschrieben wurde.

Die zweite Sektion zu „sozialen Handlungsfeldern“ begann mit einem Referat von CHRISTOF DIPPER (Darmstadt) über Klassen als diskursiv erzeugte Ordnungsmuster der Moderne. Obschon in weiten Teilen Europas bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die gesellschaftliche Ordnung in Bewegung geriet, setzte im Deutschen erst in den 1840er-Jahren die moderne Klassensemantik ein. Dies hatte im Vergleich zum Englischen eine sozialwissenschaftliche Dominanz mit einem besonders stark ausgeprägten Anspruch auf Wahrheit zur Folge. In der akademischen Historiographie blieben Klasse und Klassenkampf lange Zeit ausgeklammert. Erst in den 1960er-Jahren brach diese säkulare Wissenschaftstradition ab. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich der soziale Wandel mit dem Ende der Industriemoderne zwar erheblich und soziale Ungleichheit nahm wieder zu, diese Entwicklungen ließen sich aber kaum mehr mit dem aus dem sozialpolitischen Begriffsarsenal des 19. Jahrhunderts stammenden Begriff Klasse beschreiben. Dippers Ausführungen zeigten, dass sich nicht nur die soziale Zusammensetzung westeuropäischer Gesellschaften in den 1970er-Jahren fundamental wandelte, sondern sich auch die Bestimmungsmacht über den politischen Raum grundsätzlich veränderte. In Anlehnung an das Konzept der lock-in-Effekte des Wirtschaftsgeographen Gernot Grabher analysierte ANDREAS GESTRICH (London) anschließend Formen sozialer Ungleichheit. Bis in die jüngste Vergangenheit wurde die Kombination von markbedingter Klassenlage und ständischer Lage wenig aufgegriffen. In der frühen Bundesrepublik wurden sowohl marxistisch inspirierte Analysen vertikaler Gesellschaftsgliederung nach Marktklassen als auch Aspekte der Fortdauer ständischer Lagen fast völlig ausgeblendet. Die Schichtungssoziologie war eher an einer differenzierten Beschreibung einer breiten Mittelschicht interessiert als an einer detaillierten Analyse der Wirtschafts- und Machteliten am oberen Ende der Skala oder der Probleme der einkommensschwächsten Schichten an ihrem unteren Ende. Aufgrund der im westdeutschen Nachkriegsboom steigenden Löhne schien die Verteilungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik kontinuierlich zuzunehmen. Erst ab den 1970er-Jahren wurde dem Thema soziale Ungleichheit eine neue Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dabei wandte sich die Ungleichheitsforschung den Themen Bildungschancen und soziale Mobilität zu, zeigte aber wenig Interesse an der Klassenschichtung, obschon der Sozialstaat soziale Ungleichheit gleichzeitig abbaute und produzierte. Gestrich machte deutlich, dass aus dem mangelnden Abbau sozialer Ungleichheit nicht den Schluss gezogen werden dürfe, dass sich die Lage der Arbeiter durch sozialpolitische Maßnahmen nicht verbessert habe. Arbeiter waren natürlich Profiteure sozialstaatlicher Verriegelungsprozesse – besonders in Zeiten der Vollbeschäftigung. NICOLE MAYER-AHUJA (Göttingen) zufolge fand durch staatliche Regulierung nicht nur eine Verriegelung statt, vielmehr kam es unter diesen Bedingungen auch zu Prozessen sozialer Aufwärtsmobilität – also zu Entriegelungen. Erst seit den 1980er-Jahren wurden solche Wege sozialer Mobilität zunehmend verbaut. Der Vortrag von WINFRIED Süß (Potsdam) knüpfte unmittelbar hieran an und verwies auf die ambivalenten Effekte des Wohlfahrtsstaats. Dieser hat sowohl eine soziale Strukturen konservierende und Handlungsoptionen verengende Seite, die man als Verriegelung verstehen kann, als auch ein dynamisierendes, soziale Strukturen entriegelndes Potenzial. Sozialpolitik korrigiert die Verteilungsfolgen des ökonomischen Systems und macht es dadurch akzeptabler. Dies ist der sozialkonservative Grundzug des Sozialstaats. Zugleich ist der Sozialstaat ein großer Modernisierer sozialer Beziehungen. Er universalisiert Solidarität, indem er sie vom Nahbereich kleinräumiger Sozialbeziehungen auf den Rahmen des Nationalstaats erweitert. Staatszugehörigkeit und Arbeit waren hierbei die wichtigsten Differenzierungskriterien. In seiner Intervention lenkte HANS GÜNTER HOCKERTS (München) das Augenmerk auf die Entwicklung des Sozialstaats seit den 1970er-Jahren und verdeutlichte die Vermarktlichung des Sozialen am Beispiel neuer Wohlfahrtsmärkte und der Rekommodifizierung der Arbeitskraft. Dabei führte die Teilprivatisierung gesetzlicher Versicherungssysteme eben nicht zu einem Rückzug des Staates, sondern zu mehr Regeln und Riegeln. Gleichzeitig folgte der patriarchalischen Verriegelung im Wirtschaftswunder eine Entriegelung zugunsten weiblicher Beschäftigter nach dem Boom. Hockerts plädierte für eine konzeptionelle Erweiterung des Verriegelungs-Konzepts durch Aufgreifen des von Wolfgang Streeck geprägten Begriffs der „beneficial constrains“.

Die folgende Sektion zu „politischen Handlungsfeldern“ wurde mit einem Beitrag von DIRK VAN LAAK (Gießen) über imperiale Projekte eingeleitet. Grundsätzlich war Imperialismus das Projekt einer Minderheit, von der die Mehrheit der Europäer profitierte. Dabei widersprachen die selbstgestellten Ansprüche an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dem klassischen Kolonialismus und untergruben dessen Legitimität. Im kurzen 20. Jahrhundert war die klassische Zeit des europäischen Imperialismus eigentlich schon wieder vorbei. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die noch verbliebenen Kolonialmächte auf ambitionierte Entwicklungsprojekte, sie blieben aber bei der Annahme einer Rückständigkeit kolonialer Gesellschaften. Insgesamt verlief die Dekolonisation auf eine erstaunlich unspektakuläre Weise. Die 1970er-Jahre sind hier nur insofern als Strukturbruch zu kennzeichnen, als mit der Selbständigkeit der portugiesischen Kolonien nach 1975 das offizielle Ende terminiert wird. Aus der Perspektive der vormals Beherrschten sind die Phasen nationaler Unabhängigkeit trotz anfänglicher Entriegelungseuphorie auch solche einer fortgesetzten wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Abhängigkeit gewesen. URSULA LEHMKUHL (Trier) lenkte den Blick anschließend auf die normativ-institutionelle Verriegelung der verfassten Weltgesellschaft im Kontext der euro-amerikanischen Hegemonie. Die aus der Aufklärung stammende Idee universaler Menschenrechte fand ihre organisatorisch-institutionelle Umsetzung in der Gründung des Völkerbundes, bei dessen Gründung die Monroe-Doktrin mit ihrer Forderung nach einem Ende aller Kolonialisierungsbestrebungen aufgegriffen wurde. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die euro-amerikanische Hegemonie aufgebrochen. Die Gründung der Gruppe der 77 während der ersten Welthandelskonferenz 1964, die die Position der Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt verbessern will, fungierte als Beispiel für eine Entriegelung polit-ökonomischer Institutionen nach 1945. JULIA ANGSTER (Mannheim) wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass seit den 1970er-Jahren durch die zunehmend globalhistorische Sichtweise die Selbstverständlichkeit verloren gegangen sei, alle ökonomischen und politischen Entwicklungen im Nationalstaat zu denken, ohne dass der Nationalstaat dabei seine Relevanz eingebüßt habe. Die Bedeutung des Nationalstaats leuchtete auch im anschließenden Beitrag von ULRICH HERBERT (Freiburg) über Weltanschauungseliten wieder auf. Im Ersten Weltkrieg entstanden in Deutschland und in Russland zwei radikale Konzepte als Antworten auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Die moderne Industriegesellschaft ging für weite Teile der Gesellschaft mit einem Empfinden von Individualisierung und Vereinzelung einher, das bei ihnen ein Verlangen nach einem Gegenmodell hervorrief. Sowohl die rechts- als auch die linksradikale Variante faszinierten durch ihre reduktionistischen Erklärungen. Während die rechtsradikale Variante 1945 zu Ende ging, verpasste die linksradikale Variante in den 1970er-Jahren den Anschluss an die Konsumgesellschaft und stieß damit das Ende ihrer eigenen Herrschaft an. Vor diesem Hintergrund kann die Entstehung der klassischen Industriegesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg als Verriegelung, ihre Auflösung seit den 1970er-Jahren wiederum als Entriegelung verstanden werden.

In der vierten mit „Leitkonzepten“ überschriebenen Sektion widmete sich zunächst ANSELM DOERING-MANTEUFFEL (Tübingen) dem Niedergang und Wiederaufleben des Liberalismus. Unter Rückgriff auf das Interpretationsangebot von Michael Freeden konzentrierte sich Doering-Manteuffel auf verschiedene Erscheinungsformen liberaler Ordnungsvorstellungen in den Zeitspannen von 1890/1900 bis etwa 1930, von den 1930er-Jahren bis in die 1970er-Jahre sowie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. In der Tradition des bürgerlichen 19. Jahrhunderts prägten die Begriffe Fortschritt und individuelle Selbstbestimmung das Grundmuster des liberalen Selbstverständnisses im ersten Zeitabschnitt. Seit 1920 ging der bürgerliche Individualismus in Europa zurück. Die zweite Phase war folglich durch eine forcierte Gemeinschaftsbildung gekennzeichnet, aus der nach 1945/50 das System des sozialen Konsenses in den westlichen Nachkriegsdemokratien hervorging. Die Verkopplung der Selbstbestimmung des Marktteilnehmers mit seiner Selbstbestimmung als Staatsbürger und die gleichzeitige Verpflichtung des Staates auf Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit prägten diese Phase des sozialen Liberalismus. Die Bindekraft des Modells war an den Primat des Staates gekoppelt. In Zeiten tiefgreifender wirtschaftlicher Umbrüche seit den 1960er-Jahren wurde dieses Modell anfangs ganz unspektakulär geöffnet; spätestens ab Mitte der 1970er-Jahre wurde die Entriegelung als Befreiung empfunden und führte zur Öffnung in Richtung eines neuen Liberalismus. GANGOLF HÜBINGER (Frankfurt an der Oder) stellte anschließend das Facettenreichtum und die Spannungen zwischen unterschiedlichen Ganzheitlichkeitsvorstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor, die als Reaktion auf Entriegelungsprozesse in der Moderne verstanden wurden. Schließlich verwies MARTIN ENDREß (Trier) auf das dialektische Verhältnis von Ver- und Entriegelung und übersetzte dieses in eine Reihe von Paradoxien – also unterschiedliche Richtungstendenzen aufweisende Prozesse –, die gegenwärtig auf dem Feld universitär-wissenschaftlicher Arbeit angesichts der Monetarisierung professoraler Gratifikation zu beobachten sind. MARGIT SZÖLLÖSI-JANZE (München) erweiterte den Blick auf Entwicklungen des wissenschaftlichen Felds in der Bundesrepublik und machte darauf aufmerksam, dass Verriegelungsprozesse in Form von Planung und Steuerung zunächst die Bildungsexpansion kennzeichneten – bei gleichzeitiger Entriegelung des Hochschulzugangs und der Qualifikationswege – , bevor ab Mitte der 1970er-Jahre unter dem Druck schrumpfender Budgets zunehmend kompetitive Mechanismen im Hochschulwesen bestimmend geworden seien.

ADELHEID VON SALDERN (Hannover) eröffnete die fünfte Sektion mit einem Vortrag über die Geschlechtergeschichte im 20. Jahrhundert. Dabei betonte sie, dass sich deren zahlreiche Gesellschaftsfelder – wie Erwerbsarbeit, Politik, Ausbildung, Ehe, Familie oder Medien- und Freizeitkultur – keineswegs synchron entwickelten. Während Frauen 1908 das Versammlungsrecht gewährt und die Gleichberechtigung in die Weimarer Verfassung aufgenommen wurde, zog sich die Abschaffung der patriarchalischen Paragraphen des BGB bis in die 1970er-Jahre hin. Die Neue Frauenbewegung nutzte die mit der Studentenbewegung einhergehenden Entriegelungspotenziale für ihre Anliegen, auf dem Arbeitsmarkt fungierten Frauen jedoch weiterhin als bewegliche Manövriermasse. Die Gleichzeitigkeit von Entriegelung in einem Bereich und fortwährender Verriegelung in einem anderen Bereich war somit ein Charakteristikum der Frauen- und Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts. In seinem Vortrag über die Subjektivierung des Ökonomischen verwies JAN-OTMAR HESSE (Bayreuth) auf die Foucaultsche Beschreibung des Verhaltensmodells des homo oeconomicus. Indem dieser sich von den Interessen anderer frei mache, entstehe ein Bereich der unantastbaren Mechanik rationalen Handelns, in den Regierungen nicht eingreifen können. Ob die strukturellen Verschiebungen nach dem Boom durch Veränderung ökonomischer Handlungsmodi ausgelöst worden sind oder der Durchbruch des Dispositivs des neoliberalen Kapitalismus die Handlungsmodi verändert hat, blieb letztlich offen. Zumindest gab es jedoch Hinweise darauf, dass sich Präferenzordnungen im Laufe des 20. Jahrhunderts von gruppenbezogenen zu individuellen Zielen verschoben haben.

Die Verriegelungsthese regte während der gesamten Tagung zu vielfältigen und spannenden Diskussionen an, gleichwohl gab es im 20. Jahrhundert auch einen Wandel sozialer und kultureller Formen, der sich kaum trefflich mit den Begriffen von Ver- und Entriegelung erfassen lässt. LUTZ RAPHAEL (Trier) wies in seinem Schlusskommentar insbesondere darauf hin, dass der Nationalstaat als Akteur vernachlässigt worden sei, der nach 1914 über Grenzziehungen weite Bevölkerungsteile ausgeschlossen hat. Seit den 1970er-Jahren seien dann zahlreiche Pfadabhängigkeiten gelockert worden. In Bezug auf den Sozialstaat bedeutete dies die Entstehung neuer wohlfahrtsstaatlicher Regime. Schließlich müsse man sich darüber im Klaren sein, dass sich in bestimmten Zeiträumen Handlungsoptionen eröffneten, während sich der Raum für Handlungsmöglichkeiten in anderen Phasen verengte. Insgesamt zeigte die Tagung, dass sich der Begriff der Entriegelung besonders gut dazu eignet, um zeitlich verschobene Prozessketten zusammenzubringen und damit Zäsuren in Form eines verdichteten Wandels zu erklären, während der Begriff der Verriegelung vor allem dazu genutzt werden kann, die Einhegung und Begrenzung von Dynamiken zu beschreiben. Über das gesamte 20. Jahrhundert betrachtet, standen Entriegelungen dabei in vielen Fällen neue Verriegelungen gegenüber.

Konferenzübersicht:

Morten Reitmayer (Trier): Das kurze 20. Jahrhundert als „verriegeltes Zeitalter“

Sektion 1: Ökonomische Handlungsfelder

Paul Windolf (Trier): Von der korporatistischen Koordinierung zur staatlichen Regulierung

Laura Rischbieter (Berlin): intervention

Jakob Tanner (Zürich): Korporatistische Interessenpolitik und die Regulierung von Wettbewerb

Boris Gehlen (Bonn): intervention

Alexander Nützenadel (Berlin): Die politische Mobilisierung ökonomischer Ressourcen (entfallen)

Sektion 2: Soziale Handlungsfelder

Christof Dipper (Darmstadt): Klassen

Cornelia Bohn (Luzern): intervention

Andreas Gestrich (London): Soziale Ungleichheiten

Nicole Mayer-Ahuja (Göttingen): intervention

Winfried Süß (Potsdam): Wohlfahrtsproduktion

Hans Günter Hockerts (München): intervention

Sektion 3: Politische Handlungsfelder

Dirk van Laak (Gießen): Imperiale, post- und neoimperiale Projekte

Silke Mende (Tübingen): intervention

Ursula Lehmkuhl (Trier): Globalisierung westlicher Ordnungsvorstellungen – Ver- und Entriegelungsprozesse im 20. Jahrhundert

Julia Angster (Mannheim): intervention

Ulrich Herbert (Freiburg): Weltanschauungseliten in Demokratie und Diktatur

Axel Schildt (Hamburg): intervention

Sektion 4: Leitkonzepte

Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen): Niedergang und Wiederaufleben des Liberalismus

Kim Priemel (Berlin): intervention

Gangolf Hübinger (Frankfurt an der Oder): Ganzheitlichkeit

Jan Eckel (Köln): intervention

Martin Endreß (Trier): Wissenschaft

Margit Szöllösi-Janze (München): intervention

Sektion 5: Handlungsmodi

Adelheid von Saldern (Hannover): Ein Haus voller Türen mit Riegeln. Zur Geschlechtergeschichte im 20. Jahrhundert

Claudia Bruns (Berlin): intervention

Jan-Otmar Hesse (Bayreuth): Subjektivierung des Ökonomischen

Manuel Schramm (Chemnitz): intervention

Abschlussdiskussion
Lutz Raphael (Trier): Gesamtkommentar

Anmerkungen:
1 Alexander Cammann, Konsensdeutschland, ein Wintermärchen, in: Berliner Republik. Das Debattenmagazin 1/2003.
2 Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB. München 2003.


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