Vom 15. bis zum 16. Oktober 2015 luden der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena und das Imre Kertész Kolleg zu einem Workshop ein, in dem Forscher/innen die jüngsten Ergebnisse ihrer Feldstudien zur Geschichte der Perestrojka zur Diskussion stellten. Der Fokus der Veranstalter lag explizit auf den innenpolitischen Entwicklungen der UdSSR, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Teilrepubliken. Die Herausforderung an die Referent/innen bestand darin, die häufig teleologische Sichtweise von der Perestrojka als Untergangsepoche zu problematisieren. Ein ergebnisoffener Blick auf die wechselhaften und eng verflochtenen Entwicklungen in Kultur, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Zentrum und in der sowjetischen Peripherie sollte dazu beitragen, Brüche in der Umsetzung und die Vorstellungswelten offenzulegen, die Gorbačevs Reformprogramm nach sich zog.
PETER RUGGENTHALER (Graz) eröffnete den Workshop mit einem Blick auf das Wirken Michail Gorbačevs im inneren Machtzirkel des Kremls. An den Sitzungsprotokollen des Politbüros zeichnete sich ab, wie stark Gorbačevs Entscheidungen in der Außen- und Blockpolitik von den Erwägungen über die innere Verfasstheit des Staates beeinflusst wurden und auf diese zurückgewirkt haben. Seine Zurückhaltung beim Einsatz militärischer Gewalt in den politischen Unruheherden des Kaukasus und Zentralasiens sei einerseits seiner Überzeugung geschuldet gewesen, eine politische Lösung für die wachsende Unzufriedenheit an der sowjetischen Peripherie herbeiführen zu können. Andererseits habe diese Inkonsequenz die Dynamik politischer und ethnischer Spannungen noch befeuert. Der Verlust der DDR habe den Generalsekretär um die Unterstützung vieler seiner politischen Weggefährten gebracht. Seine außenpolitische Inkonsequenz habe ihn der nötigen Handlungsoptionen für sein Reformprogramm beraubt. Ruggenthaler behandelte Gorbačevs Amtszeit in seiner Gesamtheit, ohne etwaige Entwicklungsphasen oder Lernprozesse zu unterscheiden. Zugleich gab er jedoch einen Einblick in faszinierendes Quellenmaterial, wie etwa die Tagebücher von Ševardnadzes Assistenten Stepanov-Mamaladze.
YULIYA VON SAAL (München) ergänzte das Bild von Gorbačev als Getriebenem der eigenen Reformen um die Perspektive der sowjetischen Öffentlichkeit. Ein Ziel der Perestrojka war es, das Potenzial einer kritischen sowjetischen Öffentlichkeit für die Reformziele nutzbar zu machen. Das Resultat sei die Entstehung einer Öffentlichkeit außerhalb der Partei gewesen, die sich durch eine plurale Medienlandschaft noch dynamisierte. Der ungehinderte Meinungsaustausch über die Hypotheken der Vergangenheit (Gulag) und die Belastungen der Gegenwart (Umwelt) habe darin gemündet, dass die Autorität und die Existenz der Kommunistischen Partei offen in Zweifel gezogen wurden. Gorbačev setzte auf den Reformfaktor Mensch und musste sich dem Machtfaktor der Straße beugen. Dieser etwas schematische Begriff von Öffentlichkeit geht über die Frage der Akteure in ihren jeweiligen Sphären hinweg, verdeutlicht aber die politische Kraft, die eine offene Kontroverse im Staatssozialismus freisetzen konnte.
JAN ZOFKA (Leipzig) lenkte den Blick auf die Akteure der politischen und wirtschaftlichen Transformation. Am Beispiel der selbst deklarierten „Republik Transnistrien“ zeigte er nicht nur die Zusammenhänge zwischen den sowjetischen Marktreformen und dem Erstarken separatistischer Bewegungen auf. Zofka demonstrierte auch, wie lokale Wirtschaftseliten zum Ende der 1980er-Jahre in den Strukturen des Staatsozialismus und über die Netzwerke und Hierarchien der Planwirtschaft agierten, um ihre politischen Ziele zu verwirklichen. Fabrikleiter organisierten Streikbewegungen und mobilisierten ihre Arbeiter für (oder auch gegen) die Abspaltung aus dem Gebiet der sich emanzipierenden Moldawischen Sowjetrepublik. Die Kommandokultur der sowjetischen Industrie und ihre Vernetzung in den Partei- und Sowjetapparaten der Region boten ideale Bedingungen für den politischen Aufstieg der Direktoren in der Transformation. Die marktwirtschaftlichen Reformen stärkten ihre Position zusätzlich. Die separatistische Bewegung Transnistriens hatte ihre Wurzeln sowohl in den sowjetischen Unternehmensstrukturen als auch in den Marktreformen der Perestrojka. Damit wird nicht nur das Bild Transnistriens als „Museum des Kommunismus“ neu akzentuiert. Zofka zeigte auch, unter welchen Bedingungen die Perestrojka lokal verhandelt wurde, und warf dabei die Frage der Kontinuitäten zwischen sowjetischer und post-sowjetischer Wirtschaftskultur auf.
Aus dem Beitrag von EVGENIY KASAKOV (Bremen) ging hervor, wie facettenreich das informelle politische Milieu war, das Mitte der 1980er-Jahre durch den Antritt Gorbačevs in Bewegung geriet. Kasakov setzte sich mit dem breiten Spektrum der ‚linken Opposition‘ auseinander. Viele kleinere inoffizielle, lange Zeit illegale Untergrundgruppierungen wie die anarchistische „Obščina“ oder selbst ernannte „Linkssozialisten“ seien, ermutigt durch das Reformklima Gorbačevs, in die Öffentlichkeit getreten, um die aus ihrer Sicht einmalige Gelegenheit zu nutzen, für alternative Modelle des Sozialismus in der Sowjetunion zu werben. Einerseits in politischer Konkurrenz zueinander, sahen sie sich andererseits bis 1988 als Unterstützer und Vorkämpfer der Perestrojka. Anarchisten und Linksrevolutionäre befürchteten jedoch zunehmend, dass die Reformen und der erhoffte Demokratisierungsprozess durch Gorbačev selbst zum Scheitern gebracht würden. Einige von ihnen setzten ihre Hoffnungen daher zuletzt auf Boris El’cin. Als politische Akteure hatten sie jedoch zu wenig Gewicht. Weder gelang es ihnen, auf den sich öffnenden Politdiskurs Einfluss zu nehmen, noch konnten sie Unterstützer in größerer Zahl mobilisieren. Ihre Existenz indes verdeutlicht, dass der Sozialismus als politische Inspirationsquelle in der späten Sowjetunion nicht gänzlich abgewirtschaftet hatte.
CHRISTIAN WERKMEISTER (Jena) stellte die Entwicklung eines kulturellen Untergrundmilieus vor, das durch die Reformveränderungen von Glasnost‘ und Perestrojka sowohl neue Möglichkeiten entdeckte als auch unter wirtschaftlichen Zugzwang und nicht zuletzt in Existenznot geriet. Nicht alle Musikgruppen ohne offizielle Anbindung führten vor 1985 zwangsläufig ein Schattendasein. Die Rock-, Punk- und Metal-Szenen der späten Sowjetunion profitierten allerdings von den Freiräumen, die die Partei- und Komsomolführung eröffnete, um selbst ihrer Glaubwürdigkeitskrise zu entrinnen. Die Kehrseite dieser Öffnung bestand darin, dass der kurzweilige finanzielle Aufschwung durch Ticket- und Tonträgerverkäufe zum Ende der 1980er-Jahre in einen wirtschaftlichen Überlebenskampf mündete. Die Dynamik der neuen Marktwirtschaft, der Einfluss westlicher Musikunternehmen und auch der Verlust des Regimes als Reibungsfläche brachten zahlreiche Musiker und Bands um ihre Existenz und ihr Profil als unangepasste Gruppen. Die westliche Massenkultur habe den Musikmarkt spätestens in der Mitte der 1990er-Jahre vollständig durchdrungen. Für breitere Bevölkerungsschichten war der Krieg in Afghanistan eine der medialen Schlüsselerfahrungen der Perestrojka.
MARKUS MIRSCHEL (Zürich) präsentierte die Ergebnisse seiner umfassenden Bildanalyse zur offiziellen Kriegsberichterstattung. Obgleich Brežnevs „unerklärter Krieg“ in kontrollierten Dosen von der Partei- und Armeepresse dokumentiert wurde, habe ein Großteil der sowjetischen Bevölkerung Eindrücke davon bekommen, wie sich die Situation im Kriegsgebiet bis zum Ende der 1980er-Jahre veränderte. Mirschel wertete vor allem Armeefotografien nach ihren militärischen und zivilen Bildinhalten, visuellen Stilmitteln und den wichtigsten Motiven aus, um der Visualisierung des Afghanistankrieges nachzuspüren, auch vor dem Hintergrund traditioneller Kriegsfotografie in der Sowjetunion. Eine Parallele war die Inszenierung von militärischer und ziviler Technik gleichermaßen. Dies sollte suggerieren, dass die Natur und der afghanische Raum durch die Sowjetmacht beherrscht würden. Die technologische Überlegenheit der Sowjetunion ging damit visuell in der zivilisatorischen Missionsabsicht auf – ein bekanntes Muster bei der fotografischen ‚Entdeckung‘ der zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Der militärische Konflikt blieb auffallend abstrakt. Bilder von Gefechten waren die Ausnahme, und feindliche Soldaten wurden nur als Karikaturen abgebildet. Anders als der Vietnamkrieg brachte dieser Krieg keine ikonischen Bilder hervor, sondern nur Bildkategorien, die erst durch die Heimkehrer 1989 und ihre Schilderungen kontextualisiert wurden.
IRINA MOROZOVA (Regensburg) präsentiert ebenfalls einige Aspekte zur Geschichte Zentralasiens in den späten 1980er-Jahren. Dabei ging es vor allem um ein quellengesättigtes Online-Editionsprojekt mit Erfahrungsberichten zur Auswirkung der spätsowjetischen Wirtschaftsreformen in Zentralasien. Am Beispiel Kirgistans demonstrierte sie unter anderem, dass es erhebliche Unterschiede in der Wahrnehmung der Perestrojka-Reformen und den Strategien zu ihrer Umsetzung gab, und welche Kommunikationsmechanismen zwischen Zentrum und Peripherie wirkten.
KATJA DOOSE (Tübingen) untersuchte die lokalen und nationalen Folgen des Erdbebens in Armenien 1988. Die Naturkatastrophe forderte nicht nur die Krisenkompetenz des Kremls heraus, sondern dynamisierte als „Kommunikationsereignis“ den politischen Wandel in der Kaukasusregion. Der Versuch der Parteiführung, die Katastrophe im Zeichen der sowjetischen Vielvölkerfreundschaft zu bewältigen und das Image Moskaus innersowjetisch und international aufzuwerten, endete in einem Desaster. Die Rückschläge beim Wiederaufbau und das logistische Chaos hätten nicht nur das Verhältnis der armenischen Bevölkerung zur politischen Führung in Moskau belastet. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Armeniern und Aserbaidschanern wurde durch die anhaltende Versorgungskrise und die Frustration zusätzlich verschärft. Doose veranschaulichte, wie sich die Kommunikation um das Ereignis auf beiden Seiten zusehends politisierte und ‚ethnisierte‘. Der verbalen Eskalation folgten pogromartige Zustände in beiden Republiken, was radikalen und bewaffneten Gruppierungen zusätzlichen Auftrieb gab. Doose lieferte ein Beispiel für die Rolle der Natur als Katalysator für die Entwicklungen in der spätsowjetischen Nationalitätenpolitik. Dabei stellt sich die Frage, wann die sowjetische Peripherie und ihre Lebenswelten der Wahrnehmung des politischen Zentrums enteilt waren.
FRANZISKA SCHEDEWIE (Jena) spürte dem innerparteilichen Verständnis der Perestrojka nach. Ein Teil dieses Vorhabens beruht auf der Auswertung von Anfragen, Leserbriefen und Artikeleinsendungen an die Zeitschrift „Kommunist“ und der entsprechenden Antworten aus der Redaktion. Die Leserschaft bestand aus einem breiten Pool an einfachen Parteimitgliedern, Experten und Technokraten aus allen Teilen der Sowjetunion, die ihre Erwartungen, Bedenken und ihr Expertenwissen als Vorschläge gegenüber der Redaktion zum Ausdruck brachten. Gorbačevs Reformprogramm beschwor unterschiedlichste Vorstellungen innerhalb der Partei herauf. Die Leserbriefe vermitteln die enorme Bandbreite und die Widersprüche, welche die Mitglieder mit dem Wandel assoziierten. Die Antworten gingen individuell auf die Briefe ein und vermittelten, wie bemüht, aber auch wie paternalistisch und dogmatisch die Redaktion auf die offenen Fragen ihrer Leser reagieren konnte. Schedewie gewährte einen Einblick in die vage und widersprüchliche Vorstellungswelt, die an die Worthülse „Perestrojka“ gebunden war.
RAPHAEL UTZ (Jena) äußerte nach dem Abschluss der Redebeiträge drei Beobachtungen, die sich aus dem Verlauf des Workshops für ihn ergaben. Zum einen sei aus den Beiträgen hervorgegangen, wie wichtig ein chronologisches Verständnis für diesen Forschungsgegenstand sei. Angesichts so rasanter und fundamentaler Veränderungen, die die Sowjetunion unter Gorbačev vollzog, müsse die Chronologie ernst genommen werden, um Konjunkturen und Brüche wahrzunehmen, die dem Verständnis von einer Perestrojka-Epoche deutlich zuwiderlaufen. Zum anderen sei auch im Laufe des Workshops deutlich geworden, welche zentrale Rolle die Person Gorbačevs für das Verständnis der letzten Jahre der Sowjetunion spielt. Zahlreiche Entwicklungen der Reformzeit könnten auf die Anschauungen dieses Mannes zurückgebunden werden oder auf die mit ihm assoziierte Politik. Die dritte Beobachtung schließlich zielt auf die Frage, inwiefern die politische Führung der Sowjetunion überhaupt über Arbeitskonzepte verfügte, um die sich verändernde Situation (in Armenien beispielsweise) meistern und verwalten zu können. Wie weit reichte das Reformprogramm über die Einschränkung staatlicher Gewaltanwendung hinaus?
Die Abschlussdiskussion griff diese Beobachtungen auf und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Frage der Chronologie und die des Epochencharakters. Kontinuitätslinien in die Brežnev-Zeit und die 1990er-Jahre müssten gleichermaßen ernst genommen werden, was wiederum auch auf die Ungleichzeitigkeit vieler Prozesse verweist, die im Laufe des Workshops von so vielen Akteuren an unterschiedlichen Orten angestoßen und dynamisiert wurden. Das Reformprogramm selbst sei zeitlich eingrenzbar, die Resonanz in der Bevölkerung, die Akteursvielfalt und nicht zuletzt die Topographie der Sowjetunion legen indessen nahe, dass die Teleologie des Zusammenbruchs von wichtigen Erkenntnissen ablenkt. Dieser Workshop hat dafür sowohl Argumente als auch konkretes Anschauungsmaterial versammelt.
Konferenzübersicht:
Eröffnung und Begrüßung
Joachim von Puttkamer (Jena) / Franziska Schedewie (Jena)
Peter Ruggenthaler (Graz): Im Machtzirkel des Kreml
Chair: Joachim von Puttkamer (Jena)
Yuliya von Saal (München): Perestroika von „unten“: gesellschaftlicher Aufbruch und Implosion der UdSSR
Jan Zofka (Leipzig): Politische Gefolgschaft und gesellschaftlicher Wandel in (spät-) sowjetischen Industriebetrieben. Das Beispiel der „Moldauischen Dnjestr-Republik“ („Transnistrien“)
Chair: Katharina Schwinde (Jena)
Ewgeniy Kasakow (Bremen): Die linke Opposition während der Perestrojka – Gorbačevs Gesinnungsgenossen, El'cins Helfer?
Christian Werkmeister (Jena): "Die Rockmusik hatte besonders stark unter der Glasnost' zu leiden..." Kulturpolitik der Perestrojkazeit aus Sicht unangepasster Jugendszenen
Chair: Dennis Dierks (Jena)
Markus Mirschel (Zürich): Traditionen in der Fotografie – traditionelle (Kriegs-)Fotografie? Die offizielle Visualisierung des sowjetisch-afghanischen Krieges.
Irina Morozova (Regensburg/München): Zentralasiatische Gesellschaften in der Zeit der Perestrojka: die Bedeutung von Chronologien
Chair (inkl. integrierter Abschlussrunde): Raphael Utz (Jena)
Katja Doose (Tübingen): Erschütterung und Wandel. Das Erdbeben in Armenien 1988 als Prüfstein für die Perestroika?
Franziska Schedewie (Jena): Perestrojka und KPdSU im Verständnis der Parteimitglieder. Briefwechsel aus der Redaktion der Zeitschrift „Kommunist“