Das verräumlichte Selbst. Topographien kultureller Identität

Das verräumlichte Selbst. Topographien kultureller Identität

Organisatoren
Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL)
Ort
Lübeck
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2015 - 21.09.2015
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Von
Ole Meiners, Berlin

Vom 17.–21. September 2015 fand die dritte von den Stipendiat*innen des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) organisierte, interdisziplinäre Tagung unter dem Titel „Das verräumlichte Selbst. Topographien kultureller Identität“ statt. Im Mittelpunkt des Interesses standen Fragen nach dem Zusammenhang von ’Raum‘ und ’Identität‘, sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Die aus einem breiten Fächerspektrum kommenden Vortragenden einte der kulturwissenschaftliche Zugang, mit dessen Hilfe die komplexen Wechselwirkungen von kulturellen Bedeutungszuschreibungen und räumlicher Materialität ausgelotet wurden. Interdisziplinarität diente hier nicht nur als Etikett und unterschiedliche Fachkulturen waren kein Hindernis. Vielmehr wirkten die verschiedenen Zugänge in vielfacher Weise als Impulse für eine tiefer gehende Diskussion: Sowohl auf inhaltlich empirischer wie auf methodischer Ebene traten die in großer Bandbreite vertretenen Fächer in einen konstruktiven und produktiven Dialog.

BIRGIT STAMMBERGER (Lübeck) eröffnete die Tagung mit einem einleitenden Vortrag, der einen Überblick über Forschungsstand und -geschichte soziologischer, historischer und kulturwissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Raum lieferte, und zentrale theoretische Perspektiven aufzeigte. Insbesondere warf die Vortragende die Frage auf, ob es neuer Raumkonzepte bedürfe.

Die erste Sektion widmete sich dem Thema von ’Raum und Geschlecht‘, wobei anthropologische Perspektiven auf historische Themen Anwendung fanden. MICHAEL SCHÜTTE (Göttingen) befasste sich mit dem ethnographischen Wissen des Lübecker Ethnologen Günther Tessmann im Zusammenhang mit dem Wandel der Wissens- und Geschlechterordnung im frühen 20. Jahrhundert. Die Auseinandersetzung mit fremden, außereuropäischen Kulturen habe dazu beigetragen, die um 1900 in die Krise gekommene Geschlechterordnung neu auszuhandeln. Dies sei als Teil eines allgemeineren Hinterfragens des europäischen Selbstverständnisses zu verstehen, wofür die räumliche Selbstverortung in Abgrenzung gegenüber dem Fremden eine entscheidende Rolle spielte. Die Verbindung von Geschlechtlichkeit, der Konstruktion des (weißen, heterosexuellen) Mannes sowie Raum stand auch im Mittelpunkt des Beitrages von TAMARA FREY (Göttingen). Anhand von Zeitungsannoncen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersuchte Frey die Formen der Eheanbahnungen als soziale Praktik und den Heiratsmarkt als Ort. Die Heiratsannonce wurde somit als ein besonderer Kommunikationsraum gefasst, in dem die Inserenten ein „verräumlichtes Selbst“ von sich als erfolgreiche, ehrenhafte und vertrauenswürdige bürgerliche Subjekte konstruierten.

Im Mittelpunkt des öffentlichen Abendvortrags von REBEKKA HABERMAS (Göttingen) standen Kontinuitäten und Diskontinuitäten kultureller Bedeutungszuschreibungen in kolonialen und postkolonialen Kontexten. Anhand der sogenannten Benin-Köpfe diskutierte Habermas die Formen der räumlichen Verflechtung epistemischer, kultureller und politischer Identität. Die Bronzeskulpturen, die ursprünglich von der britischen Kolonialmacht als Kriegstrophäen aus ihrem Herkunftsland geraubt wurden, erfuhren im Laufe der Zeit vielfältige Umdeutungen, die bis heute diskutiert, fortgesetzt oder gebrochen werden. Als paradigmatische Objekte des Aberglaubens, des Kannibalismus oder der Polygamie machte Habermas die Rolle der Benin-Köpfe in ihrer sozialen Funktion für Formen der politisch-epistemischen Verräumlichung und sozialen Abgrenzung deutlich. Dabei zeigte sie, wie die unterschiedlichen Interpretationen der ethnologischen Objekte nicht nur in zeitlicher und kultureller Hinsicht zwischen Europa und Afrika bzw. zwischen dem imperialistischen Großbritannien und dem heutigen England changierten, sondern zugleich auch die epistemischen Räume von Ethnologie und Kunstgeschichte konfigurierten. Mit der Frage nach der materiell-diskursiven Verfasstheit verräumlichter Objekte sei nicht nur eine Perspektive zur Identifizierung und Analyse der hiermit einhergehenden Bedeutungszuschreibungen gefordert. Vielmehr wies Habermas auf die Objekthaftigkeit der Moderne als einen bis heute kaum reflektierten Bereich der Wissensgeschichte hin, der eine globale Perspektive fehle.

Die Sektion ’Raum-Identitäten‘ beschäftigte sich anhand von konkreten Fallanalysen mit der Rolle des Raums für Prozesse der Identitätsbildung aus einer überindividuellen Makro-Perspektive. JANA TARJA GOLOMBEK (Bochum) zeigte im Vergleich zweier von der Deindustrialisierung gezeichneter Großräume – Pittsburgh und das Ruhrgebiet – unterschiedliche Wege der Entstehung von raumbezogenen Kollektividentitäten auf. Im Ruhrgebiet sei im Zuge des postindustriellen Strukturwandels ’von oben‘, durch konservatorische und museale Projekte unterstützt, ein neues, identitätsstiftendes Narrativ geprägt worden. In Pittsburgh, wo es keine derartigen Bestrebungen gibt, habe sich von Seiten der Bevölkerung der „Rust Belt Chic“ als positiver Gegenentwurf zur verbreiteten einseitigen Deutung des Wandels als Niedergang ausgebildet. Die aktive, obrigkeitliche Schaffung einer Identität stelle hierbei keineswegs den Königsweg dar. Die Aneignung und Umformung des Lebensraumes ’von unten‘ stand ebenfalls im Zentrum bei STEFANIE MÄRKSCH (Heidelberg). In ihrem Beitrag beschäftigte sich Märksch mit der staatlichen Siedlungsplanung der israelischen Regierung in den 1970er-Jahren. Dabei stellte sie die unterschiedlichen Interessen und zahlreichen Spannungen zwischen der Baupolitik und den Bedürfnissen der diese Siedlungen bewohnenden Gruppen heraus, die als besondere Formen verräumlichter Identitätsbildung diskutiert wurden. Am Beispiel zweier Bauprojekte der israelischen Regierung, Ramot Polin und Beit Shemesh, zeigte Märksch, wie diese beiden Siedlungen entgegen der ursprünglichen Planung zunehmend von ultraorthodoxen Gruppen bewohnt wurden. Märksch legte eindrücklich die Relevanz von Deutungshoheiten über den Raum für ein friedliches Zusammenleben und letztendlich für die Entwicklung der Siedlung als Ganzes dar. DIRK THOMASCHKE (Oldenburg) widmete sich in seinem Beitrag „Der Raum der Dorfgemeinschaft“ der spatialen und historischen Selbstverortung deutscher Kleinstädte und Gemeinden. Anhand von Ortschroniken arbeitete Thomaschke die hier vorherrschenden Narrative als eine Trennung von lokaler und allgemeiner Geschichte heraus. Als spezifische Formen der Darstellung und Aneignung von Geschichte wurde hierbei die Peripherie von einer räumlichen zu einer politischen Kategorie: Geographische Abgeschiedenheit sei in den Ortschroniken mit historisch-politischer Abgeschiedenheit gleichgesetzt worden. Angesichts der vielfachen Verbreitung solcher Texte, die bislang von der Forschung zur populären Geschichtskultur kaum Beachtung fanden, sei das „Herausschreiben aus der Geschichte“ keineswegs ein historiographischer Einzelfall, sondern müsse als ein massenkulturelles Phänomen bewertet werden. Zugleich verdeutlichte Thomaschke aber auch, dass die Rolle und Bedeutung von Periphere als politisch hochbrisante Kategorie Fragen aufwirft, die mit der herkömmlichen Feldforschung nicht in den Blick genommen werden können und daher eine dezidiert raumtheoretische Perspektive erfordern.

Die dritte Sektion ’Begegnungsräume‘ wandte sich dem Raum auf Akteurs-Ebene zu. CHRISTOPH PARET (Konstanz) zeigte am Beispiel von Mikropraktiken des sozialen Miteinanders, wie etwa dem Aneinandervorbeigehen, die Bedeutung von Räumlichkeit auf der Ebene des unmittelbaren Kontakts, der Gesten und Körperhaltungen zwischen Individuen auf. Kategorien wie Ehre und Würde, respektvolle Distanz aber auch hierarchische Unterschiede und sozialer Status spielten hierbei von jeher eine zentrale Rolle, doch sie ließen sich anderes beschreiben und klarer fassen, wenn sie neben ihrer ethischen Konnotation auch als Formen immer schon verräumlichter Identität verstanden würden. Paret zeigte, wie auch auf diesem Feld des sozialen Miteinanders eine spatiale Herangehensweise als Analyseinstrument dienen kann, um neue Sichtweisen zu eröffnen. DAGMAR BRUSS (Hamburg) knüpfte in ihrem Beitrag an diese Frage an und nahm Formen des kommunikativen Austauschs in mehrerlei Hinsicht als Gesprächsraum in den Blick. So würden unterschiedliche räumliche Konfigurationen wie die französische Salonkultur als Ort bürgerlicher Geselligkeit und Bildung eigene Formen der Kommunikation hervorbringen, was sich wiederum auf Prozesse der Identitätsbildung als spezifische Form der Entäußerung auswirke.

In der vierten Sektion ’Kulturräume – Raumkultur‘ behandelte JÖRG WIDMAIER (Tübingen) die räumliche Dimension von Rang und Status am Beispiel gotländischer Sakralbauten aus der Wikingerzeit und dem Hochmittelalter. In der Kirchenarchitektur, so zeigte Widmaier, würde eine Hierarchisierung der Gemeinde deutlich, etwa durch die Gestaltung von Eingängen, Namensinschriften an prominenten Stellen in der Kirche oder anhand von Logenplätzen im Chorraum. Der vermeintlich egalitäre Kirchenraum werde so zum Produkt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und der Festschreibung sozialer Hierarchien mittels sakraler (Innen-) Architektur.

Die letzte Sektion ’Entäußerungen und Verinnerlichungen‘ widmete sich solchen Orten, die Foucault als Heterotopien bezeichnet. Gräber, Friedhöfe aber auch weltraummedizinische Versuchsanlagen wurden hier als Orte einer nur vermeintlich eindeutigen Funktion vorgestellt, die spezifische Formen und Praktiken der Identitätskonstruktion und Bedeutungszuschreibung mit sich bringen. So unterstrich THORSTEN BENKEL (Passau), dass Friedhöfe nicht (mehr) als Orte der „Rückvergemeinschaftung“ zu verstehen seien, die eine soziale Nivellierung im Tod mit sich bringen. Vielmehr zeichne sich in den letzten 20 Jahren eine Individualisierung der Bestattungsformen ab, die den Friedhof zu einer analysierbaren „Raumanordnung für das Selbst“ machen. Dieser sei – wie auch das individuelle Grab – zu einem weiteren Ort der Identitätskonstruktion und -manifestation geworden. Anhand von Kriegsfriedhöfen, die von der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs angelegt wurden, zeigte NINA JANZ (Hamburg), wie die nationalsozialistische Obrigkeit bestrebt war, Soldatengräber zu Orten der Heldenverehrung im Sinne der eigenen Ideologie zu machen. In den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, sei ihnen zudem – unterstützt durch eine entsprechende Ausgestaltung gemäß einer „Heldentopographie“ – die Funktion zugekommen, das Land symbolisch dauerhaft in Besitz zu nehmen. Ausgehend von Experimenten der frühen Weltraumforschung in den 1950er- und 60er-Jahren erschloss PATRICK KILIAN (Zürich) einen ganzen Komplex der Verräumlichung anhand historisch-spezifischer Praktiken und Technologien. Eingebettet in Fragen nach den Grenzen der Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers an die extremen Bedingungen des Weltalls sei die Weltraummedizin stets von militärischen Logiken des Kalten Krieges getrieben gewesen. Kilian schlug für die Analyse dieses Themenkomplexes einen dezidiert körperzentrierten Fokus vor und plädierte für ein Verständnis des Körpers, der ohne die ihn hervorbringenden Techniken, Diskurse, aber auch experimentellen Anordnungen nicht zu denken sei. In diesem Sinne sei das Labor als Form der experimentellen Körperanordnungen zu untersuchen. Anhand von spezifischen Verfahren, wie der Simulation von Schwerelosigkeit im Wassertank, zeigte Kilian, wie die hier unternommenen Beobachtungen als Formen der Veräußerung und Verinnerlichung gefasst werden können, deren Beobachtungsinstrumentarium jedoch nicht in das vorherrschende behavioristische Modell des menschlichen Bewusstseins einzuordnen war. Anhand dieser Experimente der frühen Weltraumforschung sei hier eine zentrale Denkfigur instituiert worden, die nicht nur die Laborforschung und Weltraummedizin anleitete, sondern zugleich auch ihren Niederschlag in der Psychologie, der Subkultur und Esoterik der 1970er-Jahre fand.

Wie die anregenden Diskussionen und Beiträge der Tagung verdeutlichten, ist die Frage nach dem konstitutiven Wechselverhältnis von Raum und Identität auf besondere Weise geeignet, einen Rahmen für theoretische Reflexionen aber auch ein Analyseinstrument für die Beschreibung von kulturellen Praktiken zu liefern. Das Konzept des verräumlichten Selbst erlaubte es, auf vielfältige Weise einen Komplex von Themen aus einem breiten Fächerspektrum zu erschließen und dabei neue Sichtweisen auf konkrete Praktiken auszuloten. So ermöglichte der gemeinsame kulturwissenschaftlich inspirierte Ansatz nicht nur einen produktiven Austausch zwischen disziplinorientierten Zugängen, sondern verdeutliche auch das Potential einer thematischen und reflexiven Verknüpfung von Raum und Identität, das nicht nur eine Vielzahl neuer Fragestellungen aufwirft, sondern neue Perspektiven auf bisher nicht in Verbindung gebrachte Zusammenhänge liefern kann.

Konferenzübersicht:

Michael Schütte (Universität Göttingen, ZKFL): Günther Tessmann und das Geschlechtsleben der „Naturvölker“. Ethnographisches Wissen und wandelnde Geschlechterordnung am Beginn des 20. Jahrhunderts

Tamara Frey (Universität Göttingen): „Strengste Verschwiegenheit auf Manneswort“ - eine Analyse von Heiratsannoncen im deutschen Kaiserreich

Rebekka Habermas (Universität Göttingen): Topographien des Globalen. Räume um 1900

Jana Tarja Golombek (Ruhr-Universität-Bochum): Industriekultur und Rust Belt chic – Divergierende Aneignungskonzepte deindustrialisierter Räume

Stefanie Märksch (Universität Heidelberg): Jüdische Topographie – Religiöse Identität im Spannungsfeld staatlicher Siedlungspolitik in Israel am Beispiel von Beit Shemesh und Ramot Polin

Dirk Thomaschke (Universität Oldenburg): Der Raum der Dorfgemeinschaft. Die Dorf-Umwelt-Differenz in deutschen Ortschroniken und Heimatbüchern

Christoph Paret (Universität Konstanz): (Mit)Einander Umgehen. Architektonische Subjektivierungsweisen des „Bürgers“ in der schwierigen Balance zwischen Gemeinschaftlichkeit und Abkapselung

Dagmar Bruss (Universität Hamburg): Gesprächsräume. Wege zwischen Selbst und Anderem/n

Jörg Widmaier (Universität Tübingen): Zu Prozessen individueller Aneignung von Räumen gotländischer Steinbauten in der Vormoderne

Thorsten Benkel (Universität Passau): Vom sepulkralen Selbst. Identitätskonstruktion und Heterotopie am Beispiel des Friedhofs

Nina Janz (Universität Hamburg): Ehrenhaine und Heldengräber. Friedhöfe und Kriegsgräber des Zweiten Weltkrieges als raumgebundene Topographien deutschen Heldentums 1939-1945

Patrick Kilian (Universität Zürich): Verinnerlichungen des Raumes. Astronautische Körper und die abgeschlossenen Welten des Kalten Krieges


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