Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter

Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter

Organisatoren
DFG-Projekt „Heilige Heroen – Heroische Heilige. Interdependenzen, Verflechtungen und Transformationen von Leitbilddiskursen im skandinavischen Früh- und Hochmittelalter“, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2016 - 29.10.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Stephan Bruhn / Rike Szill, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Vom 27. bis 29. Oktober fand in Kiel eine internationale Fachtagung zu Heiligkeitskonzepten im vornehmlich nordwesteuropäischen Raum statt, die aus dem ortsansässigen DFG-Projekt „Heilige Heroen – Heroische Heilige. Interdependenzen, Verflechtungen und Transformationen von Leitbilddiskursen im skandinavischen Früh- und Hochmittelalter“ erwachsen ist.

In ihrer Einleitung stellten ANDREAS BIHRER und FIONA FRITZ (beide Kiel) einerseits die zentralen Ansätze und Fragestellungen der langen Forschungstradition zu Hagiographie und Heiligenverehrung konzis heraus, leiteten aus diesem Überblick andererseits aber auch die konkreten Erkenntnisinteressen der Tagung ab, die die kommenden Vorträge in einen übergeordneten Bezugsrahmen stellten. Als zentrale Leitlinien unterstrichen die Organisatoren sowohl die diachrone wie synchrone Pluralität von Heiligkeitsentwürfen und deren Nutzungen als auch die analytische Zusammenführung der Ebenen „Konstruktionen“, „Funktionen“ und „Transfer“, die bisher hauptsächlich unabhängig voneinander betrachtet worden seien.

Die erste Tagungssektion zu „Konstruktionen“ eröffnete PAUL GAZZOLI (Cambridge) mit einem Vortrag zu Rimberts Vita Anskarii. In einem überlieferungsgeschichtlichen Zugriff beleuchtete Gazzoli dabei die Tradierung, Akzentuierung, aber auch Verwerfung unterschiedlicher Aspekte von Ansgars Heiligkeit in den Handschriften der Vita, die er als „re-constructions“ des Heiligen deutete. Während die früheste Version des Textes vor allem die monastische Frömmigkeit Ansgars herausstellte, fokussierte die zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstandene B-Version dessen Rolle als Missionsbischof, um den Bedeutungsverlust Hamburg-Bremens durch die Gründung des Erzbistums Lund zu kompensieren. Im spätmittelalterlichen Kontext der Devotio moderna würde hingegen die prophetische Gabe und Askese Ansgars akzentuiert, im postreformatorischen Dänemark verlagerte sich der Fokus erneut auf dessen episkopale und missionarische Funktionen. Damit verdeutlichte Gazzoli, wie ertragreich eine kontextualisierende Neuevalutation der Handschriften einer einzelnen Vita hinsichtlich der Adaption und Distribution von Heiligkeitsmodellen sein kann.

Den transformativen Charakter von Texten betonte auch SARA ELLIS NILSSON (Göteborg) in ihrem Beitrag zu den vier skandinavischen Heiligen Sunniva von Selje, Elin von Skövde, Magnhild von Fulltofta und Margareta von Roskilde im Spiegel liturgischer Schriften des Hochmittelalters. Dadurch erweiterte sie die Perspektive der Tagung nicht nur um das bisher weniger erforschte Feld weiblicher Heiligkeit in Skandinavien, sondern exemplifizierte daran auch die Genese einer neuen christlichen Gesellschaft durch die Konstruktion lokaler Leitbilder. Die Wandlungs- und Vernetzungsfähigkeit dieser Texte interpretierte sie dabei nicht nur als „mythopoetic moments“, sondern als „mythopoetic movements“ und verwies damit auf ein universales Phänomen, das sich nicht nur auf Skandinavien beschränkt, sondern einen Grundzug der Integration von lokalen Heiligkeiten in die Christianitas insgesamt gebildet habe.

In direkter Anknüpfung an die Ausführungen von Ellis Nilsson eröffnete CHRISTIAN OERTEL (Erfurt) die zweite Tagungssektion „Funktionen“ mit einem Vortrag zur Instrumentalisierung von hagiographischen Texten während des Konflikts um die schwedische Krone im 13. Jahrhundert: Anhand der Viten der Heiligen Erik und Henrik erläuterte er dabei einerseits deren politische Funktionalisierung im Rahmen zeitgenössischer Kreuzzugsmotivik. Andererseits wies er auch deren literarische Verarbeitung bei der genealogischen Etablierung von Dynastien zur Konstruktion eines heiligen Vorfahren nach. In diesem Sinne käme auch der Übertragung von Heiligkeitskonzepten im Austausch von Tradition und Wissen zwischen Zentrum und Peripherie eine zentrale Rolle zu.

JÉRÉMY WINANDY (Hamburg) beleuchtete in seinem Beitrag die hagiographische Produktion im Kloster Fleury zu Beginn des 11. Jahrhunderts. In einer detaillierten Untersuchung der Vita Abbonis des Aimon, der Vita Gauzlini des Andreas sowie der Epitoma vitae regis Rotberti pii des Helgaud von Fleury stellte Winandy die Multifunktionalität dieser Texte heraus, die ganz unterschiedliche Interessen der Klostergemeinschaft bedient hätten: Während der Kultetablierung nur eine untergeordnete Rolle zugekommen sei, hätten diese Werke durch Verweise auf die Beziehungen zum Königtum, die Unabhängigkeit vom lokalen Bischof sowie die Bedeutung des Klosters für die Reformidee vielmehr eine exzeptionelle Stellung Fleurys propagiert. Dabei betonte Winandy zugleich, dass diese Profilierung keineswegs nach außen, sondern vielmehr nach innen gerichtet gewesen sei, da sie der identitätsstiftenden und handlungsanleitenden Selbstvergewisserung der Gemeinschaft gedient habe.

Die Multifunktionalität hagiographischer Texte unterstrich auch KAROLIN KÜNZEL (Kiel) in ihrem Vortrag zur Aneignung eines angelsächsischen Heiligen, Ælfeah von Canterbury, durch die Normannen kurz nach der Eroberung 1066. Anhand des aus Vita und Translationsbericht bestehenden Dossiers stellte auch Künzel den Aspekt der Selbstvergewisserung innerhalb der Ælfeah verehrenden Gemeinschaften heraus, wies allerdings zudem auf die Propagierung des Primatsanspruches von Canterbury hin. Die Zugriffe auf den Heiligen zeichneten sich dabei durch eine gewisse Ambivalenz zwischen Instrumentalisierung und Funktionalisierung aus. Zugleich sprach sich die Referentin für eine Überwindung vermeintlich ethnischer Gegensätze in der Forschung aus, sei diese Dichotomie in den von ihr untersuchten Kontexten doch nicht greifbar. Ein „Norman scepticism“ gegenüber angelsächsischen Heiligen – mit welchem einige zeitgenössische Studien immer noch operieren – ließe sich im Falle Ælfeahs nicht nachweisen.

PHILIPP FREY und FIONA FRITZ (beide Kiel) stellten im Anschluss mit dem „Online Hagiography Sourcebook“ 1 ein vielversprechendes Hilfsmittel vor, welches im Rahmen des genannten DFG-Projektes erarbeitet wird. Das „Sourcebook“ zielt darauf ab, die im Internet zum Thema Hagiographieforschung verfügbaren Angebote zu erfassen, zu kommentieren und so eine digitale Orientierungshilfe für laufende wie zukünftige Projekte zu bilden, die auch der länderübergreifenden Vernetzung dienen soll. Die zusammengetragenen Angebote sind dabei sinnvoll nach Themenbereichen und Interessen gegliedert, wobei derzeit eine Bedienungsanleitung für die Website entworfen wird. Fritz und Frey betonten zudem, dass es sich bei diesem Projekt um „work in progress“ handele und es im Austausch mit den Nutzern weiterentwickelt werden solle, weshalb sie ausdrücklich zu Rückmeldungen aufforderten.

HAKI ANTONSSON (London) leitete mit seinem Vortrag die Sektion „Transfer“ ein, indem er die Verehrung und hagiographisch-literarische Konstruktion der Heiligen Jón Ögmundarson von Hólar und Thorlákr Thórhallson von Skálholt beleuchtete. Das Milieu, welches die Kulte der beiden isländischen Heiligen prägte, ließe sich nicht etwa auf ein Kloster reduzieren, sondern bildete vielmehr ein eng verzahntes Netzwerk aus Vertretern der laikalen wie auch der geistlichen Elite. Im Falle Jón Ögmundarsons führten die spärlichen Informationen zu seiner Person zudem zu einer innovativen hagiographischen Produktion, die auf ganz unterschiedliche narrative Strategien und Vorlagen zurückgegriffen habe, um den Heiligen zu konstruieren. Anhand seiner Beispiele veranschaulichte Antonsson somit, wie die Ausbreitung des Christentums und der mit ihm verbundenen Heiligenverehrung in die Peripherie Europas zur Entwicklung neuer Konzepte führte, welche bestehende Traditionen produktiv aufgriff und gemäß den Entstehungskontexten weiterentwickelte.

Eine produktive Aneignung von Heiligkeitsmodellen über normative Gattungskonstruktionen hinaus belegte JULIA WEITBRECHT (Kiel) in ihrem Vortrag zum Heiligen Oswald anhand der Legendenerzählung des Münchner Oswalds und der Vita Oswaldi des Reginald von Durham, wobei sie auch immer wieder auf die Ursprungserzählung in der Historia ecclesiastica Bedas rekurrierte. Vor allem anhand der Brautwerbung Oswalds zeigte Weitbrecht dabei, dass durch die Kombination verschiedener Optionen und narrativen Erzählstrategien zur Darstellung von Heiligkeit bei der volkssprachlichen Aktualisierung der Oswaldslegende ein spezifisches Modell von Herrscherheiligkeit entstanden sei, welches sich eindeutigen Klassifikationen entzöge. Insofern würden sich bei der produktiven Aneignung von Heiligenviten diskursive Flexibilität und narrative Variabilität gegenseitig bedingen und könnten sogar gemeinsam wirksam sein.

Eine neue Perspektive auf einen der wohl prominentesten Heiligen des Mittelalters entwarf UTA KLEINE (Hagen) in ihrem Vortrag zum Martyrium des Thomas Becket. In Anlehnung an die Definition von Peter Gemeinhardt verortete sie zunächst anhand der Vita des Johannes von Salisbury die zentralen Elemente seiner Heiligkeit im Spannungsdreieck von causa, certamen und cultus. Dieses exemplifizierte sie daraufhin nicht nur anhand der ikonographischen Rezeption der Vita Sancti Thomae, sondern belegte auch deren imitatio und transformatio beim Konstruktionsprozess der Vita Engelberts von Köln des Caesarius von Heisterbach. Als Essenz der Entwürfe stellte sie dabei das Blut als wichtigsten Indikator für das Vorliegen eines Martyriums heraus: So käme ihm nicht nur die Funktion als wichtigste Reliquie, sondern auch als zentrales Motiv in der literarischen Verarbeitung des Becket-Martyriums zu.

Mit dem Beitrag von KLAUS HERBERS (Erlangen) wurde der geographische Rahmen der Tagung um die Iberische Halbinsel als transreligiösem und transkulturellem Raum erweitert: Anhand von drei Translationsberichten aus ganz unterschiedlichen, nicht strictu sensu hagiographischen Texten – einem Brief des Eulogius von Córdoba, einer Passage aus der Historia Silensis und einem Ausschnitt aus der sich bisweilen selbst als Registrum titulierenden Historia Compostellana – belegte er dabei eine breite Varianz hagiographischen Erzählens. In perspektivischer Erweiterung der zuvor diskutierten Erzählstrategien und Heiligkeitskonzepte verwies Herbers so auf das Modell eines transregionalen hagiographischen Diskurses, der sich nicht nur in der Übertragung narrativer Erzählformate niedergeschlagen, sondern auch allmählich in den Transfer von Heiligkeitskonzepten Einzug gefunden habe.

FELICITAS SCHMIEDER (Hagen) leitete ihre Moderation der Abschlussdiskussion durch zwei pointierte Fragen an das Plenum ein, in denen sie einerseits auf den sektionsübergreifenden und interdisziplinären Charakter der Vorträge verwies, anderseits die besondere Bedeutung des Märtyrerkonzeptes in den vorgebrachten Beispielen akzentuierte: Sind die Ebenen „Konstruktionen“, „Funktionen“ und „Transfer“ in der Untersuchung von Heiligkeitskonzepten – wie die Tagungsbeiträge in Anlehnung an die Leitlinien der Einleitung herausgearbeitet haben – nicht allgemein aufeinander bezogen? Stellt der Märtyrer trotz aller nachweisbaren synchronen wie diachronen Pluralität von Modellen nicht eigentlich die Richtschnur des Diskurses dar, an der sich alle vorgebrachten Konzepte orientierten?

An diese perspektivische Zusammenfassung schloss sich eine lebhafte Diskussion an, in der vor allem die Flexibilität und Wandelbarkeit der Heiligkeitsentwürfe herausgestellt wurde, welcher die wissenschaftlichen Erklärungsmodelle vielfach nicht gerecht würden. Insbesondere seien essentialistische Definitionen von Heiligentypen und hagiographischen Gattungen zu hinterfragen und stattdessen die zeitlichen wie regionalen Spezifika, die kontinuierlichen Transformationen und deren konkrete Medialisierungen zu fokussieren. Eine Schärfung der Perspektive könnte dabei der Blick in die Peripherie des christlichen Europa bieten, der einer noch deutlicheren interdisziplinären wie internationalen Ausrichtung der Forschung bedürfe. Somit warf die Abschlussdiskussion eine Vielzahl weiterer Fragestellungen auf, denen es sich in der zukünftigen Heiligkeitenforschung zu widmen gilt.

Konferenzübersicht:

Einführung

Andreas Bihrer/Fiona Fritz (Kiel)

I. Konstruktionen

Paul Gazzoli (Cambridge): Monk, Bishop, Missionary, Martyr: Different Approaches to the Sanctity of St Ansgar

Sara Ellis Nilsson (Göteborg): Forming and Fashioning New Scandinavian Saints: Litury and its Context

II. Funktionen

Christian Oertel (Erfurt): Darstellung und Funktion von Heiligkeit im Schweden des 13. Jahrhunderts. Die Beispiele St. Elin, St. Erik und St. Henrik

Jérémy Winandy (Hamburg): Hagiographie in Fleury – Heiligkeit im Dienste der Gemeinschaft

Karolin Künzel (Kiel): St. Ælfheah. Ein angelsächsischer Heiliger im Kontext der normannischen Eroberung

Philipp Frey / Fiona Fritz (Kiel): Online Hagiography Sourcebook – Hagiographie und Digital Humanities

III. Transfer

Haki Antonsson (London): Texts, Images, and Transference: The Construction of St Jón Ögmundarson of Hólar and his Saga

Julia Weitbrecht (Kiel): Der Hl. Oswald: Märtyrer oder Asket? Zum Transfer von Heiligkeitsmodellen im Spannungsfeld von Latinität und Volkssprache

Uta Kleine (Hagen): Von Thomas Becket zu Engelbert von Köln: Die Erneuerung der Idee des blutigen Martyriums im Zeichen der „libertas ecclesiae“

Klaus Herbers (Erlangen): Übertragene Heiligkeit – Reliquientranslationen und die Folgen

Felicitas Schmieder (Hagen): Schlussdiskussion

Anmerkung:
1http://www.hagiographysourcebook.uni-kiel.de (09.01.17).


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