Bedrohte Landesgeschichte an der Schule? Stand und Perspektiven

Bedrohte Landesgeschichte an der Schule? Stand und Perspektiven

Organisatoren
Oliver Auge / Martin Göllnitz, Abteilung für Regionalgeschichte Schleswig-Holsteins, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2016 - 02.12.2016
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Von
Anna Brauer / Marvin Groth / Markus Wilke, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die Projektarbeit von Studierenden ermöglicht aus geschichtsdidaktischer Sicht im Rahmen der Organisation und Umsetzung einer Fachtagung den Erwerb praxisnaher und öffentlichkeitswirksamer Kompetenzen. Zugleich lässt sich beobachten, dass neue schulische Fachanforderungen, speziell in Schleswig-Holstein, für das Fach Geschichte grundsätzlich viele Spielräume eröffnen, um den Schulunterricht näher an die Landes- und Regionalgeschichte heranzuführen und mit derselben auch auszugestalten; zwei Aspekte, welche OLIVER AUGE und MARTIN GÖLLNITZ (beide Kiel) in der Eröffnung der Tagung „Bedrohte Landesgeschichte an der Schule?“ herausstellten. Beide organisierten unter Mithilfe der Studierenden Anna Brauer, Marvin Groth, Arne Leckband und Markus Wilke eine von PerLe (= Projekt erfolgreiches Lehren und Lernen) geförderte Fachwissenschaftliche Tagung, auf welcher Stand und Perspektiven der Landesgeschichte im Schulunterricht diskutiert wurden.

Neben den zwei eingangs zitierten Aspekten verwiesen Oliver Auge und Martin Göllnitz zugleich darauf, dass ein derart praxisnaher Schulunterricht bisher jedoch kaum stattfinde. Als Gründe hierfür vermuten die beiden Referenten den allgemeinen Zeitdruck im Unterricht einerseits – fehlendes Interesse und Hintergrundwissen der Lehrerinnen und Lehrer (bezogen auf diese Thematik) andererseits. Ebenso trage sehr wahrscheinlich ein Studium, welches die Landes- und Regionalgeschichte erfolgreich umgehe, zu der oben genannten Beobachtung bei. Auch das Fehlen von (vor/auf)bereiteten landes- und regionalgeschichtlichen Unterlagen und Basismaterialien für die Unterrichtsgestaltung stünde der Umsetzung von Potentialen in der Praxis entgegen. Ein persönlicher Zugang zur Vergangenheit in situ, welcher zur Etablierung eines wünschenswerten Geschichtsbewusstseins mit den damit verbundenen politisch-demokratischen Indikationen beitrage, werde den Lernenden hierdurch vorenthalten.

„Wo steht der Schüler?“ Unter dieser Fragestellung stellte CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg) anhand von Schülerbeispielen eindrucksvoll dar, wie unterschiedlich geschichtliche Ereignisse gedeutet werden können. So verwendete er mit den Schülerinnen und Schülern (fortan abgekürzt als Schüler/innen) bislang unbekannte landesgeschichtliche Quellen, die diese auswerten sollten. Indem er keine interpretatorische Lösung vorgab, vermittelte er den Lernenden durch Selbstreflexion die Erkenntnis, dass es nicht nur eine richtige Antwort auf eine historische Frage geben darf und geben kann. Kühberger vertrat in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass die im geschichtsdidaktischen Diskurs geforderte narratorische Kompetenz der Schüler/innen für die Landesgeschichte von Vorteil ist, da diese es ihnen unter anderem ermöglicht, sich in ihrem Lebensumfeld historisch zu orientieren. Nach einem Vergleich deutscher und italienischer Schulgeschichtsbücher gelangte er weiterhin zu dem Schluss, dass diese Darstellungen durch die Suggestion objektiver Distanz den Konstruktionscharakter von Geschichte nur unzureichend herausstellen.

Im zweiten Vortrag vertrat THOMAS HILL (Schleswig) die Auffassung, dass eine europäische Einigung nur gelingen werde, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger mit der Europäischen Union identifizieren. Vor allem die Vermittlung eines europäischen Geschichtsbildes im Schulunterricht könne zur Festigung einer europäischen Identität beitragen. Obwohl die europäische Einigungsbewegung nach 1945 in den deutschen Lehrplänen berücksichtigt wird, erschwert das Vorherrschen nationaler Geschichtsbilder in der Praxis die Herausbildung einer europäischen Identität. Abhilfe soll ein Vorschlag des Geschichtsdidaktikers Jörn Rüsen schaffen. Das Geschichtsbewusstsein eines jeden Europäers sollte demnach aus den Traditionen und Kulturen Europas erwachsen, wobei gemeinsame europäische Werte, wie zum Beispiel Bürger- und Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Gleichheit betont werden. Gerade am Beispiel regional- und landeshistorischer Themen lässt so sich etwa nach Meinung Hills im Schulunterricht anschaulich und lebensnah aufzeigen, wie die Umsetzung europaweiter Entwicklungen, etwa die Verwirklichung von Menschenrechten, vor Ort vollzogen wurde.

Vergleichend untersuchte dagegen STEPHAN LAUX (Trier) das Ausmaß an Präsenz und Relevanz der Landesgeschichte in den Lehrplänen der deutschen Bundesländer. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz werden landesgeschichtliche Themen beispielsweise nur in einem geringeren Umfang und außerdem nur in der Unter- sowie in Klassenstufe 11 behandelt. Insgesamt bestehen große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Eine wichtige Gemeinsamkeit stellt der Umstand dar, dass Landesgeschichte in allen Ländern vorwiegend als Mittel zum Zweck bzw. zur Kompetenzvermittlung angesehen wird. Die Geschichte des eigenen Bundeslandes wird kaum behandelt. Laux forderte daher eine verstärkte Reflexion der Lehrpläne in Hinblick auf ihren Umgang mit landesgeschichtlichen Inhalten, mehr fachdidaktische Lehrmaterialen und Formate, eine unterrichtsbezogene landesgeschichtliche Lehre sowie einen besseren Zugang der Lehrkräfte zu den Erstellern von Lehrplänen zwecks besserer Kommunikation.

Am Beispiel des Unternehmens Boehringer Ingelheim erläuterte MICHAEL KISSENER (Mainz) den Mehrwert regionaler wirtschaftshistorischer Forschung für den schulischen Geschichtsunterricht. Seinen Schwerpunkt legte er hierbei auf die Zeit des Nationalsozialismus. Da Boehringer Ingelheim als einer der größten Arbeitgeber der Region das Lebensumfeld vieler Schüler/innen direkt betreffe, eröffne ein solches Vorgehen Sichtweisen darauf, wie beispielsweise national-konservative Unternehmer und nationalsozialistische Funktionäre miteinander interagierten. Die in hoher Anzahl verfügbaren Quellen, welche einen anschaulichen und detaillierten Einblick in die damaligen Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse ermöglichen, fördern effektiv eine Sensibilisierung der Schüler/innen im Umgang mit historischen Interpretationen vor dem Hintergrund der Selbstreflexion, wie Kißener zeigte. Darüber hinaus lässt sich auf diese Weise die Fähigkeit vermitteln, historische Ereignisse kritisch zu hinterfragen.

Anhand der Düppeler Mühle, welche 1864 im Deutsch-Dänischen-Krieg zerstört wurde, zeigte KATJA GORBAHN (Aarhus) exemplarisch auf, wie historische Ereignisse funktionalisiert werden können. Obwohl das dänische Königreich den Krieg verlor, bilden die Düppeler Mühle und das Jahr 1864 auch heute noch nationale Symbole Dänemarks. Aus dem historischen Ereignis erwuchs ein Mythos, der das dänische Nationalbewusstsein förderte. Die dänische Rezeption der Niederlage lässt sich anhand heroischer Schlachtenbildnisse visualisieren, die ein national-patriotisches Narrativ vermitteln. Gerade mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in Dänemark gebe es noch großen Nachholbedarf hinsichtlich der Relativierung derartiger Narrative, wobei Gorbahn die Bedeutung einer intensiveren Berücksichtigung, Analyse und Interpretation regionaler Quellen für den dänischen Geschichtsunterricht unterstrich.

In einer Podiumsdiskussion am Abend des 1. Dezember diskutierten – moderiert von SEBASTIAN BARSCH – ROLF FISCHER (Kiel), GERHARD FOUQUET (Kiel), RAINER HERING (Schleswig), KARL HEINRICH POHL (Kiel) und SILKE URBANSKI (Hamburg) den Beitrag der Landes- und Regionalgeschichte zum Schulunterricht der Gegenwart und Zukunft. Es herrschte ein allgemeiner Konsens vor, welcher der oben genannten Disziplin das Potenzial zur Bereicherung des Unterrichtes zuerkannte. Unabhängig hiervon wurden jedoch auch die Herausforderungen betont, denen sich die Landes- und Regionalgeschichte im Unterrichtsalltag stellen müsse. So sei beispielsweise eine allgemeine Uneinigkeit über die anzuwendenden lokalen, beziehungsweise regionalen und historischen, Raumkonzepte und Fragestellungen zu beklagen. Diese begünstige eine bereits sehr ausgeprägte Uneinheitlichkeit in den Lehrplänen auf der Ebene der Bundesländer, die ihrerseits wiederum eine praktische Umsetzung im Unterricht häufig auf den Einsatz einiger engagierter Lehrkräfte begrenze. Insgesamt spiegelten die während der Podiumsdiskussion formulierten Standpunkte jene Schlussfolgerungen, die von den Referenten der Fachtagung gezogen wurden, wider. An die Befragung der Diskutanten schloss sich eine lebhaft geführte Debatte über die Zukunft der Landesgeschichte an der Schule an. Das Publikum brachte in diesem Zusammenhang konstruktive- wie auch kontroverse Ideen zur Sprache, die zu Verbesserungen des aktuellen, von Zeitdruck und diffizilen finanziellen Vorgaben geprägten Lehr- und Lernalltages führen sollten.

Wie ein attraktiver Unterricht auch ohne die Einbettung regionaler oder landeshistorischer Themen aussehen könnte, illustrierte KARSTEN DÖLGER (Plön) am Morgen des 2. Dezember anhand seiner eigenen Biographie als Lehrer. Anstatt einer zu starken Berücksichtigung der Landes- oder Regionalgeschichte forderte er eine stärkere Priorisierung der Lehramtsausbildung in Bezug auf didaktische und methodische Kompetenzen. Beispiele aus der Region sollten demgegenüber nur dann im Schulunterricht Verwendung finden, wenn sie einen anschaulichen und lebensnahen Eindruck vermitteln.

ROLF SCHULTE (Kiel) befasste sich im zweiten Vortrag des zweiten Tages mit didaktischen Prinzipien, die vornehmlich auf die Zielgruppe des Schulunterrichts, also die Schülerinnen und Schüler, ausgerichtet seien: die Subjekt- und die Kompetenzorientierung. Anhand von Umfragen verdeutlichte er daran anschließend, dass die Mehrheit der Schüler/innen sich kaum für landesgeschichtliche Themenfelder interessiere und dementsprechend wenig fundiertes Wissen mitbringe. Ihr geschichtliches Selbstverständnis liege deutlich häufiger in einer regionalen Ausprägung vor. Durch empirische Untersuchungen versuchte Schulte somit jene Herausforderungen aufzudecken, die sich den Lehrkräften infolge eines mangelnden lokalen Geschichtsinteresses der Schüler/innen darbieten.

Im Zentrum des Vortrages von DETLEV KRAACK (Plön) stand der persönliche Bezug der schulpflichtigen Jugendlichen zur Lokal-, Regional- und Landesgeschichte. Kraack zeigte anhand von Beispielen aus dem Geschichtsunterricht auf, wie über einen persönlichen Zugang, historisches Hintergrundwissen und Zusammenhänge vermittelt werden können. Der Zugang, „das vermeintlich Große aus dem Kleinen heraus zu erklären und umgekehrt“, lässt sich dem Referenten zufolge dafür nutzen, durch persönliche Bezüge die Schüler/innen näher an die Regional- und Landesgeschichte heran zu bringen. Sofern es möglich ist, sollte der Unterricht direkt an historischen Orten in der Region stattfinden, da dies die Aufmerksamkeit und das Interesse der Schüler/innen meist zusätzlich schärft. Die Lösung von starren Lehrplänen sowie die Arbeit an Projekten und einzelnen Themen sind für Kraack in dieser Hinsicht von zentraler Bedeutung.

Den Abschluss der Tagung markierte eine Livepräsentation der Online-Plattform „Hamburger Geschichtsbuch“ durch die verantwortliche Mitarbeiterin SILKE URBANSKI (Hamburg). Anhand einer Vielzahl von Texten, Bildern und interaktiven Features können die Besucher der Website die Geschichte Hamburgs erkunden und bei Bedarf Quellen- und Unterrichtsmaterial für den Geschichtsunterricht downloaden. Vor allem die Unterstützung von Geschichtslehrer/innen hat sich das Portal zur Aufgabe gemacht, denen zahlreiche Angebote in Form von Arbeitsblättern und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt werden. Diese sollen für die Lehrkräfte eine ideale Handreichung darstellen, um künftig im Unterricht überregionale geschichtliche Zusammenhänge durch regionale Themen zu erarbeiten.

Durch die vielfältige Beschäftigung mit der Regional- und Landesgeschichte in Bezug auf den Schulunterricht und den dabei auftretenden Schwierigkeiten wurde eine anregende Tagung realisiert. Die internationale Präsentation aktueller Forschungsarbeiten gab zudem Anlass zu spannenden Dialogen. Es wurde deutlich, dass die auf der Tagung aufgeworfenen Fragen nach dem Stand und den Perspektiven von Regional- und Landesgeschichte im Schulunterricht hilfreich sein können, wenn man sich überhaupt mit dem Geschichtsunterricht und den historischen Kenntnissen von Schülerinnen und Schülern tiefer beschäftigen möchte.

Konferenzübersicht:

Oliver Auge / Martin Göllnitz (beide Kiel): Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema

Christoph Kühberger (Salzburg): Historische Narrationen wagen – Mit Schüler/innen Vergangenheit re-konstruieren

Thomas Hill (Schleswig): Förderung eines europäischen Geschichtsbewusstseins – eine Perspektive für die Landes- bzw. Regionalgeschichte in der Schule?

Stephan Laux (Trier): Clio und Curriculum. Lehrpläne in den Sekundarstufen I und II im Vergleich und Perspektiven der Landesgeschichte

Michael Kißener (Mainz): Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Vom Nutzen regionaler wirtschaftshistorischer Forschung für den schulischen Geschichtsunterricht

Katja Gorbahn (Aarhus): Zwischen Region, Nation und Europa: Zur Darstellung des Krieges von 1864 in dänischen Bildungsmedien

Sebastian Barsch (Kiel), Rolf Fischer (Kiel), Gerhard Fouquet (Kiel), Rainer Hering (Schleswig), Karl Heinrich Pohl (Kiel) und Silke Urbanski (Hamburg): Podiumsdiskussion zur Landesgeschichte an der Schule

Karsten Dölger (Plön): Landesgeschichte im Unterricht – Ein Rückblick auf 36 Jahre Praxis

Rolf Schulte (Kiel): Landes- oder Regionalgeschichte in der Schule?

Detlev Kraack (Plön): Landes-, Regional-, und Lokalgeschichte – bislang weitgehend ungenutzte Potenziale für die schulische Vermittlung von Geschichte

Silke Urbanski (Hamburg): Das Hamburg-Geschichtsbuch. Ein im Aufbau befindliches digitales Angebot zur Vermittlung der Regionalgeschichte


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